Archiv

Debatte über Fake und Fiktion
„Robert Menasse hat einen Vertrauenspakt gebrochen“

Wo verläuft die Grenze zwischen Fiktion und Fake? Die Fälle Robert Menasse, Takis Würger und Claas Relotius haben eine Debatte darüber ausgelöst. Die Unterscheidung zwischen einem fiktionalen und einem faktionalen Text sei gar nicht so einfach, sagt der Literaturwissenschaftler Thomas Strässle im Dlf.

Thomas Strässle im Gespräch mit Karin Fischer |
    Robert Menasse, Claas Relotius und Takis Würger sind drei Namen, die in den vergangenen Wochen die Feuilleton-Debatten bestimmt haben. Zwei von ihnen haben Romane verfasst, einer preisgekrönte Reportagen, die vor allem im "Spiegel" erschienen sind. Die drei Fälle sind sehr verschieden, dennoch gibt es eine Gemeinsamkeit: Die Autoren haben die Grenze vom Wahren zum Erfundenen überschritten. Doch es ist gar nicht einfach zu definieren, wo diese Grenze liegt, sagt der Literaturwissenschaftler und Autor Thomas Strässle im Dlf.
    "Wahr und falsch sind eigentlich Begriffe, die es nur gibt, wenn es sich um logische Aussagen oder mathematische Sätze handelt. Sobald es um Fakes geht oder um eine Täuschungsabsicht, kommen wir eigentlich auf das Gebiet der Plausibilität. Das berechnet sich nicht auf einer Skala von plus und minus, sondern auf einer Skala von mehr oder weniger", so Strässle.
    Die Textgattung ist entscheidend
    In seinem Roman "Die Hauptstadt" dichtet Robert Menasse dem ersten Präsidenten der Europäischen Kommission Walter Hallstein eine Rede an, die er 1958 auf dem Gelände des Vernichtungslagers Auschwitz gehalten haben soll. Thomas Strässle bezeichnet diesen Fall als unproblematisch, da es sich um einen einzelnen Satz in einer Figurenrede des Romans handelt. Menasse habe solche Zitate aber auch schon in Manifesten, Reden oder Essays gebraucht. In diesen Fällen habe er die dichterische Freiheit sehr weit gefasst:
    "Er hat damit einen Vertrauenspakt gebrochen, der zwischen dem Autor und der Leserschaft besteht. Dieser Vertrauenspakt besagt: Wenn auf einem Buch Roman, Erzählung oder Novelle steht, besteht eine gewisse dichterische Freiheit. Wenn aber auf einem Text Essay, Rede oder Manifest steht, dann besteht diese Freiheit nicht."
    Fake als Ausprägung von Fiktion
    Thomas Strässle beschäftigt sich mit dem Phänomen des Fake als spezifische Ausprägung der Fiktion. Er ist der Meinung, dass es neben den Kategorien des "fiktionalen" und "faktionalen" Erzählens eine dritte Kategorie geben müsse, die des "faketionalen" Erzählens. Damit könnten Texte bezeichnet werden, die unter einem Täuschungsvorsatz verfasst wurden, jedoch so plausibel erzählt sind, dass die Leser nicht an der Geschichte zweifeln. In jedem Fall sei es wichtig, über die Intention des Autors nachzudenken, so Strässle:
    "Wir müssen darüber sprechen, was jemand mit einem Fake bezweckt. Ein Versehen kann mir unterlaufen, ein Fake kann mir nicht unterlaufen. Ein Fake setzt eine Absicht voraus oder zumindest eine Stoßrichtung. Das unterscheidet ihn von anderen Fällen."
    Der Literaturwissenschaftler Strässle untersucht auch die aktuellen Fälle Relotius, Menasse und Würger in Hinblick auf Plausibilität und Intention. Seiner Meinung nach liegt bei Claas Relotius eine klare Täuschungsabsicht vor. Im Fall Robert Menasse sei die Lage unklar und diskussionswürdig. Die Diskussion um Takis Würger bezeichnet er als ästhetische Debatte, die im Grunde nichts mit Fakes zu tun habe.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.