Salam Al Janabi von Unicef schlägt Alarm: "Das Lager Al-Hol ist kein Platz für Kinder. Und diese Kinder sind nicht schuld an ihrer Situation. Wir appellieren an die Staaten, das Richtige zu tun und diesen Kindern ein Leben und eine Zukunft zu geben, die sie verdienen." Es geht um 22.000 Kinder ehemaliger IS-Kämpfer aus 60 Ländern in Lagern und Gefängnissen im von den Kurden kontrollierten Norden Syriens. Unter ihnen, so eine Studie des Egmont Institutes in Brüssel, bis zu 680 Kinder europäischer Nationalitäten.
Die Lage wird immer dramatischer. Letzte Woche starben drei Kinder in Al-Hol bei einem Feuer, fünfzehn weitere wurden verletzt. "Die Kinder gehen nicht zur Schule, haben keine Zukunft, wenn sie in den Lagern bleiben, sie sind traumatisiert durch das, was sie erlebt haben", so Salam Al Janabi, der Vertreter des UN-Kinderhilfswerks Unicef in Syrien. Die Hygiene in den Lagern lässt zu wünschen übrig, die klimatischen Bedingungen sind extrem, es gibt Versorgungsengpässe.
Das Verhalten der europäischen Regierungen
Und dennoch scheint auch den meisten europäischen Regierungen das Schicksal dieser Kinder und ihrer zum Dschihad ausgereisten Eltern gleichgültig. Unter den Gefangenen und Lagerinsassen in Nordsyrien sind Schätzungen des Egmont Institutes zufolge zwischen 385 und 460 Europäer und Europäerinnen, die eigentlich ein Recht auf Rückkehr in ihre Heimatländer haben. "Alle europäischen Staaten haben bislang die Appelle ignoriert, ihre Bürger zurückzuholen, vor allem die Männer, aber auch die Frauen", sagt Thomas Renard vom Egmont Institute.
Für die Rückholung der Kinder ist man zwar offener, aber die Kurden wollen die Kinder nicht von ihren Eltern trennen. Hinzu kommen logistische, diplomatische und administrative Probleme für die Rückholung dieser Menschen hinzu. Das hat dazu geführt, dass in den letzten beiden Jahren nur eine ganz geringe Zahl Frauen und Kinder in ihre Heimatländer zurückgeholt wurden.
Einige Staaten wie Frankreich, mit Abstrichen aber auch Deutschland haben bisher in erster Linie Waisenkinder oder die Kinder ohne ihre Mütter zurückgeholt. Viele Regierungen betrachten die Ex-IS-Kämpfer als Sicherheitsrisiko, schieben vor, sie hätten keine diplomatischen Beziehungen zur kurdischen Selbstverwaltung im Norden Syriens, die die Lager kontrolliert.
Corona als Vorwand
Zuletzt kam die Pandemie als Argument hinzu. Anthony Dworking vom European Council on Foreign Relations: "Die Pandemie war den europäischen Staaten eine willkommene Entschuldigung, um das Problem auf die lange Bank zu schieben. Man sollte die Verzögerungen bei der Rückführung jedoch nicht in erster Linie der Pandemie zuschreiben, denn diese Politik existierte schon vor dem Coronavirus."
Das Verhaltensmuster war klar: Den Europäern widerstrebte es, diese Menschen zurückzuholen. Zwischen 5.000 und knapp 6.000 Europäer sind – je nach Schätzung - im Laufe der Jahre nach Syrien in den Kampf für den Islamischen Staat gezogen. Aus Frankreich kamen allein 2.000, doppelt so viele wie aus Deutschland. Auch aus Großbritannien stammten rund 850, aus Belgien etwa 500. 300 weitere aus Schweden.
Debatte über Gefahr durch Rückkehrer
Ein Drittel von ihnen ist vermutlich im Kampf gefallen, ein weiteres Drittel ist im Laufe der Jahre zurückgekehrt, der Rest auf der Flucht oder in Lagern und Gefängnissen in Nordsyrien und im Irak. Einer von diesen Kämpfern war der Sohn von Marc Lopez. In einem fünfzehnminütigen Eilverfahren wurde er vor zwei Jahren im Irak zum Tode verurteilt und hingerichtet. Seine Ehefrau und vier Kinder sitzen in einem Lager in Nordsyrien.
Jetzt kämpft Marc Lopez im "Collectif des Familles Unies" mit rund 130 Familien in Frankreich dafür, dass die französische Regierung ihre Staatsbürger zurückholt, aus humanitären Gründen, aber auch um ihnen einen fairen, einen rechtsstaatlichen Prozess zu garantieren. "Wir glauben, dass Gefangene unabhängig ihrer Vergehen Anspruch auf einen fairen Prozess, eine Verteidigung haben. In Deutschland sind unlängst Syrer für Verbrechen in Syrien verurteilt worden. Wir verlangen nicht mehr und nicht weniger als dieses Prinzip auch auf die europäischen Bürger anzuwenden."
Denn oft war und ist als Argument – auch von offizieller Seite zu hören – die Verbrechen sollten dort geahndet werden, wo sie begangen wurden, vor allem da die Beweisführung fernab vom Ort des Geschehens schwierig würde. Folter und Todesstrafe sind freilich weder im Irak noch in Syrien auszuschließen. Die Idee ein Kriegsverbrechertribunal im Irak zu finanzieren scheint trotz vermeintlicher Garantien deshalb im Sande verlaufen.
Strafverfolgung unterschiedlich strikt
Grundsätzlich verfolgen die europäischen Staaten sehr unterschiedliche Ansätze. Viele Länder erkennen Ex-IS-Kämpfern die Staatsbürgerschaft ab, was - wenn überhaupt - eigentlich nur bei Doppelstaatlern geht. Nicht alle Länder sind gleich strikt bei der Strafverfolgung.
Thomas Renard vom Egmont Institute: "Länder wie Frankreich, Belgien und die Niederlande verfolgen sämtliche Rückkehrer aus Syrien und dem Irak strafrechtlich. Andere wie Großbritannien und Schweden machen das nur bei einem kleinen Personenkreis. Sie setzen eher auf administrative Maßnahmen, beziehungsweise auf eine psychologisch- soziale Betreuung, eine Art Mentoring für die Rückkehrer."
Fruchtet diese Strategie? Nachweislich hatten die Attentate von Paris 2015 eine Syrienverbindung, wurden von Syrienrückkehrern initiiert. Das waren jedoch die großen Ausnahmen. Die aktuelle Gefahr, dass zurückgekehrte ehemalige Terroristen zu Wiederholungstätern würden, schätzen Experten wie Thomas Renard eher gering:
"Man schätzt, dass nur eine geringe Zahl von Rückkehrern eine Bedrohung darstellt und Attentate verüben könnte. Das zeigen Studien an Rückkehrern aus den vergangenen Jahren, die die Rückfälligkeit untersucht haben. Obwohl nur etwa fünf Prozent Tendenz habe, rückfällig zu werden, stellt das natürlich für unsere Sicherheitskräfte, Polizei und Geheimdienste und für die Strafgefängnisse eine Herausforderung dar."
Die Menschen, vor allem die Kinder in den Lagern zu lassen, könnte langfristig das weitaus größere Risiko werden, meint indes Marc Lopez vom "Collectif des Familles Unies": "Kinder in solchen menschenunwürdigen Bedingungen zu lassen ist ein humanitäres Problem. Das ist eine Schande für unsere Demokratie, aber das Ganze ist auch ein Sicherheitsproblem. Denn die Kinder dort zu lassen bedeutet künftigen Extremisten Rekruten zu liefern."