Mario Dobovisek: Sie ist ein Eingriff in die Freiheit von Eltern und deren Kindern: die Impfung; jedenfalls wenn sie gegen ihren Willen verabreicht wird. So sehen es die Impfkritiker, die Impfgegner, auch mit Blick auf die Spritze ohne akute Erkrankung ihres Kindes, das danach dann oft Nebenwirkungen verspürt. Doch Impfen rettet Leben. Davon ist Bundesgesundheitsminister Jens Spahn überzeugt und stößt eine Debatte an über die Impfpflicht.
Wir haben es gehört: Auch in Nordrhein-Westfalen wollen Bildungs- und Gesundheitsministerium eine Impfpflicht prüfen. Den Gesundheitsminister begrüße ich jetzt am Telefon, Karl-Josef Laumann von der CDU. Guten Morgen, Herr Laumann!
Karl-Josef Laumann: Schönen guten Morgen!
Dobovisek: Nordrhein-Westfalen ist das Bundesland mit den am Abstand meisten Masern-Fällen in Deutschland. Bis Mitte März zählten Ärzte hier über 90 Erkrankte. Zum Vergleich: Bundesweit gab es im vergangenen Jahr insgesamt 500 Fälle. Warum ist Nordrhein-Westfalen wieder so stark betroffen, Herr Laumann?
Laumann: Ich glaube nicht, dass Nordrhein-Westfalen stärker betroffen ist wie andere. Denn Sie müssen immer sehen: Nordrhein-Westfalen ist auch ein Viertel der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland. Aber was mich einfach zu dieser Überzeugung bringt, dass wir an einer Impfpflicht nicht vorbei kommen, ist, dass wir seit Jahren, was die Durchimpfungsquoten angeht, auf der Stelle herumtreten.
Bei der ersten Durchimpfung bei Masern bei den Kleinkindern kommen wir fast auf 97 Prozent. Nach 24 Monaten muss ja die zweite Impfung erfolgen. Da sind wir bei 79 Prozent. Wenn die Kinder eingeschult werden, dann sind wir wieder bei 94 Prozent. Das Problem ist, dass weit über 90 Prozent der Leute ihre Kinder impfen lassen, aber dass wir die Masern nicht ausgerottet bekommen, weil es am Ende des Tages immer fünf, sechs Prozent Kinder gibt, die nicht geimpft werden.
"Es wird diskutiert und diskutiert, aber wir kommen nicht weiter"
Dobovisek: Aber wenn es, Herr Laumann, so wie Sie sagen, immer eine hohe Quote bei der Erstimpfung gibt, aber nicht bei der zweiten Impfung – Auffrischung ist es ja nicht, sondern die Verstärkung der Impfung -, dann bedeutet das doch am Ende, dass es weniger Impfverweigerer sind als einfach nachlässige Eltern. Wie wollen Sie da herangehen?
Laumann: Das ist eine ganz einfache Sache. Ich war ja schon mal zwischen 2005 und 2010 in NRW Minister. Da waren die Zahlen genauso wie sie jetzt sind. Es ist in der Zwischenzeit trotz aller Aufklärungskampagnen der Ärzteschaft, der Kinderärzte, der Kindergärten, auch das Geld, was eingesetzt worden ist, vom Bund, vom Land für diese Aufklärungskampagnen: Wir kommen einfach nicht mehr höher.
Wenn wir unser Ziel erreichen wollen, was wir ja auch gegenüber den Weltgesundheitsbehörden zugesagt haben, dass wir eine Durchimpfungsquote haben wollen, wo wir dann auch, ähnlich wie es bei den Pocken in den 60er-Jahren gelungen ist, diese Masern ausrotten, dann brauchen wir einfach zwei, drei Prozent höhere Durchimpfungsraten, wie wir sie mit der besten Aufklärung anscheinend erreichen. Immer wieder, wenn die schlimmen Masern-Fälle passieren, immer wieder, wenn ein Kind unter Umständen auch schwere gesundheitliche Schäden durch die Masern-Erkrankung hat, haben wir, solange ich denken kann, wieder die Debatte über die Impfpflicht.
Es wird diskutiert und diskutiert, wir versuchen, mit Aufklärung zu machen, was geht, aber wir kommen nicht weiter. Deswegen gebe ich Jens Spahn völlig recht: Es ist jetzt die Zeit reif, auch zu sagen, wir brauchen eine Impfpflicht – vor allen Dingen auch deswegen, weil heute die Kinder ja nun auch schon sehr klein in die Sozialeinrichtungen kommen, in die Kinderkrippen und so weiter. Man kann nicht von den ganzen Sozialeinrichtungen profitieren, sich aber dann nicht so verhalten, wie es bei einer solchen Ansammlung von Kindern schlicht und ergreifend notwendig ist.
Dobovisek: Wenn wir allerdings, wie Sie sagen, 94 Prozent Impfquote haben bei den Kindern, die eingeschult werden, dann sind wir ja nur einen Prozentpunkt von dem Ziel entfernt, …
Laumann: Aber wir müssen noch zwei, drei drauflegen! Das Problem ist ja, dass wir es auch im Kindergartenalter nicht erreichen. Ich habe Ihnen jetzt ja nur mal die Zahlen in NRW vorgetragen. Das heißt, wir kämpfen in Wahrheit nicht gegen Impfgegner alleine, sondern wir kämpfen doch vor allen Dingen auch gegen eine, ich sage mal, gewisse vielleicht Fahrlässigkeit. Denn wenn man beim ersten Mal sein Kind impfen lässt, kann man doch kein Impfgegner sein.
Deswegen, glaube ich, brauchen wir auch eine gesetzliche Grundlage, dass auch ein Kindergarten sagen kann, hier ist die Teilnahme am Kindergarten nur möglich, wenn das Kind geimpft ist, weil wir doch über den Kindergarten letzten Endes auch an die Eltern kommen und dann zusammen mit den Kinderärzten auch für eine gute Aufklärung sorgen können.
Ich will doch gar keine Menschen impfen, die ganz wenigen, die es gibt, wo man das gesundheitlich nicht machen sollte, sondern wir werden mit einer höheren Durchimpfungsrate im Grunde genommen einen Schutz erreichen, der dann dazu führt, wenn Du am Ende ein, zwei Prozent nicht geimpft hast, wo es auch um Allergie-Fälle zum Beispiel geht, dass die mit geschützt sind.
Dobovisek: Aber, Herr Laumann! Gestatten Sie, dass ich da noch mal einhake. Erlauben Sie mir, noch mal den Schritt zurück zu machen zu der Nachlässigkeit, die ich vorhin auch noch mal angesprochen habe. Warum die Keule der Impfpflicht, wenn es doch eigentlich um Nachlässigkeit geht? Wäre es da nicht viel sinnvoller, die Vorsorge-Untersuchungen zur Pflicht zu machen? Dagegen kann ja kaum jemand etwas haben.
Laumann: Wir haben doch die ganzen Vorsorgeuntersuchungen heute schon, die sogenannten U-Untersuchungen.
Dobovisek: Ja, die sind da. Aber die sind ja nicht verpflichtend, weil es keine Konsequenzen gibt, wenn jemand nicht hingeht.
Laumann: Aber selbstverständlich. In Nordrhein-Westfalen ist es ganz eindeutig so, dass wir nachhalten, wer bei diesen U-Impfungen war. Und diejenigen, die nicht da waren, werden über die Jugendämter auch angesprochen. Da haben wir auch schon allein wegen dem Kinderschutz vor Jahren ein sehr engmaschiges Gesetz gemacht.
"Ich bin der Meinung, dass wirklich lange genug herumexperimentiert worden ist"
Dobovisek: Aber offensichtlich funktioniert es ja nicht, wenn am Ende aus Nachlässigkeit nicht geimpft wird zum Beispiel.
Laumann: Ich kann Ihnen nur sagen, es gibt vielleicht hier und da auch Kinderärzte, die der Meinung sind, dass Impfen nicht notwendig ist. Das wissen wir ja sehr genau. Wir haben ganze Gebiete in Nordrhein-Westfalen, da kriegen wir Durchimpfungsraten von 97, 98 Prozent hin. Dann haben Sie andere Gebiete, wo man sich das kaum vorstellen kann, wo wir dann irgendwo Ende 70 liegen. Ich kann Ihnen nur sagen, …
Dobovisek: Was sind das für Gebiete, Herr Laumann?
Laumann: Das kann man regional sehr eingrenzen. Ich kann jetzt ja nicht behaupten, woran es liegt. Das hat manchmal mit Einzugsgebieten von Kindergärten zu tun, hat mit Einzugsgebieten von Kinderarztpraxen zu tun.
Dobovisek: Aber ist das eher ein städtischer Raum, oder ist das der ländliche Raum?
Laumann: Das kann man so nicht sagen. Ich persönlich bin hier sehr der Meinung, dass wirklich jetzt lange genug herumexperimentiert worden ist. Ich finde, in der Politik muss es auch so sein, dass nach jahrelangen Debatten, nach jahrelangem Hin und Her man auch mal irgendwann entscheiden muss.
Es ist doch nicht umsonst so, dass zurzeit doch ein gewichtiger Teil der in den Ländern verantwortlichen Gesundheitsminister sagt, wir müssen diese Frage der Impfpflicht jetzt auch wirklich mal zielführend prüfen. Ich gehe sogar so weit und sage, wir müssen sie durchsetzen.
Dobovisek: Dann kommen wir genau zu dieser Impfpflicht und den praktischen Auswirkungen, die das haben würde. Wie wollen Sie eine Impfpflicht durchsetzen? Mit Geldstrafen für die Eltern? Mit einem Kita-Ausschluss?
Laumann: Erst mal glaube ich, dass es gut wäre, wenn wir eine bundesgesetzliche Regelung bekommen. Jens Spahn hat ja nun ganz klar gesagt, dass er dazu im Mai einen Vorschlag machen will. Ich habe ihm auch ganz klar gesagt, dass er dafür jede Unterstützung aus Nordrhein-Westfalen auch im Bundesratsverfahren hat.
Jetzt werden wir in Nordrhein-Westfalen in Ruhe prüfen, auch in dem für die Kindergärten zuständigen Ministerium - Herr Stamp hat sich dazu ja auch geäußert -, wie man das dann auch hier bei uns in Nordrhein-Westfalen umsetzt. Ich setze darauf, dass dann, wenn es für alle Beteiligten klar ist, dass es eine Impfpflicht gibt, dass spätestens, wenn die Kinder zwei, zweieinhalb Jahre alt sind, auch die zweite Durchimpfung passieren muss, dass wir dann auch begleitet durch eine vernünftige Aufklärungskampagne schon zu unserem Ziel kommen. Ich will jetzt nicht am Anfang der ganzen Geschichte über Zwangsmaßnahmen nachdenken.
"Impfen gegen Masern ist alternativlos richtig"
Dobovisek: Aber irgendwie muss es ja Zwang geben, wenn es eine Pflicht gibt. Sonst hält sich ja keiner daran.
Laumann: Ja, selbstverständlich! Aber man kann es ja auch erst mal versuchen, im Rücken mit dem, ihr müsst, es ist nun mal vom Gesetzgeber so entschieden, vielleicht auch noch mal über die Kindergärten und über die Kinderärzte ganz anders an die Eltern herankommt und auch an diesen kleinen Prozentsatz der Eltern in Wahrheit, um die es hier geht.
Dobovisek: Wir haben Schulpflicht in Deutschland und einen Rechtsanspruch auf eine Kita-Platz, und zwar ohne Vorbedingung. Juristen melden deshalb auch Bedenken an mit Blick auf die Impfpflicht, darunter auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages. Es sei fraglich, heißt es da, ob die Impfpflicht mit Blick auf das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit verhältnismäßig wäre. Haben Sie da weniger Bedenken als die Juristen?
Laumann: Ich habe da deswegen keine Bedenken, weil ich auf der anderen Seite sehe, dass wir weit über 90 Prozent der Eltern haben, die ihre Kinder impfen lassen. Und ich glaube schon, wenn man auf der einen Seite von Sozialeinrichtungen profitieren möchte, wie etwa Kitas, dass man auf der anderen Seite dann auch ein Sozialverhalten haben muss, was mit dem Wort Verantwortung auch gegenüber anderen zusammenhängt. Und es ist nun mal medizinisch völlig klar, dass das Impfen gegen Masern eine ganz vernünftige Sache ist und eigentlich, ja man kann nicht nur sagen eigentlich, sondern alternativlos richtig.
Dobovisek: Jetzt müssen wir ein bisschen differenzieren zwischen der Impfpflicht nur gegen Masern und auch einer allgemeinen Impfpflicht. Das wird auch diskutiert. Das Internet ist dabei voll von Horrorgeschichten über unvermittelt gestorbene Kinder, die kurz zuvor geimpft worden sind, zum Beispiel mit der sogenannten Sechsfach-Impfung unter anderem gegen Diphtherie und Tetanus. Im Beipackzettel steht da in der Tat, dass selten anaphylaktische Reaktionen auftreten können, die wiederum tödlich ausgehen könnten.
Und wenn es im Beipackzettel "selten" heißt – das muss man ein bisschen übersetzen -, meint das ja bis zu einem Betroffenen von 1000 Geimpften. Sollten wir uns bei all den Vorteilen für Impfungen, die Sie sehen, vielleicht auch noch mal kritisch mit deren Durchführung befassen? Könnte man die Mehrfachimpfungen zum Beispiel und damit auch die Risiken vielleicht entzerren, verteilen?
"Die Politik muss jetzt hier zu einer verantwortungsbewussten Lösung kommen"
Laumann: Ich persönlich trete hier für eine Impfpflicht bei Masern ein, weil wir ja auch eine Zusage gegenüber der Weltgesundheitsorganisation als Deutschland haben, die alle anderen Länder auch gemacht haben, dass dieses Problem ausgerottet werden soll durch einen klaren Schutz der Bevölkerung in dieser Frage. Ich rede jetzt ja nicht von einer Impfpflicht gegen alles und alles Mögliche.
Dobovisek: Andere schon! Sie lehnen die allgemeine Impfpflicht ab?
Laumann: Wir wollen keine Impfpflicht für Grippe und Ähnliches einführen, sondern es geht hier eindeutig in dieser Debatte um Masern, und ich bin auch der Meinung, dass das gerechtfertigt ist und dass wir diese Impfpflicht letzten Endes sehr gut beantworten können. Und ich sage noch einmal: Ich finde nicht, dass zwei, drei, vier Prozent Impfgegner das Recht haben, gegenüber weit über 90 Prozent der betroffenen Menschen einfach zu sagen, uns geht das alles nichts an, wir machen so weiter, wie es immer war.
Dobovisek: Fünf Kitas eines freien Trägers in Essen machen das bereits vor mit der Impfpflicht. Sie nehmen seit Anfang des Jahres nur noch geimpfte Kinder an. Kritiker sehen darin aber ohne gesetzliche Grundlage eine Diskriminierung, einen Verstoß gegen die Gleichbehandlung. Was halten Sie von solchen Alleingängen?
Laumann: Ja gut, es ist ja immer so. Wenn man so lange debattiert und nicht zu einem Ergebnis kommt, dann führt das dazu, dass auch unter Umständen Trägerstrukturen dann sagen, dann versuchen wir es für unsere Einrichtungen zu regeln.
Ich habe schon mal Respekt davor, wenn das Einrichtungen machen. Aber das macht doch deutlich, dass wir jetzt nicht den einzelnen Kindergartenträgern, Kita-Trägern diese Entscheidung in die Schuhe schieben sollten, sondern dass es dann doch vernünftig ist, im Bereich der Politik und im Bereich der Gesetzgebung hier zu einer verantwortungsbewussten Lösung zu kommen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.