Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind davon überzeugt, dass SARS-CoV-2 über Fledermäuse oder einen Brückenwirt auf Menschen übertragen wurde. Im Mai 2021 wandte sich jedoch eine kleine Gruppe von Forschern im Fachmagazin "Science" mit einem Brief an die Öffentlichkeit: Sie erinnerte daran, dass auch eine Herkunft aus dem Labor in Frage komme. Drei von ihnen hat das Science-Magazin am 30. September 2021 zu einer Online-Diskussionsrunde eingeladen – zusammen mit einem Vertreter der Zoonosen-These, welche besagt, dass das neue Coronavirus in der Natur entstanden ist.
Vorweg: Der Nebel um die Herkunft des neuen Coroanvirus konnte nicht gelüftet werden. Bemerkenswert an dem Gespräch war allerdings, dass erstmals Fachleute öffentlich miteinander sprachen, die eher gegenteilige Positionen vertreten. Zum einen die Molekularbiologin Alina Chan vom Broad Institute in Boston, die einen Laborursprung für sehr wahrscheinlich hält.
Auf der anderen Seite Linfa Wang, von der Duke-NUS Medical School in Singapur, der die Laborhypothese für Unfug hält. Er arbeitet seit mehr als 17 Jahren mit der Virologin Zhengli Shi zusammen, die das Labor am Institut für Virologie Wuhan leitet, das unter Verdacht geraten war. Linfa Wang legte dar, warum er sich nicht vorstellen kann, dass SARS-CoV-2 von dort stammen könnte. Die Diskussion war aber durchaus kontrovers.
Kontrovers dikutiert wurde unter anderem über ein neues Dokument, das Ende September 2021 aufgetaucht ist. Es handelt sich dabei offenbar um einen Antrag für ein Forschungsprojekt, eingereicht bei der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), dem Forschungszweig des US-Verteidigungsministeriums. Der Antrag stammte von einer NGO aus New York, der EcoHealth Alliance. Diese wird von Peter Daszak geleitet, ebenfalls ein langjähriger Kooperationspartner von Zhengli Shi aus Wuhan, die auch in das Projekt eingebunden war.
Der Antrag stammt aus dem Jahr 2018 und beschreibt ein Vorhaben, bei dem Coronaviren genetisch verändert werden sollten. Unter anderem sollte ihnen eine sogenannte Furin-Spaltstelle eingefügt werden, eine kurze Sequenz aus vier Eiweiß-Bausteinen. Sitzt diese an einer bestimmten Stelle im Spike-Protein, kann das Virus besser in menschliche Zellen eindringen. Tatsächlich besitzt SARS-CoV-2 eine solche Furin-Spaltstelle.
Ein Beweis für die Laborthese ist das freilich nicht. Der Antrag aus dem Jahr 2018 wurde zum einen nicht bewilligt, zum anderen hätten die umstrittenen Experimente auch in den USA stattfinden sollen. Dennoch wurde das Dokument als Beweis dafür herangezogen, dass es zumindest Pläne gab, Coronaviren im Labor sozusagen "scharf" zu stellen für eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung.
In der "Science"-Diskussion zeigte sich, dass Linfa Wang von diesen Plänen wusste und offenbar auch an dem Projekt-Vorhaben beteiligt war. Aline Chan kritisierte ihn daraufhin scharf. Sie kritisierte, dass er dies nicht früher schon öffentlich gemacht habe – aus Gründen der Transparenz. Die fehle ihr in der gesamten Diskussion.
In der Runde wurde auch eine Studie diskutiert, die im September als "Preprint" veröffentlicht worden war. Ein Forschungsteam vom Institut Pasteur in Paris hatte bei Fledermäusen aus Laos Coronaviren gefunden, die eine hohe Übereinstimmung mit SARS-CoV-2 zeigten, nämlich 96,8 Prozent in einem Fall, bezogen auf das gesamte Genom. Die entdeckten Coronaviren sind damit die bislang nächsten bekannte Verwandten von SARS-CoV-2.
Die Teilnehmer der "Science"-Diskussion beurteilten den Fund eher zurückhaltend. Knapp 97 Prozent sei zwar nahe dran, aber man war sich einig: Einen wirklich heißen Kandidaten hat man erst dann gefunden, wenn die Übereinstimmung bei 99,9 Prozent liegt. Das könnte dann ein direkter Vorläufer von SARS-CoV-2 sein.
Allerdings: Die Stelle am Spike-Protein, mit der die in Laos entdeckten Viren an menschliche Zellen bindet, stimmte genau mit dem entsprechenden Abschnitt von SARS-CoV-2 überein. Diese kann auch an menschliche Zellen binden. Das zeigt zumindest: Es ist kein Laborexperiment notwendig, um einem Coroanvirus eine solche Fähigkeit zu verleihen. Das war bislang eines der Argumente der Vertreter der Laborhypothese.
Aufsehen erregt auch eine neue Studie an der auch Linfa Wang und Peter Daszak beteiligt waren und die gerade als "Preprint" veröffentlicht wurde. Anhand einer Risikokarte und den Daten aus Antikörperstudien berechnen sie darin, dass es in Südost-Asien jährlich zu rund 400.000 Übertragungen von SARS-ähnlichen Coronaviren von Fledermäusen auf Menschen kommt.
Bei der absoluten Größe der Zahl ist Skepsis angebracht, aber die Studie zeigt, dass diese Zoonosen doch häufiger vorkommen als ursprünglich angenommen. Auch dies stärkt die Position derjenigen, die davon ausgehen, dass SARS-CoV-2 in der Natur und nicht im Labor entstanden ist.