Der Mensch kennt heutzutage 1,8 Millionen Spezies. So viele wie noch nie zuvor und doch nur ein Bruchteil der Vielfalt, die unseren Planeten bewohnt. Gleichzeitig waren noch nie so viele Tier- und Pflanzenarten durch den Menschen bedroht. Viele werden wir nicht einmal mehr kennenlernen.
Der Nürnberger Zoodirektor Dag Encke: "Wenn wir eine globale Betrachtung des Artenschutzes, des Naturschutzes anstrengen, dann müssen wir feststellen, dass es in der Dramatik und Dimension gar nicht verstanden ist, wie sehr und wie schnell wir wie viele Arten eigentlich verlieren." Drei Viertel aller Arten könnten in den nächsten 30 Jahren verschwinden. Die Zeit drängt. "Arten sterben schneller weg, als dass wir Schutzmaßnahmen wirklich durchsetzen können."
Wie soll der Mensch eingreifen? Und wie rational, wie radikal müssen wir werden, um die Vielfalt zu retten? "Wir müssen die Zusammenhänge erkennen und wir müssen auch anfangen gegenzusteuern. Und zwar nicht mit halbherzigen kleinen Schritten, sondern mit einem globalen Schlachtplan."
Löwe Subali paart sich nicht erfolgreich
Es ist Lockdown. Der Nürnberger Zoo ist für das Publikum geschlossen. Zoodirektor Dag Encke wirft vom Wagen aus kurze Blicke nach links und rechts in die Gehege. Dann hält er an. "Wir gehen durch einen martialischen in den Felsen gehauenen Tunnel, 1933 entstanden. Kann man sich früher vorstellen, dass das Fackeln waren. Im Felsen verbuddelt. Und wir müssen durch dicke Gittertüren laufen, weil wir das als Hochsicherheitstrakt ausgestattet haben."
Während wir uns nähern, verfolgt uns ein asiatisches Löwenmännchen mit seinem Blick. Subali hat eine prächtige Mähne, die ihn zurecht zum König der Tiere werden lässt. "Wir werden erwartet." Dag Encke hat deutlich weniger Haar. Aber solange die Trennscheibe ihn schützt, hat er hier das Sagen. Und er sagt: Subali soll sterben.
Der Löwe ist nicht krank. Er ist nicht gefährlich geworden. Er paart sich nur nicht erfolgreich. "2013 hat man ihn untersucht. Wir wissen, dass er physiologisch zeugungsfähig ist. Und deshalb auch geplantermaßen der letzte Versuch bei uns."
Kann, darf, muss man einen gesunden Löwen töten?
Eigentlich will der Zoo Nürnberg mit dem Tier züchten, und noch hat Subali eine Chance, denn seine Gene sind wertvoll.
"Man versucht immer ein Ranking zu machen, welche Tiere sind am wenigsten verwandt mit allen anderen Tieren in der Population, um den maximalen Genpool aufrechtzuerhalten. Wir müssen möglichst viele Arten und innerhalb dieser Arten die maximale Genvielfalt erhalten. Und deswegen haben wir den als altes Tier, also mit 12 Jahren übernommen, um den mit der ganz seltenen Arany zu verpaaren. Und wenn das nicht klappt, riskieren wir, dass beide seltenen Genkombinationen verloren gehen; und damit schaden wir der Population."
Für Subali wäre es das Todesurteil. Die Meldung darüber hat der Zoo Nürnberg, hat Dag Encke schon etwas länger vor unserem Besuch öffentlich gemacht. Der Aufschrei war groß. Wie kann er nur einen gesunden Löwen töten? Dag Encke sagt: er muss. Es geht eigentlich gar nicht um Subali. Es geht ums Prinzip. Rein rechtlich darf in Deutschland jeder Zoo auch gefährdete Tiere töten, hier in Nürnberg wird häufiger eine Antilope an die Löwen verfüttert, auch wenn sie eine gefährdete Art ist. So ist die Nahrungskette.
"Um das bewusst zu machen, worum es geht, mussten wir ein Tier nehmen, was man nicht isst. Ist eben nicht normal, dass man Löwen isst. Es geht nicht um die Nahrungskette, sondern die Population."
Noch lebt der Löwe. Die Ankündigung soll ein Anfang sein, damit Deutschland über das Prinzip dahinter diskutiert.
Wer als Zoodirektor gefährdete Tiere und ihre genetische Vielfalt erhalten will, der braucht Nachwuchs und züchtet. Der Prozess hat aber praktische Probleme, wenn es viele Tiere gibt: Das Risiko für Inzucht und Erbkrankheiten steigt, in Gehegen ist plötzlich weniger Platz als vorgeschrieben oder es kommt zu gefährlichen Kämpfen. Und: Für die Zucht braucht es meist nur ein Männchen, die anderen gelten dann als "überzählig". Im Grunde ließe sich erfolgreiche Zucht an toten Tieren messen.
Subalis Tötung aber dient Encke einem höheren Zweck: "Weil wir wissen, dass wir im Artenschutz um die Frage der Tiertötung nicht drumherum kommen."
Zweifel am Artenschutz-Motiv von Zoos
Auch gefährdete Tiere töten, um Arten zu schützen: Das klingt paradox. Tierschützer haben selbstverständlich ein Problem mit den Praktiken, wie sie der Zoo Nürnberg umsetzt – die meisten ja auch grundsätzlich mit Zoos an sich. Dass Zoodirektoren über Artenschutz sprechen, halten sie für vorgeschoben, sagt etwa Yvonne Würz von der Tierrechtsorganisation PETA:
"Also es geht den Zoos hauptsächlich nach wie vor noch darum, ja die Tiere auszustellen für die Besucher zur Unterhaltung. Das ist der Hauptgrund, warum es sie gibt. Den Artenschutz haben sie sich eigentlich erst im Nachhinein auf die Fahnen geschrieben als Rechtfertigungsgrund. Wenn man sich da wirklich mal den reellen Beitrag anschaut, da ist der verschwindend gering. Es gibt Schätzungen, wie viele Tiere durch Ausbildungsprogramme in den Zoos erhalten wurden. Das ist im niedrigen zweistelligen Bereich, vielleicht ein Dutzend, vielleicht 20 Arten."
"Aber wäre es nicht trotzdem als letzte Option sinnvoll, ehe die Art definitiv ausstirbt?"
"Natürlich wollen wir nicht, dass Arten aussterben, aber die Tiere, die Individuen sind - diejenigen, die leiden in Gefangenschaft - welchen Sinn hat es dann, diese Tiere in Gefangenschaft zu erhalten und dafür in Kauf zu nehmen, dass diese Tiere in Gefangenschaft leiden?"
Schleichende Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten
Dag Encke hat auch Verständnis für diese Sicht. Organisationen wie PETA sehen das einzelne Tier – das man nicht einsperren und nicht töten darf. Und die Tötung von Subali rette per se ja nicht die Löwenart. Doch für Encke geht es um etwas Abstrakteres.
"Das Nichtstun - und das ist das, was glaube ich für viele auch schwer zu akzeptieren ist - wenn man nichts tut, dann ist man zwar moralisch sauber. Aber man hat sein Potenzial an Einfluss, an gutem Einfluss, den man nehmen kann, dann auch verschenkt."
In Zukunft drohen wir mehr als eine Million Tier- und Pflanzenarten zu verlieren. Man müsse sich das wie ein Gebilde vorstellen, bei dem man einige Stützen entfernt, sagt der Zoologe Matthias Glaubrecht in seinem Buch "Das Ende der Evolution". Irgendwann breche alles in sich zusammen. Gefährlich sei, dass der Mensch keine Ahnung hat, wann und wie viele Arten es betrifft.
In der kurzen Zeit, die der moderne Mensch die Erde bevölkert, hat er Tiere verdrängt, unterworfen, getötet – und mit jeder Art auch Millionen Jahre von Evolutionsgeschichte vernichtet. "Und diese Zahlen, das ist das Erschreckende, lassen sich für fast jede Tiergruppe inzwischen in den letzten zwei, drei, vier Jahrzehnten nachweisen. Das ist ein schleichender und deswegen so gefährlicher Prozess."
Drastische Rückgänge bei Insekten und Vögeln
Das Artensterben geschieht nicht nur im brennenden Amazonas, nicht nur auf den Palmölplantagen in Südostasien. Es passiert auch hier vor der Haustür. Mit der "Krefelder Studie" erlangten Hobby-Entomologen vor wenigen Jahren internationale Berühmtheit. Sie hatten seit 1989 Insektenfallen in einem Schutzgebiet aufgestellt und die darin gefangene Tiermasse protokolliert. 2016, nach 27 Jahren, waren es bis zu 76 Prozent weniger Fluginsektenmasse.
Systematische Studien haben diesen Trend bestätigt. Es gibt nicht nur weniger Insekten, auch die Zahl der Arten nimmt ab. Und wenn die verschwinden, verschwinden auch andere, nämlich die Vögel, die sich von diesen Insekten ernähren. Im Vergleich zu den 1980ern beobachtet man in Europa heute bis zu 600 Millionen Vögel weniger, in den USA zählt man über Radarbeobachtungen mittlerweile drei Milliarden Exemplare weniger.
Nachdem der Mensch also Abermilliarden Tiere direkt und indirekt getötet, zahlreiche Arten ausgerottet hat und sich daraus ganz gut ableiten lässt, was in den kommenden Jahren und Jahrzehnten passieren wird, sitzt Zoodirektor Dag Encke in seinem Büro und spricht davon, dem Sterben mit Töten zu begegnen. "Das wissen wir eigentlich immer schon, wir wissen es von den Ratten in Neuseeland: Um dort die heimische Fauna zu retten, hat man Ratten ausgerottet."
Elefantenbestände in Botswana außer Kontrolle
Er nennt auch gern die Elefanten im afrikanischen Botswana. Der Tierbestand hat sich dort in den vergangenen Jahren erholt. Mittlerweile gibt es wieder 130.000 Tiere. Eigentlich ein Grund zur Freude. Oder?
"Es sind verschiedene Faktoren: das eine ist natürlich, dass man durch den Tourismus eben mehr Wasserlöcher geschaffen hat. Das andere ist, dass es ein totales Abschussverbot seit vielen, vielen Jahren gibt. Und eben diese Pflege der Elefantenbestände hat halt dazu geführt, dass die jetzt außer Kontrolle geraten sind. Sie stoßen überall an Grenzen. Also Nationalparks sind halt geschlossene Räume, auch wenn die Tiere raus können, sind es trotzdem geschlossene Räume."
Für Menschen in Botswana bedeutet das: Elefanten verwüsten ihre Felder oder töten Dorfbewohner. Encke hat eine Lösung, die ihm aber keine Sympathien einbringt: "Wenn wir es wirklich vernünftig aus Artenschutzgründen, Populationsmanagementgründen betreiben wollen, wissen wir, müssten die Botswaner ungefähr bis zu 80.000 Elefanten töten, damit der Lebensraum langfristig für Elefanten und die anderen Tiere erhalten bleibt."
Artenschutz mit "widerlichen" Maßnahmen?
80.000 Tiere – weit mehr als die Hälfte. Tiere zu töten ist ein moralisches Dilemma, folgt aber einer strikten, rationalen Logik. Einer Logik, die langfristig funktionieren soll.
"Wir haben jetzt gerade beschlossen, ein Projekt auf den Philippinen zu unterstützen, um eine Vogelart zu retten, weil es davon nur noch wenige Dutzend Paare gibt. Die Fallen erkennen über Logarithmen die Form einer Katze und sprühen ihnen dann Gift aufs Fell und die Katze stirbt daran, weil sie sich ableckt. Das ist Artenschutz. Und das ist widerlich, das weiß ich. Es widerstrebt jedem Menschen und das ist auch gesund so, dass es jedem widerstrebt, und deswegen müssen wir es intellektuell versuchen zu erfassen. Es soll auch weiterhin jedem widerstreben."
Während Zoos es immer schwerer haben, ihre Existenz und ihren Auftrag zu rechtfertigen, die Forderung nach besseren Haltungsbedingungen und einem Ende von eingesperrten Delfinen oder Eisbären lauter wird, deutet das, was Encke sagt, genau in die gegenteilige Richtung: Zoos müssen mehr eingreifen, radikaler werden oder wie er eben sagt - widerlich.
"Wir werden in ein Dilemma nach dem anderen rennen und ich glaube das, was für uns alle so schmerzhaft ist, es gibt diese schöne Lösung nicht mehr. Mittlerweile denke ich mir mal, wenn wir nichts tun, dann ist das unterlassene Hilfeleistung, also müssen wir was tun. Arten sterben schneller weg, als dass wir Schutzmaßnahmen wirklich durchsetzen können. Das heißt, erst rausholen, sichern und dann gucken, dass man die Bedingungen wiederherstellen kann in immer mehr Fällen."
"Leben eines Froschs ist genau so viel wert das eines Pandas"
Mit seiner Aktion und seiner Ankündigung fragt Encke auch danach, wie rational Artenschutz sein darf, und was wir uns zumuten wollen. Doch wie viele gesellschaftliche Debatten um Zoos bleibt auch diese oberflächlich.
Es geht darum, ob Zoos Löwen oder Eisbären oder Delfine halten sollten oder nicht, ob man Menschenaffen einsperren darf oder nicht. Dabei geht es immer um die schönen, die niedlichen Tiere, meist Säuger. Und so sehr die Aktivisten den Zoos vorwerfen, diese Tiere als Besuchermagneten zu missbrauchen, so sehr machen die Aktivisten selbst mit genau jenen Flaggschiffarten am häufigsten Werbung und Stimmung. Gorilla und Co. emotionalisieren am besten. Dabei ist die Diskrepanz allen bewusst, auch Organisationen wie PETA. Yvonne Würz:
"Man bekommt ja durch die Gesellschaft dann im Laufe des Lebens häufig suggeriert, dass manche Tiere weniger wert seien als andere. Und genau da kann man eben auch ansetzen, indem man Kindern von Anfang an klar macht: Die Kaulquappe oder der Frosch, das Leben ist genauso viel wert wie das von einem Elefanten oder Panda."
Säugetiere haben nur kleinen Anteil an Artenvielfalt
Neuerdings dreht sich viel um die Honigbiene, die es in Bayern gar zu einem Volksbegehren geschafft hat. Für den Zoologen Matthias Glaubrecht geht das völlig am eigentlichen Problem vorbei.
"Wir müssen das erkennen. Natürlich ist es wichtig, dass Sie einzelne Arten, wenn sie gerade besonders bedroht sind, schützen. Aber die Honigbiene ist es mit Sicherheit nicht. Da ist eigentlich eher dieser völlig falsch verstandene, fast schon romantische Ansatz."
Der Schwund der Biodiversität wird verkannt, auch weil wir die Dimensionen gar nicht einschätzen können. Von möglicherweise fast neun Millionen Arten kennen wir gerade einmal ein Sechstel. Und die 5.600 Säugetierarten, von denen über wenige gestritten wird, die machen erst recht nur einen sehr kleinen Anteil der Artenvielfalt aus. Wir kennen allein mehr als 400.000 Käferarten, und etwa 93 Prozent der trockenen Biomasse aller Tiere gehen auf das Konto von Wirbellosen.
Lutz Rothmann ist hauptberuflich Ingenieur. Sein Hauptaugenmerk aber liegt auf jenen Tieren, die die meisten Menschen entweder nicht sehen oder nicht sehen wollen: Insekten. Heute spaziert er über ein Gelände im Kölner Norden. "Wir befinden uns im Nüssenberger Busch. Das ist die A1, an der Autobahn direkt, und das ist ein recht abwechslungsreiches Gelände mit einer großen Wiesenfläche und vielen Waldabschnitten hier hinter uns. Das ist der Osten. Da findet man auch richtig alten Kölner Wald noch."
"Es verschwinden ständig Arten, ohne dass wir es merken"
Rothmann betreut mit dem Naturschutzbund Deutschland Flächen wie diese und versucht, die Artenvielfalt zu vermessen, zu bewahren oder nach Möglichkeit wiederherzustellen. "Und deswegen ist es wichtig, dass wir da verschiedene Blütenpflanzen anbieten, damit wir da auch entsprechend Platz schaffen für die Wildbienen, was Wildbienen auch oft brauchen, das sind offene Böden, das heißt so ein Grün, was so durchgängig ist mit dem Boden, der ganz durchgängig begrünt ist, das ist dann für viele nichts. Die brauchen dann offene Stellen irgendwo an Wegrändern."
Was sich unter den Füßen abspielt, das bleibt dem Auge oft verborgen und selbst bei Messungen oder Zählungen, sagt Rothmann, werde die Vielfalt stets unterschätzt.
"Man schaut sich zum Beispiel Laufkäfer an, man schaut sich zum Beispiel Heuschrecken an, das heißt, Sie betrachten eigentlich nur ein Spektrum von ich schätze mal 300 Arten oder so. Aber es gibt noch mindestens, ich sage mal knapp 1.000 Arten in einzelnen Gebieten, die Sie nicht betrachten, wovon sie keine Ahnung haben. Da bin ich auch vorsichtig mit solchen Zahlen. Wie viel verschwinden denn? Ich denke, es verschwinden ständig Arten, ohne dass wir es merken, bestimmte Bienenarten, die zwei, drei Millimeter groß sind. Die kennt keiner, die sieht keiner. Kriegt keiner mit, wenn die weg sind. Oder wenn ich mal an meinen Garten denke. Ich habe 400 Quadratmeter Garten. Ich habe 150 Arten, die habe ich fotografisch dokumentiert. Wenn Sie überlegen, allein durch stupiden Gartenbesuch und Kamera draufhalten und dann bestimmen, dann kommen 150 Arten heraus. Also da kann man sich dann vorstellen, was man alles gar nicht bemerkt."
"Hier sieht man schön, das ist ein alter Wald, mit altem Buchenbestand, Sie haben hier diese Rubinien, mit diesen strukturierten Rinden sowas ist immer ganz schön, sowas hier. So alte Stämme, so altes Holz ist immer ganz schön für Insekten. Das heißt, sie haben nicht nur sonnige Flächen, wo sie drauflegen können, sondern die können sich auch hier drinnen aufhalten. Aber die gehen da rein. Wie Sie hier sehen, das sind jetzt alte Löcher, das heißt, die sind schon ausgeschlüpft. Das waren irgendwelche Bockkäfer wahrscheinlich, die hier drin waren. Nun müssen wir mal gucken. Aktuelle sehe ich jetzt im Moment nicht." "Woran würde man die aktuellen erkennen?" "Dass die zum Beispiel mit Sägemehl zugestopft sein können. Sie würden hier unten so Gerinnsel sehen. Hier sind Asseln, keine Insekten." Sie sehen nur so aus. Bei den Asseln handelt es sich eigentlich um Krebstiere.
Gut gemeinte Artenschutzprojekte im schlimmsten Fall kontraproduktiv
Das Problem mancher Artenschutzprojekte: Sie sind gut gedacht, aber oft nicht gut gemacht. Im schlimmsten Fall sind gut gemeinte Projekte sogar kontraproduktiv.
"Es hilft immer, irgendwas zu tun. Ja, also jetzt diese Blühstreifen. Wir merken schon, dass die Artenvielfalt zunimmt. Man merkt, wenn so eine Wiese da ist, dass sie nach zwei, drei Jahren wirklich voller ist mit Schmetterlingen und Bienen zum Beispiel. Wir haben aber auch den Effekt, zum Beispiel haben wir festgestellt, wenn wir jetzt so Grünstreifen direkt an Straßen herstellen, also Blühstreifen direkt an Straßen, dass bei stark belasteten Straßen diese Blühstreifen quasi zu Todesfallen werden. Aber das sind wahrscheinlich auch Insekten, die vielleicht gar nicht da wären, wenn dieser Blühstreifen nicht da wäre. Aber das sind komplexe Prozesse, die sich auch erst einmal einpendeln müssen. Das andere ist, dass viele Bienenhalter auch in Naturschutzgebiete reingehen. Das ist nicht erlaubt. Wir tolerieren das. Wir können eh nichts machen. Wir versuchen durch Aufklärung das ein bisschen einzudämmen."
Letztlich, da sind sich Experten einig, müsse man die Begeisterung und die Liebe zur Natur nutzen, um vernünftige und durchdachte Projekte umzusetzen. Lutz Rothmann:
"Ich schlag auch schon mal Bremsen tot, die mich stechen. Ja, denn dann habe ich auch nicht direkten, unmittelbaren Nutzen von dem Tier. Aber ich weiß, das ist ein Teil des Ökosystems. So eine mit Blut voll gezogene Bremse ist ein wunderbarer Happen für irgendwelche Vögel oder Fische oder sonst irgendwas. Das bringt auch was."
Nürnberger Zoo will Mistkäfer züchten
Im Zoo in Nürnberg stoppt das Gefährt vor einem kleinen Haus: das Gehege der Somali-Wildesel, der Afrika-Bereich. Auf dieses kleine Haus ist Encke besonders stolz. Oder besser: auf das, was sich darin befindet. Es zeigt ein wenig, in welche Richtung sich die Gehege entwickeln könnten – und dass neben Löwe, Elefant und Giraffe andere Tierarten in den Fokus rücken können - wenn man will.
"Das Haus ist gebaut für Pillendreher, für Mistkäfer, die dann auch vergesellschaftet sind mit anderen Tieren. Das Thema hier ist Boden, Fruchtbarkeit des Bodens, Ökosystem Wüste und Empfindlichkeit des Ökosystems festzustellen. Und festgemacht wieder an Insekten, diesmal an Dungkäfern, die mit ihrer ökologischen Bedeutung gleichwertig sind den Bestäubern. Und da sieht man die Kotballen hinten liegen. Und das Ziel ist, dass wir die ersten der Welt sind, die Pillendreher züchten. Und es gibt so einen 'Dung beetle'-Crash weltweit. Die Mistkäfer sterben aus sozusagen. Und da haben wir gesagt, da müssen wir herausfinden, wie wir die massenhaft vermehren. Was uns bislang nicht gelungen ist, wir haben bisher nur eine einzige Brutpille gefunden. Das Haus kann ich sehr empfehlen, weil wir hier lauter schöne Geschichten haben. Da sind etwa fette Sandratten, das sind natürliche Diabetiker. An denen kann man die Koevolution von Pflanze und Tier zeigen. Man kann Tiergeschichten nicht ohne Pflanzen erzählen. Es fängt immer mit Pflanzen an, das Ökosystem."
"Werden die Käfer nicht gefressen?""Die Echsen fressen manchmal auch einen Käfer, aber die Käfer schmecken schlecht. Ganz selten."
Nachzucht und Auswilderung - mehr als eine Verzweiflungsmaßnahme?
Ein deutscher Zoo beherbergt im Durchschnitt knapp 300 Arten. Davon gehören im Schnitt maximal zwanzig Prozent zu den gefährdeten Arten. Insekten und Amphibien beispielsweise sind in Zoos unterrepräsentiert. Es ist Zeit, dass die Zoos ihre Artenzusammensetzung überarbeiten. Das ist genauso überfällig wie langwierig, denn dafür müssen Tiere erst einmal sterben und Gehege frei werden. Aber: Mit solchen Konzepten werden die Tiere weniger zur Schau gestellt, sondern im Gefüge eines Ökosystems gezeigt.
Wenn man die Tierschützer fragt, sei das ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber soll man es deshalb lassen? Zoobetreiber sagen: Wir können retten, wir können nachzüchten, wir können auswildern. Tatsächlich aber gilt das nur für die wenigsten Arten und wenige hundert Tiere - von Abermilliarden, die sterben oder ihren Lebensraum verlieren. Viele Arten lassen sich nicht in der Wildnis einfangen, überleben den Transport nicht, leiden in Gefangenschaft unter Stress, pflanzen sich niemals fort.
Auch Matthias sieht die Zoos skeptisch und hält Nachzucht und Auswilderungen nur für den letzten, verzweifelten Versuch, der vielleicht keinen Unterschied mehr macht. Der Tiger wäre so ein Beispiel: "Insgesamt sind es noch etwa 4.000 Tiger weltweit, davon übrigens mehr in Zoo und Zirkus als im Freiland. Aber wir verkennen völlig, dass er nicht aussterben wird, weil wir ihn im Zoo spätestens nachzüchten und erhalten werden durch Erhaltungszuchten. Er ist aber funktional schon ausgestorben, denn er fehlt eigentlich überall in Südostasien in den Lebensräumen. Dort spielt der Tiger keine Rolle mehr."
Lebensraum wiederherstellen möglicherweise einzige Lösung
Den Lebensraum zurückzuholen, sehen daher die meisten Experten als wichtigste oder gar einzige Lösung an. Der NABU beispielsweise versucht in Köln und anderswo, zusammen mit den Verantwortlichen der Stadt die einzelnen Grünflachen miteinander zu verbinden. Wie hier am Nüssenberger Busch braucht es in regelmäßigen Abständen auch neu angelegte Wasserflächen. Lutz Rothmann:
"Da ist es wichtig, dass man die miteinander verknüpft, dort verschiedene Inseln baut und dafür sorgt, dass die Tiere von einer Insel zur anderen können. Das tut einmal den Insekten und anderen Tieren gut, weil sie trinken können. Aber andererseits bauen sie damit auch Brücken für Tiere, die dann eben auf hohe Feuchtigkeit angewiesen sind. Und deswegen muss man immer diese Netze betrachten. Es sind Ökosystemnetze, die müssen verbunden sein, sonst haben sie irgendwie eine Insel, die verarmt genetisch."
Das langfristige, internationale Ziel, Arten zu schützen und die wertvolle Artenvielfalt zu bewahren, das haben Wissenschaft und Politik mittlerweile formuliert, erzählt Glaubrecht.
"Es ist in den letzten Jahren mühsam gelungen, dass wir zum Beispiel 15 Prozent der Erde unter Schutz gestellt haben, also von der terrestrischen Oberfläche sind sieben Prozent im Bereich der Ozeane. Und da ist jetzt der Vorschlag: Das müssen wir verdoppeln. Es soll versucht werden, es international zu verankern, dass wir bis 2030 die Schutzfläche, also die unter Naturschutz gestellte Fläche möglichst naturbelassen auf 30 Prozent im terrestrischen Bereich verdoppeln wollen, 15 Prozent dann entsprechend in den Meeren."
Schutzgebiete müssen nicht zwangsläufig menschenleer sein
Es wäre ein gigantischer Sprung. Doch solche ambitionierten Ziele sind auch dringend nötig, wenn man neuesten Untersuchungen glaubt. Sie sagen: Es sind nur noch drei Prozent aller Ökosysteme intakt. Doch wo sollen diese neuen Schutzflächen entstehen? Viele der heutigen US-Nationalparks sind auf Land errichtet, aus dem die indigene Bevölkerung vertrieben wurde. Jetzt kommt es im brasilianischen Amazonas, in kanadischen Wäldern und im australischen Outback wieder zu Konflikten. Dort verteidigen Indigene ihre angestammten Rechte und wehren sich gegen Umsiedlungspläne – für manche überraschend: auch im Sinne des Naturschutzes. Denn auf ihrem Land finden sich oft mehr Arten als auf unbewohnten Nachbarparzellen.
In einer gemeinsamen Studie haben Geografen, Archäologen, Paläontologen und Ökologen den Einfluss des Menschen bis auf 12.000 Jahre zurückgerechnet. Der führende Autor ist Erle Ellis von der Universität Maryland: "Die Vorstellung, es sei unmöglich, dass Menschen in der Natur leben und die Artenvielfalt erhalten, ist falsch. Die Beweise sind eindeutig sowohl für die indigene als auch für die traditionelle Landnutzung, je nach Praxis natürlich: Es ist möglich, die Biodiversität zu erhalten."
Heute gelten noch 19 Prozent der globalen Landfläche als "wild". Die Berechnungen zeigen aber: Schon vor 12.000 Jahren waren es nur noch 28 Prozent - der Rest kultiviert, bejagt, bewohnt. "Das große Bild hinter der Transformation der Ökologie durch den Menschen ergibt sich durch seine veränderte Landnutzung. Nicht durch die Vorstellung von unberührter Wildnis, in die der Mensch erst vor kurzem vorgedrungen wäre und alles zerstört hat! Es liegt am Landnutzungsübergang in all den Gebieten, die zuvor schon bewohnt und bewirtschaftet waren. "
Für zukünftige Entscheidungen hat Ellis nun wichtige Handlungsempfehlungen. Erstens: Das Zusammenleben von Mensch und Natur ist prinzipiell möglich. Zweitens müssten indigene Kulturen deshalb auf ihrem Land weiterleben dürfen. Drittens: Die wichtigsten Schutzgebiete werden solche sein, die nicht menschenleer sind. Eine Wüste lässt sich leicht schützen, hat aber meist auch viel weniger Artenvielfalt.
Hauskatzen richten mehr Schaden an als Wölfe
Ein Leben mit der Natur ist ein Gedanke, den der moderne Mensch erstmal sacken lassen muss. In Deutschland dürften die Diiskussionen bald hitziger werden, da ist sich Matthias Glaubrecht sicher:
"Wir müssen tatsächlich auch mal wirklich die Fakten benennen. Und da sind doch nicht die 190 Wölfe unser Problem. Mein Problem sind die 13 Millionen Katzen, die richten nämlich in der Natur einen ungleich erheblichen Schaden an, und wir schaffen eine Populationsdichte an Räubern in Deutschland, die ist eklatant im Widerspruch zu den Schutzbemühungen und gerade in den Siedlungsrändern der Städte ist das ein ganz großes Problem. Aber darüber redet niemand."
Schätzungsweise fallen den Hauskatzen in Deutschland jährlich zwischen 30 und 200 Millionen Vögel zum Opfer. Die Artenvielfalt zu retten wird vor allem eines: unbequem. Auch deshalb, weil der Artenschutz mit vielfältigen Interessen kollidiert. Woher die Flächen nehmen? Bleiben dann genug Felder für die Landwirte? Rationaler Artenschutz konfrontiert uns nicht nur mit Bequemlichkeit und Ansprüchen, sondern überhaupt mit unserer Rolle in der Natur.
Was ist die Rolle des Menschen in der Natur?
"Wir haben im abendländischen Denken seit über zweitausend Jahren eigentlich diese Hybris, dass wir uns ja für Halbgötter halten. Gleichzeitig haben wir das Gefühl, wir können das technologisch alles bewerkstelligen. Und das müssen wir durch ein völlig anderes Naturverständnis ablösen und wir müssen erkennen, dass wir Teil dieser Natur sind, dass wir uns mit dieser Natur, in dieser Natur und uns nur in den Grenzen dieses Planeten bewegen können. Und ich glaube, dass sich das nicht bewusst zu machen, und in diesem alten Sonderstellungs-Narrativ zu verharren, das wird dann sein größter Irrtum und sein größter Fehler sein."
Zu den unbeliebten Vorschlägen zählen auch: keine Insektizide, weniger Fleischkonsum, weniger Konsum überhaupt, weniger Bevölkerungswachstum. Schnell ist die Rede von Verzicht. Von Ökodiktatur. Das hält Glaubrecht für Ausreden, für kontraproduktive dazu.
"Wir schränken also durch jetzigen Verzicht unsere Freiheiten nicht ein. Ganz im Gegenteil. Wir sichern uns in der Zukunft größere Freiheiten und Handlungsoptionen, wenn wir jetzt darüber nachdenken, was wir wirklich wollen. Und diese Diskussionen führen wir gerade nicht, wir führen sie gerade sehr oberflächlich in Verzicht. Das ist nicht wirklich die Diskussion, die wir führen sollten. Wir müssen anfangen gegenzusteuern. Und zwar nicht mit halbherzigen kleinen Schritten, sondern mit einem globalen Schlachtplan."
Nächste Kontroverse bei der Delfin-Zucht?
Für den Nürnberger Zoodirektor steht schon lange fest, dass wir radikaler handeln müssen. Encke steht in der Raubtierhalle, die man in die Felsen gehauen hat, und schaut für heute ein letztes Mal auf den Löwen Subali, seinen kleinen Coup. Vermutlich ist es nicht sein letzter. Bald könnte Encke auch Herr über die einzig verbliebene Delfinanlage in einem deutschen Zoo sein. Doch er ist sich sicher, dass der Trend sich wieder umkehrt. In Fachkreisen ist die Rede von sieben bedrohten Delfinarten, bei denen man jetzt eingreifen müsste, um ihr Aussterben zu verhindern.
Schon jetzt streitet Encke mit Tierschützern – denn außerhalb der Zoowelt unterstützen nur wenige die Nachzucht von Delfinen in Gefangenschaft. Und solche Pläne sind – weil es sich um Wildtiere handelt – dazu auch extrem riskant. "Ich muss, wenn ich mit einer Art neu anfange, mit einer hohen Mortalität rechnen. Das heißt, wenn ich zehn Tiere rausfange, muss ich damit rechnen, dass mir fünf sterben."
Und wenn es klappt, müsste er Nachkommen töten. Derzeit schwimmt im Nürnberger Becken kein Männchen, sonst würden die Zootiere sich schnell vermehren. Die überzähligen Delfine müsste man töten, rein rational. Einen Delfin zum Abschuss freigeben? Statt Subali, dem Löwen? Das hätte Dag Encke nicht überlebt – und meint damit wohl seine Stelle als Zoodirektor. Aber vielleicht meint er auch: Das kündigt er erst an, wenn die Gesellschaft so weit ist.