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Debatte um Englisch an Grundschulen
"Mehrsprachigkeit ist immer eine gute Idee"

Der Didaktik-Professor Jörg Keßler hat sich dagegen ausgesprochen, den Englischunterricht in der Grundschule zurückzufahren. Englisch ab der ersten Klasse schaffe ein natürliches Sprachbewusstsein und eine Basis, auf der man auch in der weiterführenden Schule gut aufbauen könne, sagte Keßler im Dlf.

Jörg Keßler im Gespräch mit Stephanie Gebert |
    Von Schülerinnen und Schülern einer Grundschule in Augsburg auf englisch gestaltete persönliche Heftchen hängen während des Unterrichtes in einem Klassenzimmer
    "Erstaunliches Repertoire": Fremdsprachendidaktiker Jörg Keßler ist für Englischunterricht an Grundschulen (dpa / Karl-Josef Hildenbrand)
    Stephanie Gebert: Englischunterricht ab der ersten Klasse - seit gut 15 Jahren lernen Kinder in Deutschland die erste Fremdsprache schon in der Grundschule. Aber genau dieses Modell bekommt gerade heftigen Gegenwind. In Baden-Württemberg ist es schon passiert, und die Regierung in Nordrhein-Westfalen denkt offenbar auch darüber nach, Englisch erst wieder in der dritten Klasse unterrichten zu lassen. Wichtiger sei es, so die Meinung, dass die Kinder das Wesentliche lernen, also Rechnen, Schreiben und Lesen. Der Integrationsrat in NRW bringt eine ganz andere Idee aufs Tableau: Er findet, dass es besser wäre, Türkisch oder Russisch zu lernen, weil das für viele Kinder mit Migrationshintergrund die wichtigere Sprache sei.
    Die Wissenschaft untersucht schon lange, was es tatsächlich bringt, wenn Kinder früh eine zweite Sprache lernen - das ist zum Beispiel Forschungsschwerpunkt von Jörg Keßler von der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg. Ich grüße Sie!
    Jörg Keßler: Guten Tag, Frau Gebert!
    Gebert: Kritiker sagen, es sei ein Mythos, dass das kindliche Hirn besonders früh besonders aufnahmefähig sei für Fremdsprachen. Was wissen wir darüber tatsächlich?
    Keßler: Das kindliche Hirn kann deutlich mehr, als viele Menschen glauben. Das kindliche Hirn ist ein plastisches Organ, was noch im Wachstum sich befindet, und je mehr es beansprucht wird, desto besser funktioniert es. Es gibt ja diesen alten Spruch, ein Hirn ist wie ein Fallschirm, es öffnet sich, wenn es benutzt wird - und das gilt für Kinder ganz besonders. Und gerade in Nordrhein-Westfalen hat man ja 2009 eine groß angelegte Studie durchgeführt, damals auch im Auftrag der Landesregierung, der schwarz-gelben Landesregierung, die Evening-Studie. Und man hat festgestellt, dass Kinder, damals ja am Ende der vierten Klasse, die zwei Jahre Englisch gelernt hatten, insbesondere im rezeptiven Bereich Hören, aber auch im monologischen und dialogischen Sprechen schon sehr weit sind, je nachdem, wie sie im Unterricht gefördert worden sind, und wenn sie nicht nur nachsprechen mussten, sondern eben auch selber Risiken eingehen durften und selber freie Sprachproduktion bilden konnten, dass sie da ein erstaunliches Repertoire an englischsprachigen Sätzen schon produzieren können.
    Vorteil für Kinder mit Migrationshintergrund
    Gebert: Und ist es dafür notwendig, dass ich erst mal eine Sprache richtig spreche, sagen wir die Muttersprache Deutsch?
    Keßler: Das ist eine wichtige Voraussetzung, dass man eine Sprache richtig spricht, ja. Aber das tun die Kinder in der Regel auch.
    Gebert: Das heißt, auch Kinder mit Migrationshintergrund bringen diese Kenntnisse mit - oder haben die dann Schwierigkeiten?
    Keßler: Kinder mit Migrationshintergrund sprechen, wenn wir jetzt in sozial ausgewogenen Familienverhältnissen sind, auf jeden Fall eine Sprache auch richtig. Das ist nicht unbedingt Deutsch, das ist dann vielleicht eine andere Muttersprache, aber von daher haben sie da die gleichen guten Lernvoraussetzungen wie monolingual Deutsch sprechende Kinder.
    Und im Grundschul-Englischunterricht haben sie sogar vielleicht den Vorteil, dass sie aufgrund ihrer Mehrsprachigkeit auch schon andere Sprachlernerfahrungen sammeln konnten und auf jeden Fall mindestens auf dem gleichen Stand starten wie ihre monolingual deutschen Klassenkameraden.
    "Wichtige Möglichkeit, Sprache zu entwickeln"
    Gebert: Warum wird von vielen Ihrer Kollegen aus der Didaktik es als Rückschritt, tatsächlicher Rückschritt angesehen und davor gewarnt, wenn wir das Englische wieder zurückschrauben. Was verlieren wir, wenn wir Englisch streichen aus dem Stundenplan einer Grundschule?
    Keßler: Wir verlieren erst einmal einen wichtigen Sprachunterricht oder eine wichtige Möglichkeit, eine Sprache zu entwickeln. Wir verlieren Kontaktzeit mit der Sprache - wenn man erst später anfängt, dann hat man halt weniger Zeit. Man kann natürlich später anfangen und das auch mit mehr Stunden dann machen, dann hat man aber auch nichts gewonnen im Sinne von … Also, man möchte ja jetzt offensichtlich in Nordrhein-Westfalen, wie das in Baden-Württemberg auch der Fall war, die Stunden nutzen, um dann eher Deutsch und Mathe zu unterrichten. Und hier vergleichen wir ein bisschen Äpfel mit Birnen. Man verliert eben für den Fremdsprachenunterricht die Möglichkeit, die Chance, Kinder, die noch sehr unbefangen mit Sprache umgehen, die experimentell sind und keine Angst haben vor Fehlern, an die Sprache heranzuführen. Wenn man in der ersten Klasse anfängt - oder besser vielleicht sogar noch im Kindergarten -, dann schafft man eben in einer natürlichen Weise ein Sprachbewusstsein und eine Basis, auf der man dann in er dritten Klasse oder später in der weiterführenden Schule gut aufbauen kann.
    Gebert: Wie erklären Sie sich dann Studien aus Bochum, die gezeigt haben, dass Frühstarter zwar in der fünften Klasse besser waren, in der siebten aber die gleichen Ergebnisse hatten wie die, die erst in der dritten Klasse mit Englisch angefangen haben. Wie passt das?
    Keßler: Die Studie, das ist die von Herrn Jäkel und Herrn Ritter, die hat untersucht, was eben in diesem Verlauf in der Sekundarstufe passiert, die erklärt aus meiner Sicht aber nicht, was in der Grundschule passiert ist. Das heißt, man müsste dann eher überdenken, wie der Sekundarstufenunterricht so gestaltet werden kann, dass die Anlagen, die die Kinder aus der Grundschule mitbringen, dann auch gewürdigt werden, und auch darauf die Sekundarstufe so aufbaut, dass sie dann eben nicht wieder bei Null anfangen. Kinder, die aus der Grundschule kommen, natürlich in eine fünfte Klasse, die aus verschiedenen Grundschulen heterogen zusammengesetzt ist, und dann aber von Englischlehrkräften unterrichtet werden, so wie sie das gewöhnt waren, als es noch kein Englisch in der Grundschule gab, die werden nicht das Potenzial von den Kindern nutzen können.
    Gebert: Das heißt, die werden nicht dort abgeholt, wo sie schon sind?
    Keßler: Genau!
    Weitere Fremdsprachen in anderen Fächern einfließen lassen
    Gebert: Jetzt ist Deutschland ja ein Einwanderungsland, und da kann man auch mal darüber sprechen, ob es richtig ist, erst Englisch zu lernen oder nicht doch vielleicht lieber Türkisch oder Polnisch, wie wir das vom Integrationsrat in NRW jetzt gehört haben, ein Background vieler Schülerinnen an unserer Grundschule immerhin.
    Keßler: Das ist ein spannendes Unterfangen. Mehrsprachigkeit ist sicherlich immer eine gute Idee. Ob man jetzt aber hingehen sollte und sagen sollte, weil ein Großteil der Kinder mit Migrationshintergrund eben Türkisch zu Hause spricht, dieses jetzt als verpflichtende Fremdsprache in die Grundschule zu bringen, halte ich für fragwürdig. Erstens fängt man wieder an, ein Unterrichtskonzept zu basteln, ohne ausgebildete Lehrkräfte dafür zu haben.
    Und zum anderen ist es eben so, Englisch ist als Lingua franca, als Sprache, die eben weltweit gesprochen wird, die Sprache, die, wenn man einmal damit anfängt, Ihnen hilft, sich da relativ weit zu entwickeln. Und das heißt nicht, dass man nicht andere Sprachen auch würdigen sollte. Ich denke, das wäre eher wichtig, dann die Sprache in anderen Kontexten, im Englischunterricht, im Deutschunterricht, im Sachunterricht, wo auch immer, mit einfließen zu lassen, aber nicht unbedingt von nicht ausgebildeten Lehrkräften dann jetzt ein türkischsprachiges Konzept für alle Kinder zu entwickeln.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.