Am Telefon begrüße ich jetzt einen erfahrenen Europäer, lange Jahre Präsident des EU-Parlaments und ehemals SPD-Vorsitzender. Guten Morgen, Martin Schulz!
Martin Schulz: Guten Morgen, Herr Heinlein!
Stefan Heinlein: Kommt beim Brexit tatsächlich das gute Ende ganz zum Schluss?
Schulz: Tja. Ich war gestern in Brüssel, habe mit vielen Leuten reden können, die an den Verhandlungen teilnehmen, und ich war, das will ich hier offen bekennen, bestürzt über die Skepsis, die da herrscht. Weil das eigentliche Problem ja darin liegt, dass Theresa May vorschlagen kann, was sie will - und ich nehme der Frau May ja ab, dass sie wirklich konstruktiv handeln will -, sie hat für keinen einzigen ihrer Vorschläge eine Mehrheit im Unterhaus. Was auch immer sie vorschlägt, es bildet sich immer irgendeine Allianz, die dagegen ist, und das, glaube ich, macht allen das Leben sehr schwer.
Sie ist ja mit nichts gekommen, ist auch mit nichts weggefahren, weil sie nichts anbieten konnte. Man wird jetzt sehen müssen, ob die Vorschläge von Jeremy Corbyn eine Brücke bauen können im Unterhaus für eine parteiübergreifende Mehrheit. Aber das wird man sehen. Aus jetziger Sicht wage ich jedenfalls keine Prognose.
Heinlein: Kämpft Theresa May eine Schlacht, die sie letztendlich nicht mehr gewinnen kann, weil sie eben, das haben Sie auch gerade gesagt, an zwei Fronten kämpfen muss, in Brüssel und eben auch zu Hause in London?
Das Problem liegt im britischen Unterhaus
Schulz: Ich glaube, in Brüssel muss sie gar nicht kämpfen. Die Bemerkungen, die Sie zitiert haben, also auch die, die die Bundeskanzlerin beim Besuch der Visegrád-Staaten hat fallen lassen, zeigt ja - das habe ich auch in meinem Gespräch mit Jean-Claude Junker gehört gestern, dass die Bewegungsmöglichkeiten zwar begrenzt, aber nach wie vor der Wille dazu vorhanden ist. Nehmen Sie Tusk, der Ratspräsident, hat gestern gesagt, die Corbyn-Vorschläge könnten ja ein Weg sein, wie man einen Kompromiss findet.
Das Problem liegt nach meinem Dafürhalten nicht bei den anderen 27 Mitgliedsstaaten, sondern es liegt in einer sehr unseligen, ausschließlich parteitaktisch geprägten Vorgehensweise der Fraktionen im Unterhaus. Und das macht es für May, aber das macht es ja für den ganzen Kontinent geradezu unerträglich. Sehen Sie sich an, was da abläuft. Da gibt es ja viele Vorschläge, die auf dem Tisch liegen, die sofort von allen anderen Mitgliedsstaaten der EU akzeptiert würden. Aber sie finden einfach keine Mehrheit, weil insbesondere in der konservativen Partei, bei den Tories, die radikalen Brexiteers zwei Dinge wollen: Raus aus der EU, weg mit Theresa May. Alles andere interessiert die nicht.
Lob für die Vorschläge von Jeremy Corbyn
Heinlein: Und in diesem Zusammenhang, Herr Schulz, hat ja EU-Ratschef Donald Tusk den planlosen Brexit-Befürwortern auf der Insel einen "besonderen Platz in der Hölle" gewünscht. Haben Sie als überzeugter Europäer ähnliche Wunschvorstellungen, Herr Schulz?
Schulz: Ganz sicher nicht. Ich glaube, man kann auch nicht von Himmel und Hölle reden, sondern wir müssen über die pragmatischen Notwendigkeiten auf dieser Erde reden. Und die würden, glaube ich, uns alle in eine richtige Richtung bringen, wenn die Kompromissbereitschaft in London steigen würde. Deshalb habe ich diese Vorschläge von Jeremy Corbyn, die natürlich auch sehr spät kommen, das muss man schon zugeben, mit großer Aufmerksamkeit gelesen. Sie könnten, glaube ich, für eine ganze Reihe von Mitgliedsstaaten oder fast für alle Mitgliedsstaaten sicher ein Weg sein, wie man Großbritannien entgegenkommen kann.
Und möglicherweise ist das jetzt – das sagte ja auch Ihr Korrespondent in der Anmoderation –, zum ersten Mal liegt auf dem Tisch in London ein Papier, das tatsächlich zu einer parteiübergreifenden Koalition führen könnte. Für Großbritannien ist das ein sehr ungewöhnliches Vorgehen, das nur in äußerst dramatischen Lagen in der Geschichte des Landes erfolgt ist. Aber ich glaube, die Lage ist auch so dramatisch. Deshalb könnte es sein, dass man sich vielleicht darauf tatsächlich einigt.
Heinlein: Warum ist die Sache eigentlich nicht ganz einfach? Warum gibt man London nicht eine Garantie, nicht ewig in der EU-Zollunion gefangen zu sein? Denn darum geht ja letztendlich der Streit, darum geht es Theresa May und dem Parlament.
Schulz: Das führt unweigerlich zu einer Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland. Eine Grenze, an der wieder kontrolliert wird, die eine Außengrenze der EU zu einem Drittstaat darstellt. Denken Sie vor drei Wochen an den Bombenanschlag in Belfast: Zum ersten Mal in Jahrzehnten kommt in Irland, auf der Insel, zwischen Nordirland und Irland wieder ein Spannungsmoment auf, der auch wieder in Gewalt umschlagen kann. Es gibt ganz viele Menschen, die davor große Angst haben. Vor allen Dingen einer, der Ministerpräsident von Irland, Varadkar, der vorgestern in Brüssel war und ziemlich genau erklärt hat, das genau ist mit meinem Land jedenfalls nicht zu machen.
Deshalb hat Theresa May ja, als man diesen Backstop in den jetzt vorliegenden Vertragsentwurf gebracht hat, gesagt: "That is the best possible Deal." Das ist ja sie, die gesagt hat, das ist die bestmögliche Lösung. Und genau diese bestmögliche Lösung soll jetzt wieder in Frage gestellt werden. Das macht zumindest die Regierung in Dublin, aber auch viele andere Regierungen in der EU nicht mit. Das ist nicht die Lösung.
"Die Schuld liegt bei Fanatikern à la Boris Johnson"
Heinlein: Irland, Herr Schulz, ist sicherlich das eine Motiv in Brüssel. Aber es drängt sich bei manchen auch der Verdacht auf, dass die Europäische Union an Großbritannien durchaus ein Exempel statuieren will. Wer also raus will aus Brüssel, dem wird das Leben besonders schwer gemacht, damit eben andere nicht auf ähnliche Gedanken kommen. Ist dieser Verdacht völlig absurd?
Schulz: Das ist die Argumentation der radikalen Brexiteers. Die wollen uns jetzt quälen, weil wir raus wollen. Das höre ich ja immer und immer wieder, kann ich auch nachvollziehen. Aber es wird kein Exempel statuiert. Ich will noch mal genau an Folgendes erinnern: Merkel hat gestern die Staaten getroffen, die Visegrád-Staaten, also Polen, die Tschechische Republik, Ungarn, die Slowakei. Staaten, die traditionell sehr nahe bei Großbritannien waren, die immer der britischen Linie sehr nahe standen. Auch diese Staaten, die sich als die Anwälte genau der Briten in diesem Austrittsprozess verstanden haben, haben - Polen zum Beispiel - dem Vertrag zugestimmt. Es war ja ein einstimmiger Beschluss von 27 Regierungen. Und man ist den Briten extrem weit entgegengekommen.
Deshalb hat Theresa May ja auch gesagt, das ist ein sehr guter Vertrag. Ich gehe damit nach Hause und kämpfe dafür. Und die Brexiteers, also die Brexit-Befürworter haben eher - ich sag das mal ganz platt – gesagt: Du kannst kommen, womit du willst, wir lehnen es ab. Wir wollen den harten Brexit. Die Schuld liegt hier wirklich nicht bei der EU. Die hat sich sehr bewegt. Die Schuld liegt bei Fanatikern à la Boris Johnson, denen es ja nicht um die EU oder Großbritannien, sondern um ihre Machtspiele in der Tory-Partei geht. Und das sind in meinen Augen schändliche Leute.
"Die Reaktion in Paris hat mich sehr besorgt gemacht"
Heinlein: Herr Schulz, Frage noch zu einem anderen europäischen Thema des heutigen Tages. Frankreich hat ja angekündigt, in Brüssel heute für eine Überarbeitung der EU-Gasrichtlinie zu stimmen. Das gefährdet zumindest die deutsch-russische Pipeline Nord Stream 2, ein Projekt, an dem die Bundesregierung sehr hängt. Wie beurteilen Sie diesen Schritt der Franzosen?
Schulz: Das ist ein sehr besorgniserregender Vorgang. Ich glaube, dass sich das regeln wird. Ich glaube, dass man mit Frankreich über diese Haltung zu Nord Stream 2 reden kann, auch reden wird. Aber offen gestanden, die Reaktion in Paris hat mich sehr besorgt gemacht. Weil sie zeigt, dass die Geduld der französischen Regierung, der ja aus Berlin jetzt seit Jahren für jeden französischen Vorschlag im Inneren der EU die kalte Schulter gezeigt wird, dass die Geduld in Paris jetzt irgendwann auch zu Ende ist. Macron hat seit anderthalb Jahren viele Vorschläge gemacht. Wir haben im Koalitionsvertrag dieser Regierung die Vorschläge aufgenommen, und die Bundesregierung kommt den Franzosen in vielen Punkten überhaupt nicht entgegen. Und irgendwann führt das zu Reaktionen.
Deshalb, ich halte diese Entscheidung in Paris für falsch, weil sie ist ein Einknicken auch gegenüber den USA. Aber sie ist auch ein Alarmzeichen für uns alle. Denn wenn Deutschland-Frankreich nicht funktioniert, dann können wir Europa abschreiben. Deshalb hoffe ich, dass da mit den Franzosen geredet werden kann, aber letztendlich auch über alles geredet wird - auch über ein Eurozonenbudget, über eine Reform der EU, über eine Investitionspolitik in der EU. Über die Steuerpolitik, dass die Großkonzerne in Europa endlich, die amerikanischen multinationalen Internetplattformen, Steuern zahlen. Ein Projekt, das Macron seit Jahren vorantreibt. Also, man muss die Dinge miteinander verknüpft sehen.
Eine ernsthafte Bedrohung für das deutsch-französische Verhältnis
Heinlein: Und in diesem Zusammenhang noch die Frage, Herr Schulz, ist diese Entscheidung der Franzosen tatsächlich nur ein Warnsignal, oder ist das eine ernsthafte Bedrohung dauerhaft für das deutsch-französische Verhältnis?
Schulz: Es ist eine ernsthafte Bedrohung, ja, das glaube ich schon, das muss man so sehen. Aber ich halte es für beherrschbar. Es ist schon so, dass so etwas auch im Rahmen von Diskussionen der Verknüpfung verschiedener Projekte miteinander lösbar ist. Denn auch die französische Regierung in Paris weiß, dass sie umgekehrt für ihre Projekte Deutschland braucht. Es macht ja keinen Sinn, in Aachen schöne Verträge zu unterschreiben und sich anschließend gegenseitig zu schaden. Deshalb gehe ich davon aus, dass dieses Problem beherrschbar sein wird und lösbar sein wird.
Diese Abstimmung ist nicht eine Abstimmung über das Projekt selbst, sondern über einen kleinen Detailschritt im Projekt, der große Auswirkungen haben kann. Aber da ist das letzte Wort nach meiner Einschätzung noch nicht gesprochen. Es hat aber keinen Zweck, das muss man auch Macron sagen, vor Donald Trump und seinen Erpressungsversuchen Europa gegenüber einzuknicken.
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