Wenn die Politik sich weiterentwickle, müssten sich auch Institutionen weiterentwickeln, so Herbert Reul (CDU). In der Diskussion, ob die Kommission in ihren Kompetenzen eingeschränkt werden muss, gehe es um "wirklich wichtige Fragen, die nicht erst seit heute diskutiert werden". Reul nannte vor allem die Kontrolle des Wettbewerbs sowie die Einhaltung der Staatsschulden von beispielsweise Frankreich und Griechenland.
Wenn keine Kontrolle stattfinde, dürfe man "sich nicht aufregen, dass Mitgliedsstaaten sich nicht daran halten". Er erinnerte an Jean-Claude Trichet, den ehemaligen EZB-Chef, der früh einen europäischen Finanzminister unabhängig von der Kommission gefordert habe.
Vertragsveränderungen mit hoher Schwelle
Die Griechenlandkrise und der drohende Ausstieg Großbritanniens aus der EU würden verlangen, dass die Debatte nicht im Sande verlaufe und man sich darüber verständige. "Was dagegen spricht, ist die schwierige Konsensfindung", sagte Reul, gerade was Vertragsveränderungen betreffe.
Wenn man Europa effektiver machen und gleichzeitig die Briten ins Boot holen könne, wäre das eine "Win-Win-Situation", so Herbert Reul.
Das Interview in voller Länge:
Bettina Klein: "Schäuble will die EU-Kommission entmachten", so fasste es die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" gestern in ihrer Überschrift zusammen, und diese Beschreibung wurde sogleich vom Bundesfinanzministerium zurückgewiesen. Das richtete sich aber vor allen Dingen gegen das Wort "entmachten", denn in der Sache selbst wurde nicht allzu viel dementiert. Da die Kommission sich immer mehr politisch einmischt und wie eine Art Pseudoregierung agiert, so das Argument, sollte sie nach Meinung des Bundesfinanzministers andere Aufgaben abgeben, wie das Einhalten der Verträge zu überwachen. Gewaltenteilung lässt grüßen. Am Telefon ist jetzt Herbert Reul, er ist Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament. Guten Morgen, Herr Reul!
Herbert Reul: Guten Morgen, Frau Klein!
Klein: Muss man das so interpretieren, die ganze Geschichte, da ist immer noch gehörig Verstimmung über einen Jean-Claude Juncker, der mehr oder weniger an der Eurogruppe vorbei selbstständig mit der griechischen Regierung seinerzeit verhandelt hat? Ist das der wahre Hintergrund?
Reul: Das glaube ich überhaupt nicht. Aber das ist die leichte Erklärung, das ist die, die man öffentlichkeitswirksam vertreten kann. Es geht um wirklich wichtige Fragen, die übrigens auch nicht erst seit heute diskutiert werden. Die Frage, ob der Wettbewerbskommissar nicht eine unabhängige Behörde wie eine Kartellbehörde in Deutschland sein muss - die Debatte habe ich vor ein paar Jahren schon mal geführt, das heißt, die ist gar nicht neu. Dahinter steckt einfach der Gedanke, ist eine solche Institution, die unabhängig kontrollieren muss, ob gegen Wettbewerbsrecht verstoßen wird, ist die nicht besser auch eine eigene Behörde, wie wir das in Deutschland kennen, und nicht Teil der Regierung.
"Eine unabhängige Behörde wäre klug"
Klein: Ja, also diskutiert wird darüber offensichtlich seit Jahren. Aber jetzt will man offensichtlich wirklich ernst machen, und man fragt sich, was ist der Anlass dafür, warum eigentlich jetzt?
Reul: Weil wir jetzt alle merken, dass die Probleme, die zu entscheiden sind, immer ernster werden. Also Europa am Beginn war ein Europa, wo solche Entscheidungen kaum anstanden. Die stehen aber jetzt - gucken Sie mal die Wettbewerbsbehörde an - ständig an. In Ihrem Beitrag wurde ja hingewiesen auf die Frage der Steuerbevorteilung von einzelnen Mitgliedsstaaten. Es wäre klug, das wäre eine unabhängige Behörde. Oder die Frage, wie halten eigentlich die Mitgliedsstaaten die Absprachen ein, wenn es um die Frage geht, Staatsverschuldung. Da haben wir gerade in diesen Tagen mal wieder gelernt, als im Durcheinander der ganzen Griechenland-Debatte Frankreich mit seinem Nichteinhalten der Schuldengrenzen durchrutschte, dass das offensichtlich nicht ernsthaft genug betrieben wird. Wir können uns nicht darüber aufregen, dass Mitgliedsstaaten sich nicht an die Regeln halten, wenn keine Behörde da ist, die richtig ernsthaft, unabhängig von jedem Einfluss, sich dann auch einmischt.
Klein: Aber Herr Reul, das Ganze wird ja schon so auch begründet, dass es eine Art Gewaltenteilung eben geben muss, weil die EU-Kommission neuerdings eben immer stärker sich politisch einmische, also wie eine Regierung agiere, und dann nicht gleichzeitig eben auch die Hüterin der Verträge sein kann. Also es hängt ja offenbar doch mit den jüngsten Entwicklungen rund um Griechenland zusammen.
Reul: Nein, nicht nur um Griechenland, sondern generell. Jean-Claude Juncker ist ins Amt gekommen und hat gesagt, wir wollen eine politische Kommission sein. Übrigens habe ich keinen gehört, der da widerspricht. Wenn sie eine politische Kommission sein will und sein muss - da bin ich sehr mit einverstanden, dann drängen sich die anderen Fragen erst auf, ob man dann nicht mehr Unabhängigkeit braucht in der Frage der, ich sage es mal salopp, Kontrolle.
Klein: Das heißt, Sie sagen, alle waren damit einverstanden, dass Juncker das zu einer politischen Kommission umgestalten wollte. Das heißt, es gibt überhaupt keinen Unmut hinter den Kulissen, auch in der Union nicht, über das, was wir da erlebt haben vonseiten Junckers?
Reul: Das ist wieder was anderes. Ob es eine Frage gibt, ob das was Jean-Claude Juncker macht, immer alles richtig oder nicht richtig ist. Ich habe eben ein Beispiel genannt, Frankreich: Die Kontrolle der Schuldensituation in Frankreich, finde ich, wird von der Kommission nicht ordnungsgemäß gemacht, die wird lasch gehandhabt, da lässt man was durchlaufen. Also es muss ja möglich sein, solche Sachverhalte auch noch zu kritisieren, ohne daraus erstens generell eine Debatte zu machen, Juncker ja oder nein, oder Kommission entmachten, ja oder nein. Und darum geht es mir eigentlich. Ich bin sofort dabei und sage Ihnen, ich fand das Verhalten der Kommission in den genannten Fällen nicht optimal.
Schon Trichet wollte einen europäischen Finanzminister
Klein: Aber der Eindruck ist schon entstanden, Herr Reul, um noch ganz kurz dabei zu bleiben, es habe Unmut darüber gegeben, dass eben Jean-Claude Juncker hinter den Kulissen, an den Euro-Finanzministern vorbei die griechische Seite gestärkt habe, in einer Art und Weise dann eben auch in die Verhandlungen eingegriffen hat, die nicht durch irgendein Mandat gedeckt ist.
Reul: Das stimmt ja auch. Das ist ja unstrittig. Die Frage ist nur, wenn man will, dass die Kommission politischer wird, da habe ich kein Problem mit, dann muss man aber die andere Aufgabe neu definieren, oder umgekehrt. Man kann es nicht einfach so weiterlaufen lassen, wenn sich europäische Institutionen, europäische Politik immer weiterentwickelt, müssen sich auch die Institutionen weiterentwickeln. Und darüber wird jetzt zum wiederholten Male, da haben Sie recht, diskutiert. Und wenn daraus Konsequenzen gezogen würden und der Apparat effektiver würde, das würde zum Vorteil aller sein.
Klein: Man könnte natürlich auch sagen, wir lassen alles so, wie es ist, die EU-Kommission übernimmt weiterhin die Aufgaben, die sie schön bisher in den vergangenen Jahren übernommen hat, und lassen es eben dabei und gestalten sie eben nicht in eine EU-Regierung um. Weshalb macht man das nicht?
Reul: Weil wir gelernt haben - ich zumindest sehe das so - dass offensichtlich diese Kontrollfunktion eines unabhängigen Wettbewerbshüters - im Großen und Ganzen klappt es trotzdem, jedes Mal gibt es wieder eine neue Debatte darüber, ob man da nicht den einen oder anderen bevorteilt und ob der Wettbewerbskommissar, die jetzige zum Beispiel - mit wie vielen Vorwürfen hat sie sich auseinandersetzen müssen in der Frage der Steuerbevorteilung. Wobei ich glaube, sie macht es ordentlich, weil es einfach eine sehr qualifizierte Frau ist. Und in der Frage der Überwachung der Staatsschulden? Ich meine, das wissen wir nicht erst seit Griechenland, dass das offensichtlich nicht so gut funktioniert. Und wenn etwas nicht super funktioniert, es aber ein elementarer Punkt des Zusammenspiels Europas ist und man Europa stärker machen will, man mehr Europa will, ja, dann muss man da auch Kompetenzen hin geben, auch Eingriffsmöglichkeiten. Jean-Claude Trichet hat mal, das ist auch viele Jahre her, hat den europäischen Finanzminister gefordert. Das war im Grunde auch so eine Chiffre für diese Idee, da muss jemand her, der unabhängig sich einmischen kann, aber der auch politisch nicht gesteuert werden kann von irgendjemandem.
Fakten zwingen zum Handeln
Klein: Lassen Sie uns das noch mal einordnen, Herr Reul. Haben wir es hier zu tun auch mit einer Debatte, die - ich will nicht sagen, wir haben eine nachrichtenarme Zeit - aber die vielleicht auch wegen der Jahreszeit jetzt besonders viel Gewicht bekommt? Wird das wieder im Sande verlaufen? Oder mit welchen konkreten Schritten in diese von Schäuble angedachte Richtung haben wir denn da zu rechnen?
Reul: Also ich glaube, dass das nicht im Sande verlaufen wird, weil die Fakten einfach dazu zwingen, dass wir die Sache nicht einfach laufen lassen können. Und zweitens, die Ereignisse, erstens Griechenland, aber zweitens Großbritannien, vor der Tür stehen oder im Prozess sind, die ja auch verlangen, dass wir uns darüber verständigen. Das Einzige, was dagegen spricht, dass es Veränderungen gibt, ist die Schwierigkeit, in dieser angespannten Zeit zu einem Konsens zu kommen, um rechtliche Änderungen hinzubekommen, einfach die Mehrheiten hinzubekommen.
Klein: Und die Frage ist ja auch, wenn wir die EU-Kommission uns als eine künftige europäische Regierung vorstellen, was ist denn mit dem bisherigen Rat, mit den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union? In welchem Verhältnis stehen die denn dazu?
Reul: Ja, natürlich. Die eine Frage hängt mit der anderen zusammen, und den Prozess der - wie soll sich das weiterentwickeln hat Jean-Claude Juncker mit seinem Fünf-Präsidentenbericht ja selber auch angestoßen. Das heißt, da wird ja an mehreren Stellen Unterschiedliches gedacht. Aber darüber muss man nicht nur weiter nachdenken, sondern das muss auch zu Ergebnissen führen. Das ist verdammt schwer, weil das eben Vertragsänderungen möglicherweise bedeutet, und jeder weiß, in dieser angespannten europäischen Lage Vertragsänderungen, das ist ein außerordentlich kompliziertes Projekt. Aber wenn wir wollen, dass Europa funktioniert, dann darf doch das nicht davon abhalten, darüber nachzudenken und zu überlegen, gibt es einen Weg?
Klein: Und das Ziel, um das noch mal abschließend zu erfragen, Herr Reul, ist auch, Großbritannien an der Stelle mit ins Boot zu holen vor dem Hintergrund des bevorstehenden Referendums dort, oder wie verstehen wir das?
Reul: Das wäre zumindest nicht dumm. Wenn das eine, wir machen Europa effektiver, wirkungsvoller, schlagkräftiger und damit auch akzeptierter bei der Bevölkerung, zusammenkommt mit, ich sage mal, dass die Briten sagen, ja, so können wir uns Europa vorstellen, dann kann ich nur sagen, wäre das doch eine Win-win-Situation, wie man so schön sagt.
Klein: Der CDU-Europapolitiker Herbert Reul heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk mit seiner Einschätzung zur aktuellen Diskussion über die Reformen der EU-Kommission. Danke Ihnen, Herr Reul, für das Interview!
Reul: Ganz herzlichen Dank! Schönen Tag!
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