Christiane Knoll: "Die Dosis macht das Gift." Kennt jeder: Stammt von Paracelsus und ist auch dem Laien weitgehend vertraut. Deshalb klingt auch dieser Satz plausibel: Jedes Gift, auch das stärkste, kennt einen Schwellenwert. So stand er diese Woche in einem offenen Brief von 100 Lungenfachärzten - und doch ist er falsch. Hätten Sie's gewusst?
Eine kleine Gruppe von Experten um den emeritierten Professor Dieter Köhler wirft der WHO mangelnde Sachkenntnis vor, die Grenzwerte für Stickoxide und Feinstaub sollten neu ermittelt werden, heißt es. Seitdem hagelt es in allen Medien Informationen, wie die geltenden Grenzwerte zustande kamen. Nur, wie soll man die als Laie verstehen? Vielleicht hilft es, sich dem Fall aus anderer Perspektive zu nähern. Vor der Sendung habe ich mit Mike Schäfer, Professor für Wissenschaftskommunikation telefoniert, der in dem Fall ein Muster erkennt.
Mike Schäfer: Das Besondere an der Debatte sind, glaube ich, zwei Punkte: Der eine ist zunächst einmal, dass es eine Debatte ist, die für viele Menschen lebensweltfern ist und über etwas sehr Abstraktes geführt wird, das ihnen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern rekonstruiert werden muss. Feinstaub ist nicht so einfach zu sehen, das ist etwas, was man tatsächlich mit wissenschaftlichen Studien belegen muss, deren Problematik man mit wissenschaftlichen Studien erhärten muss, die dann zeigen, aha, das hat negative Auswirkungen auf Gesundheit oder auf Lebenserwartung. Das ist etwas, wo gewissermaßen die Öffentlichkeit auf wissenschaftliche Expertise, auf wissenschaftliche Diagnosen angewiesen ist. Das ist das eine Spezifikum.
Das zweite Spezifikum ist, dass die wissenschaftliche Expertise hier recht asymmetrisch verteilt ist, die sich in der Debatte gegenübersteht, die aktuell geführt wird. Auf der einen Seite hat man die WHO, also die globale Weltgesundheitsorganisation, die schon seit den 1950ern Berichte über Luftqualität vorlegt, die Metastudien macht, das heißt, die wissenschaftliche Forschung aus ganz unterschiedlichen Feldern zusammenträgt, versucht zu bewerten, versucht, daraus den wissenschaftlichen Sachstand zu rekonstruieren und daraus dann Empfehlungen über Grenzwerte abzuleiten. Denen gegenüber stehen jetzt mit dem Brief rund um Dieter Köhler, der ein Lungenarzt ist und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie war, um den herum haben 111 Wissenschaftler jetzt einen Brief unterschrieben, in dem sie gesagt haben, wir müssen diese WHO-Grenzwerte und im Prinzip den gesamten Prozess dieser Metaanalysen, die die WHO macht, wir müssen uns den noch mal anschauen. Aber die stehen natürlich jetzt einer sehr etablierten starken Institution gegenüber. Man hat es mit einer asymmetrischen Debatte zu tun.
"Die Öffentlichkeit ist darauf angewiesen, der Wissenschaft zu vertrauen"
Knoll: Sie stehen einer großen Instanz gegenüber und legen andererseits auch gar keine Belege für Ihre These vor. Was denken Sie: Wird das denn Spuren in der Öffentlichkeit hinterlassen, wird das eine Vertrauenskrise, was diese Grenzwerte angeht, auslösen?
Schäfer: Das ist möglich. Das ist in der Tat so, dass die Öffentlichkeit bei diesen komplexen Themen, die lebensweltlich praktisch nicht zu überprüfen sind für sie, darauf angewiesen sind, der Wissenschaft zu vertrauen, und dann ist natürlich sofort die Folgefrage, welcher Wissenschaft vertraut man denn. Hier stehen sich ja nicht mal nur die beiden Parteien gegenüber, die schon erwähnt worden sind, nämlich die WHO und die Kritiker rund um Dieter Köhler, die sagen, die Grenzwerte müssen vielleicht niedriger sein.
Es gibt ja auch noch Wissenschaftler, die sich seitdem zu Wort gemeldet haben, die gesagt haben, wir stimmen auch nicht mit der WHO überein, aber aus der anderen Richtung, wir finden die Grenzwerte sollten höher sein. In so einer Situation ist es für viele Menschen schwierig zu entscheiden, was sie für richtig halten. Häufig greifen Menschen dann auf Werte zurück, die gar nicht unbedingt unmittelbar etwas mit dem Wissen, das sie über diese Themen haben, zu tun haben, sondern sie fußen ihr Vertrauen dann entweder auf sowas wie ein allgemeines Renommee bestimmter Organisationen oder bestimmter Personen.
Aber wenn man weiß, dass das gerade ja auch angekoppelt ist an die Debatte um Fahrverbote für Diesel-Fahrzeuge, an die Debatte über Grenzwerte allgemein und über die Frage, sind die deutschen und die europäischen Grenzwerte nicht zu niedrig, in anderen Ländern sind die doch höher und so weiter, dann kann man sich auch vorstellen, dass politische Akteure das natürlich für sich zu nutzen versuchen und dass auch dieses Vertrauen dann in die eine oder andere Seite der Debatte beeinflusst.
"Man muss die Fahrverbote mitverhandeln"
Knoll: Kann die Wissenschaft etwas dagegen unternehmen? Hat sie Fehler gemacht vielleicht in den letzten Tagen?
Schäfer: Ich glaube nicht, dass es so einfach ist zu sagen, da hat die eine oder andere Seite Fehler gemacht. Also die Kritiker gewissermaßen der WHO haben einen guten Moment abgewartet, kann man sagen, um strategisch ihre Kritik vorzubringen, nämlich einen Moment, in dem man ein umstrittenes politisches Thema mitverhandeln muss, nämlich diese Fahrverbote, die ja kontrovers sind - auch ein Moment, in dem auf europäischer Ebene ja schon eine Diskussion stattfindet um die Neujustierung der Grenzwerte. Das heißt, von der Seite ist es strategisch sicherlich ein guter Moment, um mit dieser Kritik zu kommen.
Von der anderen Seite, von Seiten der Weltgesundheitsorganisation ist es tatsächlich schwierig, sich adäquat auf so etwas vorzubereiten, weil man hier letztlich auf den wissenschaftlichen Sachstand angewiesen ist, weil das eine wissenschaftliche Debatte ist, weil sie jetzt letztlich bei der Lösung dieser Frage um Themen gehen wird wie: Wie sieht denn die Methodik eurer Metaanalysen aus, ist das denn richtig, habt ihr hier die Befunde richtig interpretiert, habt ihr vielleicht die Studie, die ihr einbezogen habt in diese Metaanalysen, richtig ausgewählt. Das sind aber Fragen, die gewissermaßen für die WHO ganz wichtig sind und die für eine wissenschaftliche Analyse ganz wichtig sind, die aber in der öffentlichen Debatte nur begrenzt verhandelbar sind.
Wissenschaft ist anfällig für diese Art von Kritik. Für Akteure, die ein politisches Interesse haben, kommt die Initiative um Dieter Köhler genau zum richtigen Zeitpunkt, wie schon gesagt. In der Klimadebatte nutzen auch politische Akteure widersprechende Stimmen, zum Thema Klimawandel gibt es [unverständliche Worte, Anm. d. Red.], immer wieder, um die politisch zu instrumentalisieren. Das kann man sich hier auch vorstellen, auch wenn ich Dieter Köhler nicht unterstellen will, dass er selber ein politisches Interesse hat, das weiß ich nicht, aber dass das genutzt wird in der politischen Debatte, das kann ich mir sehr gut vorstellen.
Knoll: Mike Schäfer war das, Professor für Wissenschaftskommunikation an der Universität Zürich, über die aktuelle Debatte um Feinstaub- und Stickoxid-Grenzwerte.
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