Bettina Klein: "Historiker kritisieren Gauck", so heute eine Schlagzeile der "Süddeutschen Zeitung" auf der ersten Seite. Liest man den Artikel allerdings bis zu Ende, dann räumt das Blatt durchaus ein: Andere Wissenschaftler der gleichen Branche springen dem Bundespräsidenten bei. Worum geht es? Natürlich um die von einigen scharf kritisierte Rede Joachim Gaucks am Montag dieser Woche, also am 1. September in Danzig, am Tag des deutschen Überfalls auf Polen vor 75 Jahren, und so klang das:
Joachim Gauck: Die Geschichte lehrt uns, dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern. Die Geschichte lehrt uns auch, dass aus unkontrollierter Eskalation eine Dynamik entstehen kann, die sich irgendwann der Steuerung entzieht.
Klein: So weit Bundespräsident Gauck am Montag, und ein weiteres Zitat: "Weil wir am Recht festhalten, es stärken und nicht dulden, dass es durch das Recht des Stärkeren ersetzt wird, stellen wir uns jenen entgegen, die internationales Recht brechen, fremdes Territorium annektieren und Länder militärisch unterstützen." Und obwohl Russland nicht ausdrücklich genannt war, haben alle es so verstanden, dass es sich genau an diese Adresse richtet. Wir sprechen darüber heute Morgen mit jemandem, der mal für Joachim Gauck gesprochen hat, und zwar, als der noch Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde war, und der im kommenden Monat eine Biografie über den Bundespräsidenten veröffentlicht. Ich begrüße in unserem Studio in Berlin Johann Legner. Schönen guten Morgen!
Johann Legner: Guten Morgen!
Klein: Wenn Sie die Kritik, die wir gehört haben und die heute auch noch mal von Historikern in der "Süddeutschen" wiederholt wird, also zum Beispiel von dem Freiburger Historiker Ulrich Herbert - der wirft Gauck Einseitigkeit vor, darauf, dass auch Russland begründete Ängste etwa vor einem NATO-Beitritt der Ukraine habe, sei der Bundespräsident gar nicht eingegangen -, wenn Sie diese Kritik hören, können Sie die nachvollziehen?
Legner: Ja, nachvollziehbar ist sie, und sie ist ja nicht völlig unbegründet, weil tatsächlich hat Gauck in Polen einiges nicht gesagt, was man vielleicht als Wissenschaftler gerne noch dazugefügt hätte. Aber er hat ja nicht einen wissenschaftlichen Vortrag gehalten. Er hat sich in einer Umgebung bewegt, wo große Erwartungen an seine Rede da waren, und ich glaube, er ist diesen Erwartungen vor allem gerecht geworden. Und das war auch das eigentliche Ziel dieser Reise nach Polen.
"Dass Gauck mit seine Ansichten manchmal Minderheiten vor den Kopf stößt, war klar"
Klein: Vielleicht noch ein kritisches Zitat des Jena-Historikers Norbert Frei - weil Sie gerade gesagt haben, er sprach ja nicht als Historiker, sondern als Bundespräsident: Frei hält Gauck vor, es sei nicht Aufgabe des deutschen Bundespräsidenten, die Stärke des Westens zu demonstrieren, schon gar nicht auf der Westerplatte nur 75 Jahre danach. Also die Frage steht natürlich im politischen Raum: Hat sich das deutsche Staatsoberhaupt ausgerechnet an der Stelle, an diesem sensiblen Tag zu weit aus dem Fenster gelehnt?
Legner: Als Gauck auf viel Zustimmung stieß, als er nominiert wurde als Parteiloser, da war wahrscheinlich vielen, die damals für ihn waren oder das begrüßten, nicht klar, dass er natürlich auch eine Persönlichkeit ist mit ganz eigenen politischen Ansichten, mit einer eigenen Biografie, einem eigenen Werdegang, und dass er nicht unbedingt immer allen nach dem Mund reden wird. Und das passiert nun zuweilen, eigentlich relativ häufig. Und die Leute sind überrascht, plötzlich einen Gauck zu entdecken, den sie gar nicht kannten vorher - was ja auch verständlich ist, er war ja lange Jahre im politischen Tagesgeschäft überhaupt nicht präsent. Insofern ist das jetzt eine Erfahrung, die vorhersehbar war. Dass Gauck früher oder später mit den Ansichten, die er hat, nicht jederzeit mehrheitsfähig ist oder manchmal auch Minderheiten vor den Kopf stößt, das war klar.
Klein: Am Anfang seiner Amtszeit hat er sich ja doch nach dem Eindruck der meisten ziemlich zurückgehalten.
Legner: Richtig.
Klein: Auch, weil er für deutliche Worte ja, wie Sie angedeutet haben, bekannt war und mancher eben bezweifelt hat, dass das eine gute Verhaltensweise für ein Staatsoberhaupt sei. Nun sagt er selbst, er legt sich da nicht mehr so viele Fesseln an. Wie sehen Sie das?
Legner: Ja, und es war auch für mich vorhersehbar, ganz klar vorhersehbar, dass er ausgerechnet in Danzig in Deutschland anecken wird, nicht in Polen. Das ist ein Platz, wo er auch persönliche, familiäre Beziehungen dazu hat, sein Vater war ganz in der Nähe im damals besetzten Polen stationiert als Soldat; das war überhaupt sein erster Aufenthalt außerhalb Deutschlands als Kleinkind; und nach 1990 hat er sich sehr, sehr viel mit Polen beschäftigt. Und er weiß ganz genau, dass die Polen diesen Kriegsbeginn anders reflektieren als viele Deutsche, und ich denke, er ist da seiner Rolle als Gast auch gerecht geworden und hat weniger die deutsche Öffentlichkeit als die polnische im Auge gehabt.
Klein: Und deshalb ist das für Sie so nachvollziehbar, dass die Deutschen oder einige Deutsche darauf so anders reagieren als die Polen, wo das angegriffene Land ja Polen war?
Legner: Na ja, ich meine, die Historiker wissen ja auch, dass der 1. September nicht nur der Überfall vom nationalsozialistischen Deutschland auf Polen war, sondern gleichzeitig auch der Beginn – wenige Wochen danach – des sowjetischen Einmarsches im Osten Polens. Damals waren ja Hitler und Stalin Verbündete, und sie haben auch als Verbündete agiert bei der Zerschlagung des polnischen Staates und bei der Drangsalierung der polnischen Bevölkerung. Und die Verbrechen der stalinistischen Truppen, die da vorgerückt sind, sind ja nicht wesentlich anders gewesen als die der Nationalsozialisten. Und das weiß Gauck sehr, sehr genau, und ich wundere mich doch ein bisschen, dass manche Historiker in Deutschland das zu vergessen scheinen.
"Wenn es Anlässe gibt, diesen Präsidenten anzugreifen, dann wird die Linkspartei das tun"
Klein: Die Kritik kam nicht nur von einigen Historikern, sondern auch aus dem politischen Raum, da vor allen Dingen aus der Linkspartei, und wir hören mal Bernd Riexinger.
Bernd Riexinger: Auf mich wirkt es sehr befremdlich, wenn der Bundespräsident redet wie der NATO-Generalsekretär. Ich meine, Herr Gauck sollte als Friedensbotschafter wirken.
Klein: So weit Bernd Riexinger, der sich kurz nach der Rede Anfang der Woche bereits geäußert hat. Haben Sie, Herr Legner, eine Erklärung dafür, weshalb parteipolitisch die stärkste Kritik - ja auch nicht zum ersten Mal - an Gauck von der Linkspartei kommt?
Legner: Ja. Er ist ja von der Linkspartei nicht gewählt worden, die hatten ja eine Gegenkandidatin, und insofern ist er sowieso nicht ihr Präsident, ihr Wunschpräsident. Und natürlich spielt da vieles mit, was auch in der Tätigkeit von Joachim Gauck als Auflöser der Stasi-Hinterlassenschaft liegt und wo es ja vielfältige Konflikte mit Funktionsträgern der Linken gab - ich erinnere nur daran, an die Vorwürfe gegen Gregor Gysi beispielsweise. Da ist eigentlich schon seit Langem eine gut funktionierende Nicht-Beziehung zwischen der Linkspartei und Gauck, und da wird sich meiner Meinung nach auch nichts mehr ändern. Und wenn es Anlässe gibt, diesen Präsidenten anzugreifen, dann wird die Linkspartei das tun.
Klein: Wir sprechen immer wieder über die Gratwanderung, die jeder Bundespräsident in Deutschland vollziehen muss. Er besitzt vor allen Dingen die Macht des Wortes. Die Frage ist: Wie setzt er das ein? Wie stark darf er sich äußern und wie stark nicht? Das Bundesverfassungsgericht hat ja vor einigen Monaten eine relativ interessante Entscheidung getroffen, als es darum ging, ob der Bundespräsident die NPD oder die NPD-Wähler mit ziemlich starken Worten charakterisieren dürfe, und da hat das Verfassungsgericht dem Bundespräsidenten noch mal relativ viel Spielraum zugebilligt und dabei interessanterweise auch auf monarchistische Traditionen in Deutschland verwiesen. Halten Sie das für eine gute Entscheidung?
Legner: Ich habe sie jetzt im Detail im Moment nicht mehr vor mir, aber in der Tendenz hat es den Bundespräsidenten als relativ unabhängigen politischen Akteur bestätigt, und etwas anderes wäre ja auch sinnlos. Man kann nicht einerseits ein Staatsoberhaupt haben, das mit einigen Mitteln ausgestattet ist, und dann auf der anderen Seite jemanden haben, der quasi wie so eine Sprechpuppe funktioniert. Nein, ein Bundespräsident muss und soll auch eine politische Meinung haben und er muss sie dann auch artikulieren können. Dass er - und ich gehe da bei Joachim Gauck schon von aus - dabei immer berücksichtigt, dass er oft auch als der Sprecher der Deutschen verstanden wird, das ist eine zweite Komponente, die kommt hinzu. Aber ich denke, das verstehen die meisten Deutschen auch so. Auch wenn er Streit auslöst, wie in diesem Fall beispielsweise, ist das ja immer noch besser, als wenn so eine Grabesstille des friedlichen Miteinanders herrscht, die nicht produktiv ist. Insofern haben ja die, die von ihm erwarteten, dass er mal anders agiert als viele Politiker, die Kontroversen scheuen, die sind ja bestätigt worden. Das Interessante ist: Man wusste nur vorher nicht, wen man genau wählt, welche Biografie man wählt, welches Leben man wählt. Er ist ja inzwischen fast 75 Jahre alt. Und das alles hat man jetzt mitbekommen.
Klein: Wo ordnen Sie ihn denn im Augenblick ein, auch im Reigen seiner Vorgänger? Also wir haben zwei mehr oder weniger spektakuläre Rücktritte erlebt in den vergangenen Jahren von Bundespräsidenten, wir hatten Roman Herzog, von dem unter anderem der Satz geblieben ist, ein Ruck müsse durch Deutschland gehen. Wir hatten Richard von Weizsäcker, der sich ja doch relativ stark profiliert hat, auch im Vergleich zum Kanzleramt. Wo sehen Sie da Gauck im Augenblick zur Hälfte seiner Amtszeit?
Legner: Ich sehe ihn überaus ehrgeizig darin, noch eigene Zeichen zu setzen, eine eigene Handschrift zu entwickeln. Er hat sehr vorsichtig angefangen, das macht er in seinem Leben öfters, also hat er schon öfters gemacht. Aber er wird schon sich bemühen, ein eigenes Profil zu gewinnen, und er weiß natürlich, dass da der Maßstab insbesondere Richard von Weizsäcker ist, der ja auch bei allen Bürgern als der nach wie vor - obwohl er schon lange aus dem Amt ist – beliebteste Präsident gilt. Und ich glaube schon, dass er den Ehrgeiz hat, da mindestens sich dem anzunähern.
"Ich kenne ihn zu gut, um ihn mir schönzureden"
Klein: Sie kennen ihn lange, Sie haben für ihn gearbeitet, als er noch Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde war. Wie eng ist Ihr Verhältnis heute?
Legner: Also die Biografie, die ich jetzt schreibe oder die jetzt fertig ist und die demnächst auf den Markt kommt, die habe ich ohne ihn gemacht. Er wollte zwar immer wissen – und hat mich deswegen auch mehrfach getroffen -, was da drin steht, aber er weiß es nicht. Das war mir auch sehr wichtig. Wir sind im Gespräch, ab und zu trifft man sich sowieso in Berlin, und dann gibt es auch den Umstand, dass er unmittelbar in meiner Nachbarschaft wohnt, also wir sind quasi Nachbarn – und ich versuche aber, das voneinander zu trennen. Das wird noch spannend. Ich weiß noch nicht, wie er darauf reagiert, auf das, was ich geschrieben habe, ich hoffe, dass ich es ihm direkt in die Hand drücken kann und dass wir Zeit finden, dann darüber zu reden.
Klein: Wird man das jemals los, für so jemanden als Sprecher gearbeitet zu haben?
Legner: Nein, das wird man nicht los, weil man kennt sowohl die Stärken wie auch die Schwächen einer solchen Person viel besser als andere, und das öffentliche Image und die Realität, da gibt es eine gewisse Lücke dazwischen. Und man ist da natürlich auch anders befangen als andere Leute, die völlig unvoreingenommen da rangehen und sich etwas in eine Person reindenken. Das gelingt mir nicht mehr. Ich kenne ihn zu gut, um ihn mir schönzureden.
Klein: Johann Legner, der Publizist heute Morgen im Deutschlandfunk, von ihm erscheint Mitte Oktober eine Biografie über den Bundespräsidenten Joachim Gauck. Haben Sie Dank für das Gespräch heute Morgen im Deutschlandfunk!
Legner: Danke ebenfalls!
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