Archiv

Debatte um Identität
Ein zunehmend inhaltsleerer Modebegriff

Der Soziolinguist Florian Coulmas beschäftigt sich mit der Veränderung der Identitätsfrage im Laufe der Jahrhunderte. Heute bewege sich die Bedeutung des Wortes im weiten Feld zwischen individuellem Empfinden und rechtem Kampfbegriff. So sei „Identität“ immer inhaltsleerer geworden, sagte Coulmas im Dlf.

Florian Coulmas im Gespräch mit Frank Kaspar |
Ein deutscher Personalausweis ragt aus einer Hosentasche hervor
Identität ist mehr als ein elfstelliger Code im Personalausweis. Aber was? ( picture alliance / Zoonar | stockfotos-mg)
Wer bist du? Wer genau? Solchen Fragen könne sich heute niemand mehr entziehen, beobachtet Florian Coulmas – sei es, weil wir von Werbetreibenden als Individuen umworben werden, sei es, weil uns aufgrund unseres Geschlechts oder anderer Eigenschaften eine angebliche Identität zugeschrieben wird.
Und dennoch oder vielleicht gerade deshalb werde der Identitätsbegriff zunehmend inhaltsleerer.
"Je mehr man ein Wort benutzt, desto breiter wird es in seiner Bedeutung, desto mehr verliert es an Bedeutung", sagte Coulmas im Dlf.
Unsere sich rasend schnell verändernde Welt könne sich keine stabile Identität mehr leisten. Coulmas: "Was sind Karriereverläufe noch, wer bleibt sein Leben lang in einem Beruf? Das werden immer weniger Menschen. Das heißt auch: Ich dachte, ich bin Buchhalter, das ist ein Teil meiner Identität – aber nein, ab morgen verkaufe ich Lebensversicherungen, und dann ist das meine Identität, damit muss ich leben. Ich muss zu ständiger Transformation bereit sein, das wird mir quasi aufgezwungen."
Leider sei "Identität" – neben weiteren Bedeutungen – heute zu einem Kampfbegriff geworden, um Minderheiten auszugrenzen. Der Ursprung dieser Entwicklung sei auf die französische Génération identitaire zurückzuführen, die ganz eindeutig eine rassistische Agenda verfolge, sagte Coulmas. "Wir stellen fest: Das Beharren auf Identität ist ein Codewort für Anti-Immigration."

Das Interview in voller Länge:

Frank Kaspar: "Ich habe mir das Thema nicht ausgesucht." Das schreibt der britische Rapper Akala in einem Buch über seine Erfahrungen mit Rassismus und Klassenunterschieden in Großbritannien. "Als ich geboren wurde, hatte ich noch keine Meinung über die Welt, aber die Welt schien ganz klar eine Meinung über Leute wie mich zu haben." 1983, geboren in London, die Familie der Mutter aus Schottland, die des Vaters aus Jamaika, Akala weiß sehr gut, wie einschneidend Konflikte um Identität in das Leben einzelner Menschen hineinwirken können. Sein Vater und einige seiner Onkel seien bis heute gezeichnet von den Kämpfen mit rechten Straßengangs und Skinheads, schreibt Akala, ihre Körper von Narben übersät. Welche Rolle Identität heute im Leben vieler Menschen spielt und für ihr Zusammenleben und von welchen Einflüssen Identität ihrerseits geprägt und geformt wird, darüber möchte ich jetzt sprechen mit Florian Coulmas, Senior-Professor für Sprache und Kultur des modernen Japan der Universität Duisburg-Essen und als Publizist unter anderem für die "Neue Zürcher Zeitung" tätig.
Herr Coulmas, Sie sagen, Identität ist ein Schlüsselbegriff unserer Zeit. Wie ist es eigentlich dazu gekommen, dass Identität als Begriff, als Phänomen, als Fragestellung so wichtig geworden ist, auch so umstritten geworden ist?
Florian Coulmas: Ich habe mich zum Beispiel gefragt, wie kommt es, dass meine Großeltern keine Identität hatten. Stimmt das? Wenn ich sie gefragt hätte, dann würde das ohne Zweifel stimmen. Identität, damit konnten die absolut überhaupt nichts anfangen. Oder eine andere Erfahrung: Identität in Fernost. In Japan, wo ich mehrere Jahrzehnte gelebt habe, kam dieser Begriff irgendwann an – und zwar als ein englisches Lehnwort –, und es gibt eine Umfrage aus dem Jahre 2002, glaube ich, oder 2005. Nach dieser Umfrage hatten ungefähr 50 Prozent der Befragten irgendwann mal davon gehört. Und von diesen 50 Prozent trauten sich etwa zehn Prozent zu sagen, dass sie irgendwie einigermaßen wussten, was das bedeutet. Für mich ein Hinweis darauf, dass das dort keine Selbstverständlichkeit ist, und man sehr lange ganz gut gelebt hat, ohne viel Zeit damit zu verbringen, über Identitäten nachzudenken.
Identitätspolitik - "Menschen sind Möglichkeitswesen"
Ist die Identitäts-Debatte eine Ursache für Hass und Marginalisierung? "Man darf nicht beim Identifizieren stehen bleiben, sondern muss auch dazu übergehen zu imaginieren, zu verbinden", sagt der Kunstwissenschaftler Jörg Scheller im Dlf.
Kaspar: Sie meinen, es geht hier nicht nur um Lehnwörter, um den Begriff, der vielleicht nicht so geläufig war, sondern tatsächlich, dass sowohl diese Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Umfrage in Japan, dass Ihre Großeltern diese heute allgegenwärtigen Fragen, wer bist du, woher kommst du, zu wem gehörst du, wozu bekennst du dich, dass sie diese Fragen tatsächlich nicht ohne Weiteres hätten beantworten können, vielleicht auch gar nicht für relevant gehalten hätten?
Coulmas: Ja, also, ich will noch mal etwas anderes erwähnen, um das zu erläutern. Wenn wir uns die Zahl der Publikationen angucken, dann stellen wir fest, zum Beispiel wenn wir in den Katalog der Deutschen Bibliothek gucken, in der 30-jährigen Periode von 1920 bis 1950 erschienen 50 Bücher, die "Identität" im Titel hatten. In der nächsten 30-jährigien Periode von 1950 bis 1980 waren es knapp 300 Titel, also sechsmal so viele. Und dann geht es richtig los. Zwischen 1980 und 2010, in diesen 30 Jahren, wurden über 3.000 deutsche Bücher veröffentlicht, die Identität im Titel tragen. Das Gleiche finden wir im englischsprachigen Büchermarkt, im französischsprachigen Büchermarkt, im italienischsprachigen Büchermarkt, überall in der westlichen Welt eine Explosion von Identität und dem Interesse daran. Das wirft die Frage auf: Wie kommt das? Entweder wir haben etwas sehr Essenzielles an der menschlichen Natur lange Zeit übersehen, missachtet, das wäre eine Möglichkeit. Eine andere Antwort wäre, zu sagen, Bücher müssen vermarktet werden, und ein gutes Schlagwort im Titel zu haben, fördert den Verkauf.
Kaspar: Identität ist zu einem Modebegriff geworden.
Coulmas: Ein absoluter Modebegriff. Buchtitel werden zum größten Teil nicht von Autoren, sondern von Verlagen gemacht. Und da hat auf jeden Fall die Marketingabteilung ein Wort mitzureden, das könnte also eine Antwort sein.

Identität – ein zunehmend inhaltsloser Begriff

Kaspar: Aber Sie graben da ja ein bisschen tiefer, Sie gehen ja tatsächlich in die europäische Kulturgeschichte hinein und versuchen, Gründe oder Faktoren zu finden, die zusammengewirkt haben und das, was wir heute unter Identität verstehen, überhaupt erst geformt und bedeutsam gemacht haben. Welche Faktoren sind das, die wesentlichen?
Coulmas: Bevor ich darauf eingehe, noch eines: Die Vielfalt der Verwendung von Identität in allen möglichen Zusammenhängen hat dazu geführt, dass das Wort beziehungsweise der Begriff immer inhaltsleerer geworden ist. Je mehr man ein Wort benutzt, desto breiter wird es in seiner Bedeutung, desto mehr verliert es an Bedeutung. Und das ist genau das, was geschehen ist. Deshalb ist es gar nicht so ganz einfach, der Sache auf den Grund zu gehen und zu sagen, das ist Identität – und darüber wollen wir uns unterhalten.
Kaspar: Wenn wir über Identität sprechen, reden wir ohnehin schon mal …
Coulmas: Dann reden wir über eine ganze Palette von Dingen. Sie sind ein Mann und Sie haben einen Bart und eine bestimmte Frisur, wahrscheinlich sind Sie entweder katholisch, evangelisch oder atheistisch oder sonst irgendetwas.
Kaspar: Also ein Bekenntnis habe ich auch noch.
Coulmas: Ein Bekenntnis haben Sie, Sie haben einen Beruf, Sie kommen aus irgendeiner Stadt, Sie wohnen in irgendeiner anderen Stadt oder in derselben Stadt und und und... Es gibt also eine ganze Reihe von Faktoren …
Kaspar: … die es möglich machen, mich zu erfassen, zu konturieren.
Coulmas: Und dann haben Sie, das sollte man nicht unterschätzen, einen elfstelligen Code, der mindestens ein Interpunktionszeichen, einen Großbuchstaben und mehrere Ziffern enthalten muss.
Kaspar: In meinem Personalausweis.
Coulmas: Vielleicht in Ihrem Personalausweis, auf jeden Fall, wenn Sie Zugang zum Internet suchen. Und das ist etwas, eindeutig ein Phänomen unserer Zeit, das man Ihnen stehlen kann. Nun gibt es Leute, die die Identität anderer angenommen haben und sich verborgen haben vor der Verfolgung, das gab es auch schon in der Antike. Aber dass wir routinemäßig mit mehreren Identitäten umgehen, die haben müssen, um überhaupt existieren zu können, das ist ein Phänomen unserer Zeit. Und dazu gehört auch, dass die Vereinten Nationen sich zum Ziel gesetzt haben, bis 2030 soll jeder Erdenbürger eine Identität haben, und das heißt: eine digitale Identität. Dazu gehören eben die Eigenschaften, die im Laufe der Zeit zu Attributen der Identität geworden sind. Das ist ein Vorgang, der zumindest in der westlichen Welt im 19. Jahrhundert in Fahrt kam. Ein sehr wichtiger Aspekt ist die Industrialisierung und die damit einhergehende Einführung der Lohnarbeit, die ja den Lohnempfänger identifizierbar machen muss – und zwar als einzelne Person. Was damit auch einherging, ist die Etablierung eines auf Individuen bezogenen Steuersystems und eines Postsystems. Ein Postsystem, das länderweit jede einzelne Person erfasst, das ist ein Phänomen der Neuzeit. Und das ist wichtig für andere Erfassungsmechanismen, die die Neuzeit kennzeichnen: Wehrdienst, Steuer und dann schließlich im 19. Jahrhundert auch Pflichtschule. Das lässt sich nicht durchsetzen, ohne die einzelne Person zu erfassen, also Registrierungssysteme, Standesämter und so weiter, werden immer flächendeckender. Das geht natürlich nicht über Nacht, aber ist ein Prozess, den wir auch als Individualisierung der modernen Gesellschaft bezeichnen.
Gesine Schwan - "Welt und Sprache kann man nicht nach dem Reißbrett machen"
Die Gesellschaft ist nach Ansicht von SPD-Politikerin Gesine Schwan immer bunter und ungleicher geworden. Darauf müsse man positive Antworten finden, aber auch pragmatisch sein, sagte sie im Dlf.
Kaspar: Denn das ist sozusagen ein wichtiges Element, sagen wir mal, sozialgeschichtlich, das die vielen Facetten des Begriffs Identität zusammenhält. Wie Sie es betrachten in Ihrer Studie, interessiert Sie Identität als ein Phänomen der europäischen Moderne, die Wurzeln reichen zum Teil weiter zurück, 200, 300 Jahre, als jetzt die vielleicht von Industrie dann auch bereits geprägte Moderne. Aber es hat sich sozusagen eine bestimmte Form des Zusammenlebens und des Organisierens von Gesellschaft entwickelt, nach und nach, die, wie Sie das jetzt schon an verschiedenen Beispielen angedeutet haben, darauf angewiesen war, dass man die Identität jeder einzelnen Person, die einer Gesellschaft angehört, definiert und wiedererkennbar macht.
Coulmas: So ist es. Und was damit auch einhergeht, Sie sagten sehr richtig, eine Veränderung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, bis in die späte Neuzeit waren Lebensläufe zu einem sehr großen Teil durch Geburt vorbestimmt. Industrialisierung bedeutet, die Menschen wandern von ihren ländlichen Heimaten in Industriegebiete ab, dort stehen sie allein erst mal. Individualisierung, Vereinzelung, das wiederum zieht etwas anderes nach sich, nämlich die Suche nach einem neuen Zusammengehörigkeitsgefühl.
Kaspar: Die Geschichte, die Sie da nachzeichnen, zum Beispiel die Geschichte des Fortschreitens von Menschen, die zuvor in einem Feudalsystem eingebunden waren, in eine Gesellschaft, wo jeder auch in die folgenden Generationen hinein seinen Platz hatte, es gibt keinen Anlass, sich zu fragen, wer will ich sein, denn ich bin schon jemand und mein Weg ist vorgezeichnet. Aus unserer heutigen Sicht ist die Entwicklung, die Sie skizzieren, die die Menschen ablöst von diesen vorgegebenen Zusammenhängen und ihnen freistellt, zumindest freistellt, ihre Haut zu Markte zu tragen, aber jedenfalls neue Aufgaben, neue Orte, auch neue Verbindungen zu suchen, man kann es verstehen als einen Zugewinn an Freiheit.
Coulmas: Sicher.
Kaspar: Zugleich ist es eben eine Ablösung, auch ein Herausfallen aus Bindungen, die vorher bestanden.
Coulmas: Ja. Und ein riesiger Anspruch, nämlich die Bindungen, in die man früher hineingeboren war, selbst zu schaffen. Das ist ein Anspruch und, wie wir mehrfach erfahren haben, auch eine Gefahr.
Kaspar: Inwiefern?
Coulmas: Insofern, das stimmt zeitlich auch zu einem großen Teil überein mit dem Prozess der Individualisierung, die Nationalisierung, nämlich die Ausformung des Weltsystems in Nationalstaaten. Die Ablösung von Erbmonarchien durch Verfassungsstaaten, die sich dann langsam, aber sicher entwickelten in Richtung von konstitutionellen Demokratien, wo die Regierten nicht mehr nur die Regierten waren, sondern auch diejenigen, die Mitspracherecht hatten an der Form der Regierung, an dem Inhalt der Regierung. Wie wurde das gemacht? Zu einem großen Teil, nicht überall gleich, aber zu einem großen Teil durch Appelle an Gemeinsamkeiten.

Von der individuellen zur kollektiven Identität

Kaspar: Denn es ist eine Situation eingetreten, in der nun nicht der einzelne Mensch, sondern eine Gruppe, ein größerer … die Bevölkerung eines Landesteils, einer künftigen Nation auf einmal die Frage beantworten muss, wer sind wir?
Coulmas: Ja genau. Und darauf gibt es verschiedene Antworten. Was sie gemein haben in unserer heutigen Welt, ist, dass nach wie vor die nationale Identität für sehr viele Menschen und für die Gestaltung der Weltpolitik eine enorm wichtige Rolle spielt.
Kaspar: Ich frage mich: Da zeichnen Sie ja nach in Ihrer Geschichte der Entstehung der modernen Identitäten, eben auch solcher kollektiven Identitäten wie der nationalen Identität, dass es da mindestens zwei Wege gab, also mindestens zwei Grundideen sozusagen, was ist es denn, das diesen Zusammenhalt oder diese Gemeinsamkeit schafft?
Coulmas: Ja, mindestens zwei, würde ich sagen. Im europäischen Kontext sind die beiden großen Strömungen auf der einen Seite die deutsche Romantik, die auf gemeinsames kulturelles Erbe, die Sprache, die wir seit eh und je sprechen, abhebt und auf Kunst, Kultur – in Ermangelung eines deutschen Staates. Muss man ja sagen, zu der Zeit der Romantik, also des ausgehenden 18. Jahrhunderts.
Kaspar: Deswegen konnte es in dem historischen Moment nur die Kultur sein oder deswegen hat man es sich erhofft, dass die über die Grenzen hinweg oder über das fehlende gemeinsame Staatsgebiet hinweg Verbindungen schaffen sollte.
Coulmas: Und der Gegenentwurf ist der französische, republikanische, der sagt, nicht Sprache, Kultur und so weiter, das sind keine für immer und ewig gegebenen Eigenschaften, sondern das, was wir wollen, das, was wir erreichen wollen. Das ist also insbesondere seit der Französischen Revolution, die ja sehr zukunftsgerichtet war, so, dass man sagt, wir setzen uns Ziele, dazu gehört Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und so weiter, das sind Parolen, die uns vereinigen. Ähnlich in den Vereinigten Staaten, wo auch in die Zukunft geblickt wird und Entwürfe gemacht werden, wie eine Nation geschaffen werden soll. In dem Fall ja ganz deutlich: Es gab sie nicht und es sollte sie geben durch die Unabhängigkeit von Großbritannien.

Identität und die Entwicklung zum Kampfbegriff

Kaspar: Herr Coulmas, wenn wir sehen, wie heute über Identität gesprochen wird, dann ist es ja über weite Strecken ein Ringen um Identität von Menschen, die in eigener Sache sprechen. Ein Aushandeln, komme ich in der Gesellschaft angemessen vor, werden wir hier repräsentiert, bekommen wir hier die gleichen Chancen. Was Sie gemacht haben einerseits, ist ja jetzt, dass Sie den Vorhang noch etwas weiter aufgezogen haben und geschaut haben, wie viele Bedeutungsrichtungen hat eigentlich dieser Begriff Identität, in wie vielen Bereichen der Gesellschaft spielt der eine Rolle und inwiefern ist dieser Begriff überhaupt erst so bedeutsam und auch so umstritten geworden. Warum haben Sie gedacht, in dieser Situation, wo wie gesagt über Identität sehr viel und immer mehr gesprochen und gestritten wird, da muss ich jetzt noch mal einen anderen Blickwinkel suchen, da muss ich noch mal eine andere Spur verfolgen, was war Ihr Interesse daran?
Coulmas: Identität ist deutlich zu einem Kampfbegriff geworden, wie wir vorher schon sagten, einerseits aus der Perspektive von Minderheiten, andererseits aus der Perspektive von Mehrheiten, die Minderheiten ausgrenzen wollen. Da steht an erster Stelle die Génération identitaire, die in Frankreich entstanden ist und ganz eindeutig eine rassistische Agenda verfolgt. Die ist über den Atlantik gewandert, hätte es nicht gebraucht, denn Rassismus ist da, in den Vereinigten Staaten, ja nicht unbekannt. Sie hat auch in anderen europäischen Ländern Ableger gefunden. Und wir stellen fest, das Beharren auf Identität ist ein Codewort für Anti-Immigration. In einer Zeit, die gekennzeichnet ist durch unaufhaltsame Migrationsströme von Süd nach Nord, von den weniger entwickelten in die höher entwickelten Länder, die das letzte halbe Jahrhundert intensiv daran gearbeitet haben, um die Globalisierung für ihre Zwecke ins Werk zu setzen, und jetzt alle möglichen Mauern aufbauen, um die Migrationsströme zu stoppen. Und Identität ist eine geistige Mauer, die in diesen Zusammenhang gehört. Das ist einer der Gründe, nicht der einzige, aber einer der Gründe, sich damit intensiv zu beschäftigen.
Kaspar: Was mich sehr beeindruckt hat an Ihren beiden Büchern zum Thema, ist, dass Sie immer wieder an Punkte gelangen, wo Identität, die Rede darüber, der Umgang damit etwas Ambivalentes hat. Sie haben diesen historischen Punkt angesprochen, Ende des 18., im Laufe des 19. Jahrhunderts fand man überhaupt Wege über eben das Postwesen, die Schulpflicht, das Militär und andere Institutionen, fand man Wege, die unverwechselbare individuelle Person zu markieren und zu registrieren. Ein Zugriff staatlicher Macht auf den Einzelnen oder die Einzelne – und zugleich ein Versprechen. Denn wie Sie angedeutet haben, die Vereinten Nationen haben sich das Ziel gesetzt, bis 2030 jeden einzelnen Menschen auf der Erde in der Weise zu erfassen, dass er eine Rechtsperson ist, eine juristisch registrierte Person, und nur so auch gewisse staatliche Schutzleistungen auch empfangen kann. Das heißt, dieser Prozess, der im 18., 19. Jahrhundert begonnen hat, der ist noch gar nicht abgeschlossen.
Coulmas: Nein, in manchen Teilen der Welt nicht, und die reichen in unsere Welt hinein – und zwar durch Menschenhandel, den es ja nach wie vorgibt und der in vieler Hinsicht in den fortschrittlichsten Industrieländern profitabler ist als in den armen Entwicklungsländern. Und eine digitale Identität, die man dann haben muss, ist vielleicht ein kleines Hilfsmittel, um dem entgegenzuwirken. Wenn man weiß, jede Person muss das haben, dann kann man sie auch verfolgen. Alles das, was wir selbst für uns nicht wollen, kann ein Schutzmechanismus sein für Leute, die irgendwo in der dritten Welt als Sklaven verkauft werden. Und da kommt dann eben die persönliche Identität und in dem Falle Identifizierbarkeit, das ist diese Person und niemand anderes und die hat ein Recht auf eine autonome Existenz.
Kaspar: In diesem Punkt, ist Identität zu schaffen …
Coulmas: … sicherlich eine Aufgabe …
Kaspar: … der Weltgemeinschaft.
Coulmas: Ja.

Der Einfluss von Jobwechseln auf Identität

Kaspar: Es gibt einen seltsamen Widerspruch, glaube ich, auch emotional in dem Verhältnis vieler Menschen jedenfalls zu dieser Idee, diesem Begriff Identität. Es gibt einerseits die Erwartung, dass Identität das ist, wo die einzelne Person so tatsächlich, sagen wir mal, authentisch in sich ruht. Und zugleich gibt es das Versprechen, du Einzelner, Einzelne kannst dir eine Identität schaffen, zeige dich in einer unverwechselbaren Weise, das muss jede und jeder für sich selbst eigentlich schaffen, dieses Brand, diese Marke, diese eigene Identität. Und auch darin liegt ja, wie Sie zeigen, ein seltsames Paradox, indem die Aufforderung gleichzeitig lautet: Finde dein wahres Selbst, deine eigentliche Identität, den Kern dessen, was du bist, und verwirkliche den im Idealfall auch so vollständig, wie es nur geht. Und zugleich gibt es die Aufforderung, erfinde dich neu.
Coulmas: Erfinde dich neu, und die Aufforderung, um das zu tun, kauf bitte, was ich dir anzubieten habe. Denn ich weiß, was für deine Identität am besten ist. Identität im psychologischen Sinne bedeutete einmal die Essenz einer Person. Und heute leben wir in einer Gesellschaft, wo die immer wieder neu erfunden werden muss, um auf dem Markt zu bestehen. Auf dem Markt einerseits im übertragenen Sinne, auf dem Markt der Eitelkeit. Und andererseits materiell, um existieren zu können in unserer sich so unglaublich schnell verändernden Welt. Die kann sich sozusagen keine stabile Identität mehr leisten. Was sind Karriereverläufe noch, wer bleibt sein Leben lang in einem Beruf? Das werden immer weniger Menschen. Das heißt auch, ich dachte ich bin Buchhalter, das ist ein Teil meiner Identität, aber nein, ab morgen verkaufe ich Lebensversicherungen, und dann ist das meine Identität, damit muss ich leben. Ich muss zu ständiger Transformation bereit sein, das wird mir quasi aufgezwungen. Und dann werden da verschiedene Angebote gemacht, die traditionellen Angebote ziehen nicht mehr, wir sehen Rückgang von Parteimitgliedschaften, Rückgang von Kirchengemeinden, Rückgang von Gewerkschaftsmitgliedschaften, das sind alles traditionelle Gruppenbildungen. Und es entstehen neue, es entstehen neue Gruppenidentitäten im Netz für den Moment, für sehr kurze Zeit. Ja, da gehöre ich dazu, da habe ich auch meine Identität mit notiert. Der Begriff ist vereinnahmt worden und hat sich sehr stark gewandelt, die unveränderliche Identität war vielleicht immer eine Art Mythos, aber ist es heute mehr denn je.
Kaspar: Sodass die Identität, die man mit der Vorstellung verbindet, das ist so ein fester Grund, auf dem stehe ich und kann nicht anders …
Coulmas: Das ist weg, das ist einfach verschwunden.
Kaspar: Das gibt es eigentlich nicht mehr. Und die Identität, wie wir sie heute vielleicht noch verstehen können und erleben und ausfüllen können, das ist eben eine ganz fluide, eine immer wieder neu zu bestätigende, zu findende.
Coulmas: Ja. Man könnte auch sagen, es ist eine Aufgabe. Unser Erbe von der Aufklärung ist ja ein enormer Anspruch, nämlich dass jede Person eigentlich darüber nachdenken soll, in was für einer Art von Gesellschaft sie leben wollen. Das war ja früher nicht so, es war gar kein Angebot, gar keine Frage. Aber ein, sagen wir mal, aufgeklärtes Verständnis von Demokratie verlangt das im Prinzip von jedem mündigen Bürger. Und das ist nicht etwas Zurückgewandtes, was waren wir immer, da will ich doch bleiben, wie meine Großeltern waren, sondern – und das ist heute relevanter, als es jemals war – was für eine Gesellschaft wollen wir, haben wir vor Augen für unsere Kinder und für unsere Enkelkinder. Um es allgemeiner zu sagen: Nicht, was ist Identität, was ist meine unveränderbare, ewige und immerwährende Identität ist eine sinnvolle Frage, sondern: Was sollte unser Zusammenleben kennzeichnen. Und dann können wir es meinetwegen auch Identität nennen, wenn das für irgendetwas gut ist. Und Sie haben den Rapper zitiert, ich zitiere ihn auch und sage Ihnen, was der gesagt hat: "Aber verdammt soll ich als Vater sein, wenn meine Kinder nicht mehr haben werden, als ich hatte. Bitte verwechsele deine Lage nicht mit deiner Identität, das ist nicht dasselbe."
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.