Seit fast fünf Monaten dürfen die meisten Prostituierten in Deutschland ihrem Gewerbe nicht mehr nachgehen – wegen der Infektionsgefahr durch COVID-19. Mit dramatischen Folgen. Silvia Vorhauer berät bei der diakonischen Anlaufstelle "Mitternachtsmission" in Dortmund betroffene Frauen:
"Existenzangst macht sich breit: 'Ich schaffe das nicht mehr, ich habe nichts mehr, kein Erspartes.' Das hat auch eine psychische Komponente, dass sich langsam das Gefühl breit macht: 'Wir kommen ganz zum Schluss.' Das macht auch was mit dem Selbstwertgefühl. Menschen in der Sexarbeit sind ja sowieso eine hoch tabuisierte Randgruppe."
Kein Geld, keine Wohnung
Auch der SKF, der Sozialdienst katholischer Frauen, der sich seit über 100 Jahren um in Not geratene Prostituierte kümmert, konstatiert, ihre Lebensbedingungen hätten sich dramatisch verschlechtert. Renate Jachmann-Willmer ist Bundesgeschäftsführerin des SKF. Sie sagt:
"Keine Prostitution, kein Geld; sehr häufig keine Wohnung. Soweit Frauen in Bordellen gewohnt haben, haben sie die Wohnung verloren und sind auf der Straße oder bei Freiern, was sie in neue Abhängigkeit bringt. Die, die drogenabhängig sind, schlucken alles, was sie kriegen können und sind ins Dunkelfeld gewandert. Die Situation ist wirklich übel."
Frauen, die hoch verschuldet oder drogenabhängig sind, würden den Verboten zum Trotz weiter ihre sexuellen Dienste anbieten. Silvia Vorhauser von der Diakonie in Dortmund ergänzt:
"Ich verrate auch kein Geheimnis, wenn ich sage, dass einige weiter arbeiten müssen, um überhaupt überleben zu können."
Viele der betroffenen Frauen hätten auf Erspartes zurückgegriffen oder Sozialleistungen beantragt, manche auch die Corona-Hilfe für Solo-Selbstständige erhalten. Aber:
"Es gibt Frauen, die haben nach wie vor keine Leistungen in Anspruch genommen, aus Angst und auch Scham, und es gibt eine Gruppe, die keinen Anspruch hat auf Leistungen."
Manche Sexarbeiterinnen wie die Hamburgerin Undine haben seit Anfang März auf direkten Kundenkontakt verzichtet und sich neue Arbeitsfelder erschlossen. Sie arbeitet nur noch online mit erotischer Hypnose per Videochats und Audiofiles. Sie kritisiert, bei fast allen anderen Berufen, die körpernah ausgeübt werden, seien die Corona-Beschränkungen weitgehend aufgehoben, nur bei Prostituierten nicht:
"Es ist wirklich nicht mehr epidemiologisch oder rational erklärlich, warum dieses Berufsverbot immer noch soweit herrscht. Wir verstehen es nicht mehr. In den Anfängen war das noch nachvollziehbar, aber allmählich ist da ein sehr großer Ärger in der Sexworker-Community und das auch zurecht."
Sexarbeit auf Augenhöhe - das gibt es nur für wenige Frauen
Sabine Constabel kann der derzeitigen Situation allerdings durchaus etwas Positives abgewinnen. Denn sie setzt sich für die Abschaffung der Prostitution ein. Die Reformen der vergangenen Jahrzehnte wie das Prostitutionsgesetz von 2002 und das Prostituiertenschutzgesetz von 2017 hätten wenig gebracht, meint die Stuttgarter Sozialarbeiterin:
"All das hat keine Wirkung gehabt. Es hat das Elend der Frauen in der Prostitution nicht verändert, weil das Übel eben nicht die Rahmenbedingungen der Prostitution sind. Das, was die Frauen so verletzt und was so destruktiv an der Prostitution ist: Dass da Menschen gehandelt werden. Dass sich der Sexkäufer eine Frau zur sexuellen Benutzung kauft, die Frau wird zum Objekt, das ist die Verletzung."
Das sieht die Hamburger Sexarbeiterin Undine ganz anders:
"Wir verkaufen genauso wie jeder andere Mensch unsere Dienstleistungen und unsere Arbeitskraft und – ganz ehrlich – möchte ich nicht mit einem Bauarbeiter tauschen wollen, der auf längere Zeit körperliche Schäden durch seine Arbeit davonträgt, was mir als Sexarbeiterin noch nicht passiert ist."
Undine arbeitet normalerweise im eigenen Studio – unter anderem als Domina.
"Sexarbeit kann vollständig auf Augenhöhe stattfinden, die Machtverhältnisse zwischen Kunden und Sexarbeitenden sind weit gestreut. Es ist natürlich so, dass es Fälle gibt, in denen Sexarbeitende aus finanziellen Gründen Dinge tun, die ihnen nicht guttun. Das ist in vielen anderen Jobs bedauerlicherweise auch so. Deshalb ist das, was wir brauchen, Alternativen für die, die gern andere Jobs machen wollen, und eine Bekämpfung von Armut und nicht von Sexarbeit."
Für Sabine Constabel gehören Sexarbeiterinnen wie Undine zu einer kleinen privilegierten Gruppe, die gut verdient:
"Ich glaube ganz sicher, dass es diese Frauen gibt; nur machen sie keinen relevanten Anteil in der Prostitutionsindustrie aus. Wenn sie in Bordelle gehen und schauen, dann finden sie zu nahezu 100 Prozent Bulgarinnen, Rumäninnen und Ungarinnen oder andere Frauen aus armen Ländern."
Diese Frauen würden sofort mit der Prostitution aufhören, wenn sie andere, adäquate Verdienstmöglichkeiten fänden, sagt Sabine Constabel. Sie ist Vorsitzende des Vereins "Sisters – für den Ausstieg aus der Prostitution".
"Diese Lebenslage unterscheidet sich existenziell, und deshalb kann es nicht sein, nur weil ein kleiner Teil der Frauen in der Prostitution gut damit zurecht kommt, diesen großen Teil aus dem Blick zu verlieren."
Debatte um ein Sexkaufverbot
Sabine Constabel setzt sich für das so genannte Sexkaufverbot ein und wird dabei von einem Bündnis unterstützt, dass von "Linke gegen Prostitution" über die Synode der württembergischen Landeskirche, die Evangelische Allianz bis zur katholischen Menschenrechtsorganisation Solwodi reicht. Im Kern geht es bei diesem Modell darum, dass der Käufer von sexuellen Dienstleistungen kriminalisiert wird, die Prostituierten aber nicht:
"Da die Perspektive zu wechseln: Nicht mehr nur auf die Frau zu schauen, sondern darauf zu schauen, wer macht denn diesen Markt möglich. Das sind die, die die Nachfrage stellen: Man muss beim Freier ansetzen, und um beim Freier ansetzen zu können, ist eine gesetzliche Regelung notwendig, und die nennt sich Sexkaufverbot."
Die Forderung nach einem Sexkaufverbot wird auch von Bundestagsabgeordneten wie dem SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach und dem ehemaligen Gesundheitsminister Hermann Gröhe von der CDU unterstützt:
"Es geht darum, die Frauen zu entkriminalisieren, also die Frauen werden überhaupt nicht belangt. Klar ist, die Frauen sind die, die gehandelt werden und die keine Wahl haben. Das Sexkaufverbot setzt bei der Nachfrage an."
Kriminalisierung der "Freier", nicht der Frauen
Silvia Vorhauer von der Dortmunder Mitternachtsmission, einem Verein der evangelischen Diakonie, wendet sich entschieden gegen ein Sexkaufverbot:
"Wir können von unserer Erfahrung berichten, dass Verbote nichts nützen: Prostitution lässt sich nicht verbieten, nur verschieben. Die werden weiterarbeiten. Aber um ihre Kunden schützen zu können, müssen sie sich verstecken. Ihre Kunden dürfen nicht gesehen werden. Das heißt, dass sie sich auch verstecken müssen und dass die ganze Prostitution dann in einem gefährlichen, schwer kontrollierbaren Dunkelbereich abwandert."
Und auch die Sexarbeiterin Undine befürchtet vor allem eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen:
"Die Transparenz wird stark eingeschränkt, Kunden versuchen ihre Identität zu verschleiern, was dazu führt, dass, wenn Übergriffe stattfinden, die schwer verfolgt werden können."
Ein Sexkaufverbot, wie es in Schweden, Norwegen und auch Frankreich praktiziert wird, setzt nicht nur auf die Kriminalisierung der "Freier", sondern sowohl auf Ausstiegshilfen als auch auf Aufklärungs- und Bildungsmaßnahen, betont Sabine Constabel vom Verein "Sisters":
"Kinder müssen schon lernen, dass es für alle besser ist, wenn man Beziehungen auf Augenhöhe eingeht und wenn man nicht, nur weil man mehr Geld hat, sich einen Menschen zur sexuellen Benutzung kauft."
Den Gegnern des Sexkaufverbots, zu denen unter anderen neben der evangelischen Diakonie auch der Sozialdienst katholischer Frauen gehören, geht es ebenfalls darum, den gesellschaftlichen Blick auf Prostitution zu verändern. Silvia Vorhauer von der Dortmunder Mitternachtsmission:
"Eines der größten Probleme von Menschen in der Prostitution ist die gesellschaftliche Diskriminierung. Auch die selbstbestimmtesten Frauen in der Sexarbeit haben immer noch Probleme, sich ihren Eltern oder Kindern zu offenbaren."
Und Renate Jachmann-Willmer vom Sozialdienst katholischer Frauen findet die Sexkaufdebatte eher kontraproduktiv:
"Diese Debatte hilft nicht weiter. Wir als SKF sind der Meinung, wir müssen von den Frauen her gucken und uns gemeinsam einsetzen gegen Misshandlung und Schutzlosigkeit."
Sowohl kirchliche als auch politische Positionen zur Sexarbeit sind also alles andere als eindeutig. Ein Ende der Prostitution wird es also vorerst wohl nicht geben.