Gisa Funck: Hallo, Herr Winkels. Wir wollen aus aktuellem Anlass über die hitzig diskutierte Causa Robert Menasse sprechen. Beziehungsweise darüber, dass der österreichische Schriftsteller bei öffentlichen Auftritten und in Reden dem ersten Präsidenten der Europäischen Kommission, Walter Hallstein, offenbar falsche Zitate in den Mund gelegt hat. Um was genau geht es hier, oder genauer gefragt. Was erregt die Gemüter denn eigentlich so sehr?
Hubert Winkels: Heute ist eigentlich nur etwas sichtbar geworden, was schon eine ganze Weile untergründig schwelt. Eigentlich geht der Fall auf 2013 zurück, lange bevor der mittlerweile berühmte Roman "Die Hauptstadt" von Robert Menasse erschienen ist. Damals hat Robert Menasse zusammen mit der bekannten Politik-Wissenschaftlerin Ulrike Guérot in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" ein Manifest, einen aufwiegelnden Essay geschrieben für die "Abschaffung der Nation" und hat dabei dem Europa-Politiker Walter Hallstein, dem ersten EU-Präsidenten nach dem Krieg, man muss wirklich sagen "zudiktiert". Also, Menasse hat ihm wirklich falsche Sätze zudiktiert wie: "Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee" und Vergleichbares.
Walter Hallstein wäre es demnach dann schon in den 50er-Jahren um die Abschaffung des Nationalstaats gegangen. Und das ist jahrelang niemandem weiter aufgefallen. Bis dann der Historiker Heinrich August Winkler 2017 doch mal nachgefragt hat, woher diese, von Menasse verwendeten Zitate eigentlich kämen, hat aber nie eine Antwort erhalten. Und dann ging das über alle möglichen Archive in Brüssel und in Deutschland, um feststellen zu können: Dieses Zitate sind falsch. Die hat es niemals gegeben, auch nicht in einer Rede.
Eine frei erfundene Antrittrede in Ausschwitz
Funck: Also sind die von Robert Menasse verwendeten Zitate von Herrn Hallstein defintiv falsch?
Winkels: Genau, die hat es nie gegeben. Die hat Robert Menasse quasi erfunden. Ein zweiter Punkt kommt dazu und bringt die Sache heute so ein bisschen zum Hochkochen. Es ist außerdem jemandem aufgefallen, dass Herr Menasse auch noch regelmäßig behauptet, dass Walter Hallstein 1958 seine Antrittsrede zu seiner EU-Kommissions-Präsidentschaft in Auschwitz gehalten hätte. Das wiederum hätte einem auch schon früher auffallen können, dass dies nicht denkbar ist: in Polen 1958 eine Rede für das Ende des Nationalstaates zu halten, von einem westlichen Politiker zumal. Es ist aber jetzt erst ruchbar geworden, und man fasst jetzt diese beiden Dinge zusammen und wundert sich, was Robert Menasse da treibt und warum. Und wenn man ihn fragt, bekommt man eine relativ dürre Antwort, nämlich dass Walter Hallstein das nur sinngemäß gesagt hätte - und dass der Wortlaut unwichtig wäre. Das ist natürlich völlig verrückt für einen Philologen und literarischen Autor, den Wortlaut abzuwerten.
Funck: Gut, Robert Menasse selbst nimmt diese Vorwürfe relativ gelassen und verteidigt sich mit dem Hinweis auf seine dichterische Freiheit. Er sei eben Schriftsteller und nicht Wissenschaftler und auch nicht Journalist. Kann man diese Haltung nicht auch irgendwie verstehen?
Wie viel dichterische Freiheit darf man einem Autor zubilligen?
Winkels: Das ist nicht ganz unwitzig. Und wenn er das alles in seinem Roman "Die Hauptstadt" gemacht hätte, würde man das vielleicht gelten lassen. Aber all das Inkriminierte trifft auf diesen Roman "Die Hauptstadt" gar nicht zu. Der Roman insinuiert zwar auch, dass in Brüssel seinerzeit eine starke Idee da gewesen wäre, Auschwitz als Hauptstadt Europas zu fixieren, aber all die Zitate, um die es geht und die ich eben nochmals zitiert habe, die haben mit diesem Roman nichts zu tun. Die Frage ist eigentlich: Was reitet Menasse, neben seinem Roman diese Geschichtsfälschung zu betreiben? Und diesen Wunschtraum, es möge schon 1958 jemand Wichtiger an ein Europa ohne Vaterländer gedacht haben, an ein Europa ohne Nationen, in die Welt zu setzen? Was reitet ihn, diese Lüge zu verbreiten?
Wenn sein Roman das Subjekt wäre, dann wäre dieser viel, viel schlauer als sein Autor. Denn in dem Roman scheitert das geplante Auschwitz-Projekt zur Begründung der Europäischen Union durch die Auschwitz-Erinnerung, weil zu viel Falschheit im bürokratischen Spiel ist. Der Roman macht also etwas Richtiges: Er dekonstruiert den Versuch, die Geschichte politisch zu beherrschen. Und nachher, im nicht-fiktionalen Sprechen, erlügt sich Robert Menasse diese Idee als historisch real, folgt seinem Wunschtraum bis hinein in die Geschichtsfälschung.
Funck: Vielen Dank für diese Einschätzung, Hubert Winkels.