Christine Heuer: Die Türkei ist geostrategisch wichtig für die EU, sie ist wichtig in der Sicherheits- und auch in der Flüchtlingspolitik. Aber wie steht es mit den ökonomischen Beziehungen? Wer profitiert da mehr voneinander? Die EU und Deutschland, oder eben die Türkei? Das möchte ich jetzt gleich mit Ludwig Schulz, dem Türkei-Experten beim Deutschen Orient-Institut in Berlin besprechen. Erst einmal guten Tag, Herr Schulz!
Ludwig Schulz: Guten Tag, Frau Heuer!
Heuer: Und beginnen wollen wir aber trotzdem mit der Frage nach der Todesstrafe, denn das ist ja das Symbol, das entscheidende Symbol für den Weg, den die Türkei jetzt einschlagen wird. Die türkischen Bürger, wir haben das eingangs gehört, rufen nach der Todesstrafe. Ihr Tipp: Wird Erdogan sie wieder einführen?
Schulz: Mein Tipp wäre, dass es dazu kommen wird, allerdings nach einem längeren Verfahren, Gespräche im Parlament, es gibt ja auch internationale Verträge oder Abkommen, die da zuerst mal revidiert werden müssen, und anderes. Also das dauert noch eine Zeit lang. Aber, anders, wie er selbst es sagt, wenn das Volk das möchte, dann passiert das – er treibt ja die Debatte an, er führt diese Agenda in gewisser Weise an, und insofern, das Parlament wird sich damit beschäftigen, und ich gehe dann von einem Votum aus, wahrscheinlich sogar dafür.
"Es ist eine Bedingung gewesen der EU, dass die Todesstrafe in ihren Mitgliedsländern abgeschafft wird"
Heuer: Und damit ist der Beitrittsprozess zu Ende.
Schulz: Gewissermaßen, denn es ist eine Bedingung gewesen der Europäischen Union, dass die Todesstrafe in ihren Mitgliedsländern abgeschafft wird. Das hat man so gewissermaßen beschlossen, das ist nicht Teil der Kopenhagener Kriterien, aber in Europa ist das eben gewissermaßen stehendes Recht. Allerdings, der Verweis ist erlaubt, auch in den USA, etabliertermaßen eine Demokratie, dort gibt es die Todesstrafe. Insofern, innerhalb des türkischen Diskurses, innerhalb der türkischen Diskussionen ist dieser Verweis auf die USA zumindest heranzuziehen.
Heuer: Aber heißt das, für Erdogan spielt jetzt nur noch eine Rolle, was in der Türkei diskutiert wird? Er schlägt die Warnungen der EU in den Wind und riskiert damit, dass diese Beitrittsverhandlungen zu Ende sind. Was schließen wir daraus? Interessieren sie ihn nicht, sind die wirtschaftlich viel zu unwichtig für ihn?
Schulz: Zum letzteren Punkt vielleicht gleich, weil die Wirtschaft ist natürlich wichtig für die Türkei, und die Wirtschaftsbeziehungen zur EU. Ich denke, da sind aber auch andere Punkte ganz relevant momentan. Erst mal diese nationale Bewegung, die Erdogan hier anführen möchte, diesen Rallye-around-the-Flag-Effekt haben wir ja sehr eindrucksvoll gesehen, also das Sammeln um die nationale Flagge. Hier geht es vor allen Dingen jetzt um eine innenpolitische Agenda, das Präsidialsystem umzusetzen und anderes. Aber tatsächlich, die Wirtschaft ist wichtig. Fast 50 Prozent der Waren, die in die Türkei kommen, kommen aus Europa, kommen aus der EU. Und umgekehrt ist auch die Türkei zumindest auf Platz sieben der wichtigen Wirtschaftspartner der EU. Also sie ist auch siebtgrößte Wirtschaft innerhalb Europas. Und das ist alles so wichtig, und die Wirtschaftsbeziehungen sind so eng, dass man hier weiter im Endeffekt arbeiten muss.
Heuer: Ja, trotzdem findet Recep Tayyip Erdogan ja offenbar, dass ihn das nicht in erster Linie interessieren muss. Kann die Türkei es sich leisten, mit der EU zu brechen?
Schulz: Sie riskiert es zumindest. So weit möchte ich doch gehen in meinen Vermutungen, denn wir haben ja zum einen gesehen, wenn es um Demokratie geht und das politische System, das sich in der Türkei etablieren soll, da wird immer darauf verwiesen, dass die Türken doch selbst ihre eigene Zukunft wählen dürfen, und das ja demokratisch gewissermaßen tun. Allerdings, wenn es um die Wirtschaft geht, hier sind die Beziehungen sehr eng, und die Europäer, das hat man am Fall Russlands zum Beispiel gesehen, tun sich auch schwer mit Sanktionen zum Beispiel oder hier wirtschaftlich, wirtschaftspolitisch gegen einen wichtigen Handelspartner vorzugehen. Da muss es schon zu ernsthaften Schädigungen der Beziehungen kommen, nicht nur in der Entwicklung in dem jeweiligen Land, sondern Schädigung der Beziehungen. Und da muss man erst man eben sehen, wozu die EU wirklich in der Lage ist. Also kurz, ja, die Türken riskieren das.
Heuer: Aber, Herr Schulz, warum sind denn die Europäer da so zögerlich? Geht das Geld vor Menschenrechten, auch aus Sicht mancher Europäer?
Schulz: Zumindest darf es das natürlich nicht, normativ sozusagen gesehen. Und aus unserer deutschen Perspektive tendieren wir dazu, dass es diese Diskussion gar nicht geben darf, dass die Menschenrechte vorgehen.
"Es gibt durchaus Maßnahmen, die man gegenüber der Türkei wählen kann"
Heuer: Aber was spielt sich im Hintergrund ab, das ist ja die Frage. Man kann das ja – öffentlich würde man das ja nie sagen, niemand würde das sagen. Aber stimmt es nicht tatsächlich, dass wir unsere ökonomischen Interessen, dass unsere Politiker in Deutschland und der EU die eigenen ökonomischen Interessen dann doch am Ende ein bisschen höher stellen als die Menschenrechte eben jetzt zum Beispiel in der Türkei?
Schulz: Am Beispiel Russlands hat man ja gesehen, dass man sich auch durchringen kann und die Sanktionen dann konsequent auch umsetzt. Und es gibt also hier durchaus Maßnahmen, die man gegenüber der Türkei wählen kann. Beitrittshilfen zum Beispiel, dass man darüber diskutiert. Den Flüchtlingsdeal lassen wir jetzt lieber mal außen vor, der wird außen vor behandelt. Aber anhand von Beitrittshilfen, die ja einer Demokratisierung der Türkei zum Beispiel zugutekommen sollen, hier könnte man zum Beispiel ansetzen. Aber auch hier sind die Entscheidungsprozesse innerhalb der EU sehr kompliziert. Ich glaube, man darf die Diskussion nicht zu hoch hängen. Wichtig ist zum Beispiel jetzt, dass man überhaupt mal wieder ins Gespräch kommt. Der Bundesaußenminister, auch die EU-Außenbeauftragte, niemand ist bislang nach Ankara gefahren und hat das Gespräch gesucht. Jetzt wird es dringend Zeit, damit man hier vorankommt und nicht mehr übereinander spricht, sondern miteinander.
Heuer: Herr Schulz, aber was sollten so Leute wie Federica Mogherini oder der deutsche Außenminister in der Türkei in den Gesprächen dann sagen? Wie hart sollte denn da oder wie offen sollte da gesprochen werden?
Schulz: Ich glaube, dass man mit der Türkei sehr offen sprechen kann. Dass man ihnen auch klar machen muss, wenn die Todesstrafe beispielsweise eingeführt wird, dann ist dieser Beitrittsprozess beendet, dann gibt es die Beitrittshilfen nicht, die zwar nicht exorbitant hoch sind, aber immerhin wichtig sind für die türkische Verwaltung zum Beispiel, dass sie modernisiert wird und vieles anderes mehr. Wie gesagt, Wirtschaftssanktionen – nach der Geschichte mit Russland tut sich auch die deutsche Wirtschaft schwer, einen wichtigen Markt dann zu verlieren. Andererseits, man muss mit ihnen offen reden, dass man auch ein Interesse hat, die Türkei demokratisieren zu wollen. Sie darf ihr eigenes Schicksal selbst wählen, oder die Bevölkerung darf das tun, aber man möchte, man hat ein europäisches Interesse an einer demokratischen Türkei, und das muss man ihnen klar machen, was Demokratie auch bedeutet.
Heuer: Aber bisher reagiert die türkische Führung darauf ja nicht, beziehungsweise sie reagiert, indem sie sagt, wir lassen uns nichts vorschreiben, wie Sie es gerade gesagt haben, und wir gehen unseren Weg entschieden weiter, und wir lassen uns nicht reinreden. Wo ist denn der Hebel sozusagen an dem türkischen Präsidenten, an dessen Haltung was verändern zu können aus unserer Perspektive. Womit kann man diesen Mann beeindrucken?
Schulz: Ich glaube, man könnte ihn nur beeindrucken, indem man wirklich fest sich in das Gespräch begibt und fest auch an den gemeinsamen Vorstellungen eines gemeinsamen Europas vielleicht arbeitet.
"Es ist weiterhin Recep Tayyip Erdogan, mit dem man verhandeln muss"
Heuer: Aber Herr Schulz, die hat er ja offenbar ja nicht mehr.
Schulz: Gewissermaßen ist der Zug abgefahren, da gebe ich Ihnen recht. Aber es ist weiterhin Recep Tayyip Erdogan, mit dem man verhandeln muss, mit dem man in verschiedenen Bereichen, und seiner Regierung, mit dem man in verschiedenen Bereichen zusammenarbeiten muss. Wir können uns die Türkei nicht wegradieren. Sie wird da bleiben, und wir müssen im Endeffekt damit umgehen, wie die Türkei sich entwickelt.
Heuer: Wenn es darum geht, wer wen überzeugt oder wer sich durchsetzt in diesem Wertedisput, der da stattfindet, dann stellt sich ja auch die Frage unterm Strich, wer wen mehr braucht. Brauchen wir, braucht Europa die Türkei mehr, oder braucht die Türkei doch stärker die Europäische Union?
Schulz: Wenn man die Wirtschaftsbeziehungen zum Beispiel wieder sieht, ist das Interesse gleichsam hoch und ausbaufähig. Und es wird ausgebaut. Die Handelszahlen sind gewachsen in beiderlei Hinsicht, insbesondere auch die deutschen Handelszahlen innerhalb dieses Jahres. Da ist Interesse da, und ich denke, die große Empathie, mit der wir über die Türkei berichten, die Medien beispielsweise, aber auch, mit der die Bevölkerung sich über die Türkei Gedanken macht, zeigt auch, wie groß das Interesse und wir groß auch der Wille der Gesellschaft ist, dass die Türkei sich eigentlich in eine gute Richtung bewegt. Ich glaube, das ist etwas, was man den Türken mehr klar machen muss, dass es in Deutschland schon ein Interesse gibt an einer guten Entwicklung für die Türkei.
Heuer: Und Sie hoffen darauf, dass der stete Tropfen dann den Stein höhlt. So klingt das ein bisschen.
Schulz: Tja. Ja.
Heuer: Ludwig Schulz, Türkei-Experte beim Deutschen Orient-Institution in Berlin. Herr Schulz, haben Sie Dank für das Gespräch!
Schulz: Ich danke Ihnen, Frau Heuer!
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