"Tokyo 2020" kommt jetzt also – offiziell auf jeden Fall. So hat es John Coates, Vizepräsident des IOC und Chefbeaufsichtiger für die Spiele in Japan, Anfang der Woche verkündet. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur AFP versprach er: "Sie werden stattfinden, ob mit oder ohne Covid. Die Spiele werden am 23. Juli nächsten Jahres beginnen."
In Anspielung auf die Katastrophe von 2011, als Japan von einem Erdbeben, Tsunami und einer Atomkatastrophe erschüttert wurde, fügte Coates das seit Monaten verkündete Mantra erneut hinzu: "Die Spiele waren ihrem Motto nach die Wiederaufbauspiele nach der Verwüstung durch den Tsunami. Jetzt werden es so ziemlich die Spiele, die Covid erobert haben, das Licht am Ende des Tunnels."
Auf eine Art sind es Sätze, wie sie von Vertretern des Internationalen Olympischen Komitees zu erwarten sind. Das IOC erzielt ja nur dann Einnahmen, wenn es Olympische Spiele gibt. Ein Ausfall würde für den Sportdachverband riesige Verluste bedeuten.
Gastgeber prägt eigentlich Thema der Spiele
Interessant an Coates‘ Aussagen sind aber zwei Dinge: Erstens hat da ein IOC-Vertreter offenbar eigenhändig entschieden, dass die Pandemie den Schäden der Naturkatastrophe von 2011 die Show stehlen soll. Der Fokus der Spiele soll nicht mehr so sehr auf dem Wiederaufbau liegen, sondern auf dem Sieg über Covid-19. Dabei ist es eigentlich Domäne der Gastgeber, solche Themen zu prägen. Und die würden bestimmt nicht zulassen wollen, dass der vermeintliche Wiederaufbau von Fukushima nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht.
Zweitens will der IOC-Vertreter Coates wohl auch gleich entschieden haben, dass die Spiele auf keinen Fall ausfallen werden. Dabei hat die japanische Seite zuletzt immer wieder gesagt, man werde die Spiele eher absagen als sie ein zweites Mal zu verschieben. Und Japans gerade zurückgetretener Premierminister Shinzo Abe will partout kein "Tokyo 2020" ohne Zuschauer in den Stadien. So etwas werde es mit ihm nicht geben, sagte Abe. Das IOC versicherte öffentlich, man habe für alles Verständnis.
Jetzt gilt das offenbar nicht mehr. Dabei spiegeln die Äußerungen von John Coates wohl nur die Haltung des IOC wider und nicht die der japanischen Seite. Auf eine Anfrage, ob man sich über diese neue Linie mit allen Beteiligten abgestimmt habe, schreibt die Presseabteilung des IOC in einer Email nur: "Wir stehen in ständigem Austausch mit dem Organisationskomitee der Olympischen Spiele Tokyo 2020."
Aber ob man denn auch in Japan jetzt der Meinung sei, die Spiele werden auf jeden Fall stattfinden – "mit oder ohne Covid" –, will man sich trotz des "ständigen Austauschs" nicht äußern: "Wir schlagen vor, dass Sie direkt dort nachfragen."
Tokioter Organisationskomitee vermeidet klare Antwort
Auch seitens des Tokioter Organisationskomitees stiehlt man sich um eine klare Antwort. Auf die Frage, ob John Coates‘ Ankündigung mit der japanischen Seite abgesprochen war, heißt es: "Letzte Woche haben die Regierung Japans, die Tokioter Metropolregierung und das Tokyo 2020 Organisationskomitee zu einem Koordinierungstreffen für Covid-19-Maßnahmen zusammengefunden, und wir haben konkrete Schritte formuliert. Das IOC ist voller Absicht, die Spiele der 32. Olympiade vom 23. Juli bis zum 8. August 2021 in Tokio zu feiern. Unsere Task Force ist 100-prozentig auf dieses Ziel fokussiert."
Anders reagiert die Tokioter Metropolregierung, die der vom Organisationskomitee erwähnten Task Force auch angehört. Dort sagt eine Sprecherin klar und deutlich: "Nein, die Tokioter Regierung hat sich mit Herrn John Coates nicht zu seinem Statement besprochen oder abgestimmt.
Dabei wird es kaum Zufall sein, dass jemand vom IOC gerade jetzt eine neue Linie vorgibt. Seit vor zwei Wochen Japans Premierminister Shinzo Abe zurückgetreten ist, klafft im ostasiatischen Land ein Machtvakuum. Shinzo Abe war bei der japanischen Bevölkerung zuletzt auch deshalb in Misskredit geraten, weil er im Frühjahr zu lange am Olympiaplan für diesen Sommer festhielt, anstatt sich auf die Pandemie zu konzentrieren.
Mittlerweile hat die Olympiaskepsis in Japan zugenommen. In Umfragen sprechen sich sowohl Personen als auch Unternehmen mehrheitlich dafür aus, dass die Spiele auch im nächsten Jahr nicht stattfinden. Beim Thema "Tokyo 2020" ist die japanische Regierung zuletzt eher kleinlaut geworden.
IOC entscheidet nicht das erste Mal über Köpfe hinweg
So übernimmt nun das IOC die Führung. Und es ist nicht das erste Mal, dass man über die Köpfe in Japan hinweg entscheidet. Als letztes Jahr über den heißen Tokioter Sommer diskutiert wurde, verkündete plötzlich das IOC eigenhändig, dass der olympische Marathon nach Sapporo auf die Nordinsel Hokkaido verlegt werde. Tokios Bürgermeisterin Yuriko Koike protestierte öffentlich gegen den Plan – musste aber schließlich einlenken.
So ist es auch diesmal. Einen Tag, nachdem der IOC-Offizielle John Coates für sich beschlossen hatte, dass "Tokyo 2020" nun im Sommer 2021 kommen muss, sagte auch Japans Olympiaministerin Seiko Hashimoto: Die Spiele müssen stattfinden, "um jeden Preis."
IOC und Organisationskomitee wollen auch ohne den zurückgetretenen Premierminister Shinzo Abe an einem Strang ziehen. Nur, dass die großen Entscheidungen jetzt offenbar nicht in Tokio getroffen werden, sondern in der Schweiz, dem Sitz des IOC.