Dirk-Oliver Heckmann: In welche Richtung soll, in welche Richtung muss sich Europa entwickeln, nachdem sich das Vereinigte Königreich dazu entschieden hat, die EU zu verlassen, und wie kann Europa wieder so gestaltet werden, dass es wieder attraktiver wird? Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat ja gestern Vorschläge dazu gemacht in einem sogenannten Weißbuch. Ein Vorschlag: ein Europa der konzentrischen Kreise. Jedes Mitgliedsland soll in Zukunft selbst entscheiden, wie viel Europa man mitmache und wie viel nicht. - Darüber können wir jetzt sprechen mit Wolfgang Schüssel von der ÖVP, Bundeskanzler in Österreich in den Jahren 2000 bis 2007. Schönen guten Morgen, Herr Schüssel.
Wolfgang Schüssel: Guten Morgen, Herr Heckmann.
Heckmann: Herr Schüssel, Junckers Weißbuch, ist das eine Geburtsurkunde für die EU zu 27 oder möglicherweise sogar der Anfang vom Ende, weil die Union ausfranst, weil die Zentrifugalkräfte möglicherweise sogar noch stärker werden durch die Modelle, die jetzt vorgeschlagen worden sind?
Schüssel: Die Nachrichten vom Ableben der Union sind bei Gott übertrieben. Gott sei Dank. Geburtsurkunde ist, glaube ich, auch noch nicht der richtige Ausdruck. Aber es ist gut, dass eine solche Diskussion beginnt. Das ist der Startschuss. Und wann, wenn nicht jetzt müssen wir darüber reden. Vor neun Monaten haben die Briten ihren Austritt entschieden. Vor vier Monaten hat der neue amerikanische Präsident sein Amt angetreten.[*] Wir haben eine ganze Reihe von Krisen rund um uns, einen Ring of Fire um die Europäische Union. Wir müssen jetzt uns konzentrieren, was wir tun in einer solchen veränderten Welt. Daher ist, glaube ich, jetzt der richtige Zeitpunkt. Der ist ohnedies überfällig und man sollte mit Leidenschaft, mit Augenmaß und mit guten Argumenten in diese Diskussion eintreten. Gut, dass es begonnen hat!
"Die Kommission kann diese Diskussion nicht vorentscheiden"
Heckmann: Jean-Claude Juncker hat ja gestern fünf Modelle, fünf Szenarien vorgeschlagen, hat sich selber aber nicht festgelegt, was er präferiert, hat nur gesagt, die Reduzierung auf einen Binnenmarkt, das komme für ihn nicht infrage. Finden Sie das nicht ein bisschen feige, dass er sich da nicht näher festgelegt hat?
Schüssel: Nein, das ist klug, denn die Diskussion hat ja begonnen und die Kommission kann diese Diskussion ja nicht vorentscheiden. Da müssen die Mitgliedsstaaten, die nationalen Parlamente, das Europäische Parlament und ich hoffe auch sehr viele Bürger und Medien darüber mitdiskutieren. Er hat schon auch seine Präferenzen, glaube ich, zum Ausdruck gebracht. Am liebsten wäre ihm wahrscheinlich eine Mischung von dem vierten und fünften Modell, also weniger, aber dafür effizienter handeln und in wichtigen Bereichen auch mehr Europa. Das sind seine Prioritäten und ich glaube, in vielen Bereichen hat er wirklich recht damit.
Heckmann: Sie würden das auch sehen? Sie würden sagen, wir brauchen mehr Europa, obwohl die Bevölkerung in vielen Ländern, in vielen europäischen Mitgliedsländern das ja völlig anders sieht?
Schüssel: Ja. Aber der Vorschlag etwa im vierten Szenario ist schon, sich zurückzuziehen auf die wichtigen Themen, etwa Schutz der Außengrenze, gemeinsame Außenpolitik, sprechen mit einer Stimme gegenüber den Chinesen, Russen, Amerikanern, aber zugleich natürlich auch zurücknehmen und viele Dinge einfach als Ziel formulieren und es den Mitgliedsstaaten überlassen, wie man dieses Ziel konkret erreichen will. Weniger Mikromanagement, aber dafür mehr und effizientere große Linien. Das ist nicht unvernünftig. Und daneben auch die Möglichkeit für Mitgliedsstaaten, in einer verstärkten Zusammenarbeit noch mehr und ehrgeiziger voranzugehen.
Schüssel hält in vielen Bereichen europäische Regelungen für überflüssig
Heckmann: Um es mal ein bisschen konkreter zu machen, Herr Schüssel. Was sind die Bereiche, aus denen sich die EU zurückziehen sollte?
Schüssel: In Bereichen etwa der Gesundheitspolitik, in vielen Regelungen, die sehr viele Bürger durchaus ärgern, wie das mit dem Salz ist, mit dem Zucker, wie auf den Almen etwa die Hygiene geregelt werden soll. Das sind Dinge, die man als Ziel vorgeben kann, wie die Gesundheitspolitik, die Zielsetzungen aussehen, aber da sind, glaube ich, die Regionen, die Nationalstaaten besser geeignet, weil sie näher am Bürger dran sind. Auch in der Verkehrspolitik: Fußgängerzonen, Tempolimits. In vielen dieser Bereiche, auch Standards für Haushaltsgeräte, da muss nicht unbedingt eine europäische Regelung herkommen. Da kann man einfach gemeinsame Ziele, was Klimaschutz betrifft, vorgeben und es den Mitgliedsstaaten überlassen, hier daraus etwas zu machen.
Heckmann: Gibt es weitere Bereiche, wo Sie sagen würden, da sollte die EU in Zukunft die Finger von lassen, Umweltpolitik, Klimaschutzpolitik?
Schüssel: Klimaschutz insgesamt als Ziel ist ganz wichtig, und das kann man nur auf der globalen Ebene lösen, und da kann nicht jedes Land alleine vorangehen, sondern da muss die Europäische Union natürlich Farbe bekennen und muss Ziele formulieren und letztlich auch mit den Chinesen, Russen und anderen großen Playern durchsetzen.
Aber ich glaube schon, dass auch im Umweltbereich in den Fragen, wo etwa jetzt bestimmte Schutzzonen geschaffen werden sollen, dass hier nicht Brüssel etwas vorgeben muss, sondern da kann man durchaus den Ländern die Möglichkeit geben: in der Regionalentwicklung, in der Landwirtschaftspolitik, bei den Beihilferegelungen. Da gibt es sehr viel Spielraum, wie man sich zurückziehen kann, ohne dabei das große Ganze zu gefährden.
Heckmann: Aber besteht dann nicht die Gefahr, dass man da in Kleinstaaterei zurückfällt und Probleme, die einfach regional nicht gelöst werden können, nicht mehr lösen kann?
Schüssel: Aber im Gegenteil! Ich glaube, die Kleinstaaterei ist dort am gefährdetsten, wenn man die großen Ziele aus den Augen verliert, und ich glaube nicht, dass es klug wäre, sich jetzt mit einem Bauchladen von 500 Themen europäisch zu beschäftigen, sondern man soll sich, genauso wie die Gründungsväter ja nicht jetzt nur die ganz große Vision gesehen haben, sondern die haben begonnen mit den Fragen, die brennend waren: Wie kann man gemeinsam Stahl, Kohle und Eisen bewirtschaften? In der heutigen Zeit würde das etwa heißen: Wie können wir gemeinsam die Außengrenze schützen? Wie können wir gemeinsam den Frieden außerhalb unserer Grenzen schützen? Sollten wir nicht eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungsstrategie entwickeln? Das sind eigentlich ganz große Themen, die gar nichts mit Kleinstaaterei zu tun haben.
Heckmann: Andere würden sagen, man müsse die Sozialpolitik, möglicherweise auch die Steuerpolitik eigentlich eher angleichen, um für mehr Gerechtigkeit zu sorgen in Europa.
Schüssel: Ja. Aber das kann man sinnvollerweise eher in einer verstärkten Zusammenarbeit dort machen, wo Länder auch ähnliche Wirtschaftsniveaus haben. Sie dürfen ja nicht vergessen: Wir haben heute in der Union sehr große wirtschaftliche Unterschiede, die übrigens sehr hilfreich durch die Union auch zum Teil ausgeglichen werden. Etwa das EU-Budget macht insgesamt ein Prozent unserer Wirtschaftskraft aus, aber ärmere Länder bekommen ja bis zu drei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung aus den Hilfen der Europäischen Union. Oder etwa die Niedrigzinspolitik hilft zum Beispiel den Griechen, dass sie pro Jahr sich acht Milliarden Euro an Zinsen ersparen. Da wird sehr viel eigentlich gemeinsam zum Guten gewendet, und darauf sollte man sich konzentrieren und nicht so sehr auf die kleinen Themen.
"Gute Politik nimmt Populisten den Wind aus den Segeln"
Heckmann: Europa erlebt ja derzeit eine Hochphase des Rechtspopulismus, Herr Schüssel. Die Frage ist, wie kann man dem begegnen. Sie selbst haben ja mit der rechtsnationalen FPÖ koaliert. Muss man nicht sagen, das hat die Rechtspopulisten erst hoffähig gemacht? War das rückblickend möglicherweise nicht ein Fehler?
Schüssel: Wie ich die Regierung gebildet habe, waren sie bei 27 Prozent, und am Ende meiner Amtszeit waren sie bei zehn Prozent, nur damit wir die Dinge wiederum in die richtige Relation bringen.
Heckmann: Aber sie sind nach wie vor sehr stark.
Schüssel: Und kaum waren sie wieder in Opposition, haben sie sich wieder erholt in Richtung auf 30 Prozent. - Ich glaube nicht, dass es ein generelles Rezept gibt. Das muss schon jedes Land für sich selber entscheiden. Wichtig ist, dass die europäischen Kräfte, die positiven europafreundlichen Kräfte aufstehen und mit Leidenschaft dieses Europa verteidigen. Da gibt es so viele Dinge, die man positiv erzählen kann den Menschen. Wir leben in einer Zeit, die Generationen vor uns hatten es viel schlechter als heute. Die Wirtschaftskraft der Union hat sich verfünfzigfacht seit der Gründung. Niemand redet darüber. Wir sind meiner Meinung nach in einer Situation, wo wir mit Leidenschaft und mit großer Überzeugungskraft hier auftreten müssen. Schon Robert Schuman hat bei der Gründung der Union gesagt, es gibt immer zwei große Kräfte in der Politik: die Dynamik der Angst und die Dynamik der Hoffnung. Und ich finde, wir müssen dieses "ja, aber", dieses Ja zu Europa, aber, und dann kommen viele kleine Einwände, das müssen wir wegbringen. Wir müssen gemeinsam aufstehen, durch gute Politik und durch gute Erklärungen nimmt man den Populisten am meisten Wind aus den Segeln.
Heckmann: Wir werden sehen, wie sich das weiter entwickelt - live hier im Interview war das Wolfgang Schüssel, Bundeskanzler a. D. Österreichs. Herr Schüssel, schönen Dank für das Gespräch.
Schüssel: Ich danke Ihnen.
Heckmann: Und schönen Tag noch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
[*] Anm. d. Red.: Gemeint ist an dieser Stelle die Wahl des US-Präsidenten vor rund vier Monaten, die eigentliche Amtsübergabe fand erst am 20.1.2017 statt.