Die Opposition aus Linkspartei und Grünen verlangt von der Bundesregierung einen offensiveren Umgang mit den Massakern an den Armeniern. Die Linken-Abgeordnete Ulla Jelpke warf der großen Koalition im Parlament vor, immer noch übertrieben Rücksicht auf die Türkei zu nehmen. Mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan müsse endlich "Klartext" geredet werden. Jelpke fügte hinzu: "Dieses Versteckspiel hinter sprachlichen Spitzfindigkeiten ist beschämend." Deutschland müsse sich vorbehaltlos zur Mitverantwortung bekennen. Zudem müsse das Parlament die Armenier um Verzeihung bitten.
Grünen-Chef Cem Özdemir kritisierte ebenfalls die bisherige Praxis der Bundesregierung, den Begriff Völkermord zu vermeiden. "Wir sind es den Opfern schuldig, dass niemand ausgelassen wird und alles beim Namen genannt wird." Auch für die Türkei sei wichtig, dass der Völkermord aufgearbeitet werde. Eine Öffnung der Grenze zu Armenien liege auch in ihrem Interesse. "Wer sich mit den dunklen Flecken der Geschichte beschäftigt, der wird nicht kleiner, sondern wächst daran."
Lammert bekennt sich zu deutscher Mitverantwortung
Zum Auftakt der Bundestagssitzung hatte auch Bundestagspräsident Norbert Lammert die Massaker an den Armeniern als "Völkermord" bezeichnet. "Das, was mitten im Ersten Weltkrieg im Osmanischen Reich stattgefunden hat, unter den Augen der Weltöffentlichkeit, war ein Völkermord. Er ist nicht der letzte im 20. Jahrhundert geblieben", sagte er. Zugleich bekannte er sich zur deutschen Mitverantwortung am damaligen Geschehen. Das Deutsche Kaiserreich war seinerzeit enger Verbündeter des Osmanischen Reichs.
Lammert fügte hinzu: "Umso größer ist die Verpflichtung, im Respekt vor den Opfern und in der Verantwortung für Ursache und Wirkung die damaligen Verbrechen weder zu verdrängen noch zu beschönigen." Deutschland habe niemanden über den Umgang mit seiner Vergangenheit zu belehren. "Aber wir können durch unsere eigenen Erfahrungen andere ermutigen, sich ihrer Geschichte zu stellen - auch wenn es schmerzt", erklärte er. Mit der Debatte zum 100. Jahrestag der Massaker verabschiedete sich die deutsche Politik von der weitgehenden Praxis, den Begriff Völkermord aus Rücksicht auf die Türkei zu vermeiden.
Zurückhaltender äußerte sich Außen-Staatsminister Gernot Erler (SPD). Erler, der im Bundestag als einziger Vertreter der Bundesregierung sprach, benannte die Verbrechen an den Armeniern nicht klar als "Völkermord". Er sprach von einer "genozidalen Dynamik", die es gegeben habe. Auch Erler bekannte sich aber zur "historischen Mitschuld" der Deutschen.
Gauck machte den Anfang
Bundespräsident Joachim Gauck hatte bereits gestern Abend bei einem Gedenkgottesdienst erstmals vom Völkermord an den Armeniern gesprochen. Er hatte sich damit über politische Bedenken hinweg gesetzt, dadurch die Beziehungen zur Türkei zu beschädigen.
Im Ersten Weltkrieg waren Armenier im Osmanischen Reich als vermeintliche Kollaborateure systematisch vertrieben und umgebracht worden. Nach Schätzungen kamen dabei zwischen 200.000 und 1,5 Millionen Menschen ums Leben. Die Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs lehnt die Bezeichnung Völkermord vehement ab.
Armenien gedenkt der bis zu 1,5 Millionen Opfer heute mit einer Gedenkveranstaltung in der Hauptstadt Eriwan. Deutschland wird bei den zentralen Feierlichkeiten durch einen Staatsminister vertreten.
(fwa/vic/stfr)