"Ein Teil der Bevölkerung wird nicht mitgenommen", erklärte Burkhard Hirsch. Die Bürger müssten aber das Gefühl haben, ernst genommen zu werden. Er schlug mehr direkte Demokratie vor, etwa durch Volksabstimmungen auf Bundesebene. Außerdem regte der frühere NRW-Innenminister an, dass Petitionen ab einer Zahl von 10.000 Unterzeichnern zwingend im Bundestag behandelt werden sollten, und zwar unter Beteiligung der Initiatoren.
Die sehr offensiv und emotional geführte Debatte in Großbritannien über einen Austritt aus der EU ist für Hirsch kein Argument gegen Bürgerbeteiligung: "Man muss fragen, was ist in England gemacht worden, um den Bürgern Europa zu erklären." Ähnliche Fehler mache die deutsche Politik beim Handelsabkommen TTIP. Man müsse den Menschen klarmachen, wofür sie Europa brauchten: "Europa wird ein Europa der Bürger sein, oder es wird nicht sein."
Das Interview in voller Länge:
Jürgen Zurheide: "Die Vergifter sind am Werk", titelt heute eine große deutsche Zeitung und sie meint damit natürlich Donald Trump, Farage, aber auch Gauland, die Vergifter im Sinne von Populisten oder Populismus, der über das hinausgeht, was Politiker natürlich sein müssen, nämlich populär. Und die Frage ist, was passiert ansonsten: Labour-Politikerin wird ermordet, Gewalt gibt es in der Politik, außerhalb der Politik. All das beunruhigt uns, was heißt das für unsere Demokratie? Darüber wollen wir reden mit Burkhard Hirsch, dem Altliberalen, den ich ganz herzlich begrüße.
Burkhard Hirsch: Guten Morgen, Herr Zurheide.
Zurheide: Herr Hirsch, wenn ich Sie heute frage, was hat sich in der Debattenlage verändert, hat sich irgendetwas verändert im Laufe der letzten 30, 40 Jahre … Mehr hysterisch, mehr populistisch sind so Begriffe, die ich in den Raum stelle, aber gleichzeitig mit einem Fragezeichen versehe.
Hirsch: Das ist eine schwierige Frage und die kann man nicht mit einem Satz beantworten. Ich glaube, dass … Politische Leidenschaften gibt es heute wie früher. Ich sehe im täglichen Leben, dass junge Leute, überwiegend junge Leute, aber nicht nur, leichter dazu neigen, Gewalt auszuüben. Denken Sie in Köln an die Frau Reker oder an jetzt den Vorgang in England oder Prügeleien, die Hooligans, die wirklich brutal Leute zusammenschlagen … Die Hemmschwelle ist geringer geworden. Das muss keine Folge der Politik sein, sondern das kann mit der sozialen Situation des Einzelnen zusammenhängen, das weiß ich nicht. Was ich aber bei der Politik vermisse, das ist die langfristige Bemühung darum, die eigene Politik zu erklären. Man darf sich nicht damit zufriedengeben, dass man im Bundestag oder im Parlament die Mehrheit hat, also entscheiden kann, was geschehen soll, sondern man muss sich überlegen, wie man die Minderheit dazu bewegen kann, die Politik zu akzeptieren oder zu tolerieren, die man durchsetzen will. Das heißt, man braucht das ständige Gespräch der Politik mit dem Bürger. Und da gibt es ein Defizit. Weil viele Leute sich daran gewöhnt haben, in Talkshows, in den Medien einzelne Leute zu hören, häufig dieselben oder ähnliche, und damit ist er selber aber nur Zuhörer, er kann sich an dem Gespräch nicht beteiligen. Wir sind früher, glaube ich, weit mehr in Versammlungen gegangen, auch außerhalb von Wahlen, und es sind auch weit mehr Leute zu solchen Versammlungen gekommen, um selber mitzureden.
Zurheide: Gab es möglicherweise zu anderen Zeiten einen intensiveren Diskurs auch innerhalb der eigenen Gruppe? Also, in Ihrer Partei hat es immer unterschiedliche Flügel gegeben, Ihre Partei hatte Schwierigkeiten, als da sehr zusammengeführt wurde. Ich will es jetzt auf die Sozialdemokraten mal weiterziehen, zu Zeiten von Helmut Schmidt, der ja allgemein geschätzt ist, gab es immer 25 Prozent Leute, die völlig anderer Auffassung waren, Stamokap und was es alles gegeben hat. Aber die Partei hat das ausgehalten. Heute sind Parteien sehr stromlinienförmig, es ist alternativlos, um diesen Begriff hier einzuführen. Ist das möglicherweise eine Veränderung?
"Ich glaube, dass man Stabilität nur erreicht, wenn man größere Toleranz aufwendet"
Hirsch: Ich glaube, das kann man schwer bestreiten. Ich glaube, je gefährdeter man sich fühlt oder eine Partei sich in ihrer Position fühlt, dass umso geringer auch ihre Toleranz nach innen ist. Dass man also das Gefühl hat, der enge Schulterschluss ist das Einzige, was uns hier in dieser Situation hilft. Das ist der eine Punkt. Also, je gefährdeter man seine eigene Position sieht, umso intoleranter wird man nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Ob das berechtigt ist oder nicht, ist eine große Frage. Ich glaube, dass man eine Stabilität nur erreicht, wenn man größere Toleranz aufwendet. Und ich glaube, dass die Anwendung von Gewalt immer ein Signal dafür ist, Anwendung von Gewalt in einer Gesellschaft, dass politische Fehler gemacht worden sind oder gemacht werden. Das heißt, dass man einen Teil der Bevölkerung nicht mitnimmt, wie man heute sagt, ihr also nicht genügend Zeit gibt, sich zu äußern, ohne Sorge zu haben. Und dass auch der Bürger das Gefühl hat, ernst genommen zu werden. Ich bin seit Langem dafür, mehr direkte Demokratie einzuführen. Wir haben ja Mitgliederentscheidungen in den Parteien, wir haben in den Kommunen, in den Ländern überall Bürgerbegehren und Bürgerentscheide, nur in der Bundespolitik nicht. Warum eigentlich nicht? Da kann man Grenzen ziehen, man kann sagen, die Verfassung darf nicht geändert werden, einverstanden. Aber warum haben wir … Es sind doch dieselben Bürger. Es sind doch dieselben Leute, warum soll man da nicht mehr Öffnungen schaffen? Oder denken Sie an Petitionen, wir haben vor vielen Jahren mal vorgeschlagen, eine Petition, an der mehr als 10.000 Leute sich beteiligen, die muss im Bundestag unter Beteiligung eines Vertreters der Petenten in einer Plenarsitzung verhandelt werden. Warum eigentlich nicht? Das ständige Argument der Geschäftsführer, da kommen wir zeitlich nicht zurecht, genügt mir überhaupt nicht! Oder warum soll nicht jeder Abgeordnete das Recht haben, zu jedem Thema, das im Bundestag behandelt wird, fünf Minuten zu sprechen? Und zwar unabhängig davon, ob die Fraktion ihnen Rederecht gibt oder nicht, warum eigentlich nicht? Wir haben eine Kurzintervention von drei Minuten, na bitte, können Sie die Welt nicht erklären! Warum kann nicht jeder … Jetzt sagen die Geschäftsführer, kommen wir mit dem Zeitplan nicht zurecht, na gut! Haben wir eigentlich zu viel Gesetze oder haben wir zu wenig Gesetze wegen des Zeitplans?
Zurheide: Wir haben zu wenig Debatten. Wobei, bei Volksbefragungen würde man natürlich gerade im Moment nach England schauen und sagen: Ist das die angemessene Form, über ein so kompliziertes Thema zu diskutieren? Oder ist die Frage so falsch gestellt?
Hirsch: Dann muss man fragen, was ist denn in England gemacht worden, um Europa dem Bürger zu erklären? Warum sind die wirklich halbe-halbe? Schottland nicht, aber England. Was ist denn mit dem Europabewusstsein in der deutschen Bevölkerung? Denken Sie an TTIP! Ich … Also, Europa wird ein Europa der Bürger sein oder es wird nicht sein. Wir haben über Jahrzehnte eine Politik betrieben, in der eine europäische Elite mit Recht und richtig die wirtschaftliche Zusammenarbeit immer weiter betrieben hat. Aber es ist keine … Die Basis, die europäische Basis in der Bürgerschaft ist zu gering geworden.
Zurheide: Also zu wenig Debatte?
"Ein europäisches Bewusstsein in der europäischen Bevölkerung fehlt mir"
Hirsch: Zu wenig Debatte, ja! Auch zu wenig Versuch, dem Bürger klarzumachen, wozu brauchen wir Europa? Ich bin für Europa, ich bin für einen europäischen Bundesstaat, aber ich bin nicht für ein Europa der Staats- und Regierungschefs, das ist ja vordemokratisch. Wer ist denn bei uns ein Staatschef...
Zurheide: Was ist mit dem Einwand, dass Politik kaum noch Reichweite hat, weil natürlich ganz wichtige Entscheidungen in unserer internationalen Wirtschaftswelt anders getroffen werden? Die Steuerfragen muss ich nicht ansprechen, ich könnte viele andere Dinge benennen. Oder ist auch dieser Einwand eher vordergründig, dass Sie sagen, selbst wenn es so ist, dann müssen wir umso mehr dafür tun, dass nicht die Wirtschaft regiert, sondern die Politik und die gewählten Vertreter?
Hirsch: Was ist wichtiger? Sich durchzusetzen mit dem, was man selber für richtig hält, oder sich die Zeit zu nehmen, den Versuch zu machen, die Minderheit mit zu überzeugen, also einen größeren Konsens herzustellen? Was ist wichtiger? Und wenn Sie den Konsens nicht herstellen, dann wird der Einzelne dahin getrieben, Gewalt auszuüben.
Zurheide: Letzter Punkt: Was müssen wir daraus lernen? Politik ist eben nicht alternativlos, wir brauchen eine neue Form der Diskurskultur in diesem Land und vielleicht in Europa, in unseren westlichen Demokratien?
Hirsch: Ja. Gut, warum gibt es keine wirklichen europäischen Parteien? Warum ist es eigentlich so, dass zu Europa in dem Europäischen Parlament immer nur die Politiker der zweiten, dritten Generation gehen? Warum geht nicht die erste Generation der Politik auch ins Parlament? Wie ist das Verhältnis des Europäischen Rates, also der Regierungen? Ist das Parlament nur da, um angehört zu werden, oder müssen wir nicht sagen, alle Rechte, die wir an Europa abtreten, treten wir nur an das Parlament ab, die müssen entscheiden? Wird es dann nicht viel eher auch ein europäisches Bewusstsein in der europäischen Bevölkerung geben? Das fehlt mir!
Zurheide: So weit Burkhard Hirsch, das Interview haben wir kurz vor der Sendung aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.