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Debattenkultur mit der AfD
Parlamentarische Provokationen

Seit die AfD in den Parlamenten vertreten ist, hat sich aus Sicht vieler Beobachter die Debattenkultur verändert. Für den Landtag in Stuttgart lässt sich das jetzt auch sprachwissenschaftlich bestätigen. Eine Studie im Auftrag von Dlf und SWR zeigt: Provokationen und Ordnungsrufe nehmen zu.

Von Katharina Thoms und Markus Pfalzgraf |
Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) ruft währende der ,117. Plenarsitzung im Landtag Baden Württemberg den ehemaligen AfD-Abgeordneten Heinrich Fiechtner (Parteilos) zur Ordnung.
Gezielte Provokationen, Zwischenrufe, Beleidigungen haben signifikant zugenommen - durch AfD-Poltiker und deren ehemalige Mitgliedern (imago / MarcxGruber)
Wolfgang Gedeon (ehemals AfD): "Das ist nicht Demokratie à la Deutschland, das ist Demokratie à la Türkei, was Sie hier machen."
Muhterem Aras (Grüne): "Moment!"
"Dass die Änderung so stark sein würde - mir persönlich hat ehrlich gesagt damals die Vorstellungskraft gefehlt", sagt Baden-Württembergs Landtagspräsidentin Muhterem Aras.
2016 kam die AfD erstmals in den Stuttgarter Landtag. Seither, so beschreiben es viele Beobachter, hat sich die parlamentarische Debattenkultur stark gewandelt. Ein Eindruck, der sich jetzt auch sprachwissenschaftlich belegen lässt.
Jörg Meuthen (AfD): "Ich bin nicht hier, um brav zu sein."
"Nicht brav sein heißt dann aus Sicht der AfD eben: Regeln missachten die Ordnung stören, Zwischenrufe", sagt die Sprach- und Politikwissenschaftlerin Heidrun Kämper, Germanistik-Professorin und Sozialdemokratin. Sie hat im Auftrag von SWR und Deutschlandfunk jetzt erstmals systematisch untersucht, wie sich Reden, Zwischenrufe und Debatten im Stuttgarter Landtag seit dem Einzug der AfD verändert haben. Am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim hat Kämper weit mehr als 100 Plenarprotokolle aus der vorherigen und der jetzigen Legislaturperiode miteinander verglichen – in Punkto Sprache, Umgangston und Themen. Ihr Fazit zum parlamentarischen Auftreten der AfD-Fraktion: "Auffallen um jeden Preis, Regeln brechen um jeden Preis". Kämper dokumentiert provokante Aussagen von AfD-Abgeordneten und mittlerweile fraktionslosen Parlamentariern, die mit der AfD in den Landtag gekommen waren.
Heinrich Fiechtner (ehemals AfD): "Es ist letztlich ein verkommenes Volk, was hier sitzt, was die Regeln und die Rechte des…"
Muhterem Aras (Grüne): "Moment, warten Sie bitte…"
Die Wissenschaftlerin hat aber auch untersucht, wie die Parlamentarier der anderen Parteien auf die AfD reagieren.
Hans-Ulrich Rülke (FDP): "... und die geistigen Vorläufer von Leuten wie Herrn Räpple sind im Stechschritt durchs Brandenburger Tor marschiert. So war es nämlich in Deutschland!"
AfD zog 2016 in den Landtag von Baden-Württemberg ein
Juni 2016. Die AfD ist erstmals in den baden-württembergischen Landtag eingezogen und stellt auf Anhieb die größte Oppositionsfraktion. Deshalb darf ihr damaliger Fraktionschef Jörg Meuthen gleich in der ersten Rede auf die Regierungserklärung des Ministerpräsidenten antworten.
Muhterem Aras (Grüne): "Wir treten damit in die Aussprache ein und ich erteile das Wort dem Herrn Fraktionsvorsitzenden Dr. Meuthen."
Jörg Meuthen (AfD): "Ich bin nicht hier, um brav zu sein."
Doch er muss sich bereits rechtfertigen - denn schon bevor die AfD in den Landtag kam, hatte es Vorwürfe gegen die Rechtspopulisten gegeben. Vor allem wegen des Abgeordneten Wolfgang Gedeon, der antisemitische Schriften veröffentlicht hatte und deshalb Jahre später aus der Partei ausgeschlossen wurde.
Jörg Meuthen (AfD): "Es ist so wie ich es bereits mehrfach klar und deutlich gesagt habe: Antisemitismus hat in meiner Partei keinen Platz. Das ist so, und das wird auch immer so bleiben."
"Das ist sicher ein Novum, dass das Thema Antisemitismus auf eine Tagesordnung kommt, und zwar zweimal kurz hintereinander, ganz zu Beginn der Legislatur," sagt Heidrun Kämper.
Es wird in den folgenden Jahren noch mehr Neues geben. Kaum ein paar Wochen im Parlament, spaltet sich die AfD-Fraktion im Streit um die Schriften des Abgeordneten Gedeon. Der rechtfertigt sich damals.
Wolfgang Gedeon (ehemals AfD): "Wir haben nicht das Problem des Antisemitismus hier, sondern wir haben das Problem der Deutschenfeindlichkeit, nicht der Judenfeindlichkeit. Die Deutschenfeindlichkeit ist in Deutschland tausendmal schlimmer als die Judenfeindlichkeit."
Ausgerechnet die Spaltung, die Gedeon ausgelöst hat, nutzte Fraktionschef Meuthen als Argument gegen die anderen Parteien:
Jörg Meuthen (AfD): "Auch der neueste Versuch der Verunglimpfung durch unsere politischen Gegner, nämlich der Versuch uns nun mit der Antisemitismuskeule zu beschädigen, wird scheitern und in sich zusammenbrechen."
"Das ist eine Strategie. Das hat zwei Funktionen: Zunächst mal eben überhaupt diesen Vorwurf von sich zu weisen. Und dieses von sich weisen wird dann noch verstärkt, indem die AfD selber eben den Vorwurf anderen macht", sagt Heidrun Kämper.
Es wird drei Mal so häufig von Nazis gesprochen
Die Sprachwissenschaftlerin hat festgestellt, dass im baden-württembergischen Landtag in der aktuellen Wahlperiode deutlich häufiger über Antisemitismus gesprochen wird. Mehr als 500 Mal kam der Begriff in Plenardebatten vor – in der vorangegangenen Wahlperiode nur 15 Mal. Eine Zunahme verzeichnet die Forscherin auch bei den Themen Rassismus und Nationalsozialismus. Es wird drei Mal so häufig von Nazis gesprochen und es gibt mehr Vergleiche mit dem Nationalsozialismus.
"Das ist ein bemerkenswertes Phänomen. Nicht in dem Sinn, dass man den Nationalsozialismus diskutiert, sondern in dem Sinn, dass der Nationalsozialismus und Nazi-Vergleiche vor allen Dingen, dass diese Aspekte zum Beispiel in Zwischenrufen eine ganz starke Rolle spielen", sagt Heidrun Kämper.
Nicht nur, aber vor allem bei AfD-Abgeordneten, stellt die Sprachwissenschaftlerin fest: "Der Nazivergleich ist ganz stark seitens der AfD. Die AfD ist diejenige, also die Abgeordneten, die eben diese Nazi-Vergleiche bringen."
Etwa, als FDP-Fraktionschef Rülke die AfD kritisiert, sie habe die antisemitischen Thesen ihres Kollegen Gedeon gekannt.
Hans-Ulrich Rülke (FDP): "Als wäre das für Sie völlig neu, was er alles da erzählt hat, der Herr Gedeon. Nein, meine Damen und Herren…"
Unruhe und Rüge wegen eines Zwischenrufs aus den Reihen der AfD, der in dieser Tonaufnahme nicht ganz verständlich ist – den aber im Saal viele gehört haben, auch CDU-Fraktionschef Wolfgang Reinhart:
Wolfgang Reinhart (CDU): "Der Einwurf vom Kollegen Stein: ‚Hier ist das Urteil schon gesprochen. Schlimmer als in der Nazi-Zeit.‘ Herr Kollege Stein, das ist unsäglich! Das geht nicht in diesem Parlament!"
Der Aufforderung, sich zu entschuldigen kam Udo Stein von der AfD nach – mit Einschränkungen.
Udo Stein (AfD): "Ich möchte mich für diesen Vergleich entschuldigen. Ich möchte aber auch Kritik üben an Menschen, die ohne Prozess hier verurteilt werden."
"Kollege Stein, das ist keine Zwischenfrage."
"Kollege Stein, bitte nehmen Sie Platz, die Entschuldigung ist hier angekommen."
Gleichzeitig sind die Debatten im Stuttgarter Landtag der Studie zufolge auch grundsätzlicher geworden. So geht es häufiger um Parlamentarismus und Demokratie an sich. Der damalige AfD-Fraktionschef Jörg Meuthen, der auch Ko-Bundessprecher seiner Partei ist:
Jörg Meuthen (AfD): "Mehr als 800 000 Wähler haben sich nicht in die Irre führen lassen durch die ganzen uns angehängten, grundfalschen Attribute, wir seien womöglich Rassisten… Sie haben eben genauer hingeschaut und erkannt, dass wir es sind, die für echte Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und für die Respektierung des Bürgerwillens eintreten."
Über den Zustand der Demokratie wird häufiger diskutiert
Über den Zustand der Demokratie wird im aktuellen baden-württembergischen Landtag weit mehr als doppelt so häufig diskutiert wie in den Jahren zuvor, das hat Heidrun Kämper festgestellt: "Das hat sehr viel damit zu tun, dass einerseits die AfD ja sich selber zuschreibt: 'Wir sind die wahren Demokraten." Und dass andererseits die anderen vier Fraktionen der AfD antidemokratisches Verhalten vorwerfen.'"
Wie etwa in einer Debatte über den Klimawandel im vergangenen Jahr.
Winfried Kretschmann (Grüne): "Weil das so ist, wird keine dieser Parteien jemals ernsthaft mit Ihnen zusammenarbeiten. Denn das wäre der Untergang der Demokratie, und den wollen wir nicht."
Die Absprache, nicht mit der AfD zusammenzuarbeiten, wird selten so direkt ausgesprochen wie hier von Ministerpräsident Winfried Kretschmann von den Grünen.
Aber auch parlamentarische Gesten sind aussagekräftig - zum Beispiel, wenn die AfD-Abgeordneten für sich allein applaudieren. Sie selbst dann aber demonstrativ bei Reden von SPD, FDP, CDU oder auch Grünen klatschen – und damit einmal mehr Gegenreaktionen hervorrufen.
Alexander Maier (Grüne): "Von ihnen brauche ich keinen Applaus."
Muhterem Aras (Grüne): "Herr Ministerpräsident, lassen Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Fiechtner zu?
Winfried Kretschmann (Grüne): Nein! Ganz sicher nicht."
Allerdings nutzten die AfD-Abgeordneten die demonstrative Ablehnung durch die anderen Parteien auch für sich aus, sagt die Sprachwissenschaftlerin Heidrun Kämper: "Eben auch sich selber zum Opfer zu machen. Im Sinn von: Wir haben gegen alle Widerstände doch es geschafft, in dieses Parlament zu kommen. Und Sie lassen uns nicht mitarbeiten."
Christina Baum (AfD): "Von 1981 an war ich Opfer einer Stasiverfolgung. Und heute bin ich Opfer eines Gesinnungsparlaments, eines Parlaments, dessen einziges Ziel es ist, die Opposition zu schwächen. Denn Sie kennen mich inzwischen."
Taktik der AfD: sich selbst zum Opfer machen
Christina Baum wird namentlich im Verfassungsschutzbericht des Landes Baden-Württemberg erwähnt. Als Anhängerin von Björn Höckes rechtsradikalem Flügel innerhalb der AfD, der sich inzwischen offiziell aufgelöst hat. Auf die Taktik der AfD, sich selbst zum Opfer zu machen, reagieren die anderen Parteien mal belustigt, mal genervt.
Wilfried Klenk (CDU): "Herr Kern, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Fiechtner?"
Timm Kern (FDP): "Ja!"
Fast nie kontern Abgeordnete aber so wie der FDP-Mann Timm Kern schon 2016. Er hatte sich darauf vorbereitet.
Timm Kern (FDP): "Zum Beispiel, Sie tolerieren in Ihrer Partei bundesweit Leute, die ganz, ganz am rechten Rand sind. Die sehr wohl rechtsradikal sind, die sie nicht aus ihrer Partei ausschließen. Und solange sie solche Menschen in Ihren Reihen tolerieren, so lange sind Sie auch rechtsradikal. Und ich kann Ihnen… "
Kern zitiert ausführlich mehrere AfD-Politiker. Seine Rede erregte damals viel Aufmerksamkeit. Deutschlandweit bekam er Zuspruch – und auch Hassmails.
Alice Weidel, AfD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag und Landesvorsitzende Baden-Württemberg
AfD in Baden-Württemberg - Weidel will zerstrittenen Landesverband einen
Die Vorsitzende der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag, Alice Weidel, ist im Februar 2020 zur neuen Vorsitzenden des AfD-Landesverbandes Baden-Württemberg gewählt worden.

Eine Herausforderung nicht nur für die Abgeordneten in Baden-Württemberg. Sondern auch für Journalistinnen und Journalisten, die darüber berichten. Katja Bauer ist Parlamentskorrespondentin der "Stuttgarter Zeitung" und "Stuttgarter Nachrichten".
"Wie man zum Beispiel am Bundestag sehen kann und auch übrigens an Landesparlamenten, sind die Parlamente auch echt in einer Lernkurve, die lernen auch dazu. Ich weiß auch gar nicht, ob das geht, dass man eine kohärente Strategie finden kann und übrigens auch nicht, ob das demokratisch ist", sagt Bauer.
Die sprachwissenschaftliche Studie zur Debattenkultur im baden-württembergischen Landtag zeigt: Gezielte Provokationen, Zwischenrufe, Beleidigungen haben signifikant zugenommen. "Es geht ja nicht um politische Inhalte, um politische Aussagen, sondern es geht um Inszenierungen", sagt Heidrun Kämper.
Besonders zwei Abgeordnete zelebrieren das. Heinrich Fiechtner und Wolfgang Gedeon, beide kamen mit der AfD in den Landtag, gehören der inzwischen von 23 auf 15 Abgeordnete geschrumpften Fraktion aber nicht mehr an.
Heinrich Fiechtner (ehemals AfD): "Die Gedenkstättenarbeit, habe ich manchmal den Eindruck, dient nur dazu, zu lernen, wenn ein Grüner in ein KZ geht, sich zu überlegen, wie man das vielleicht in Zukunft anwenden könnte auf andere."
Wolfgang Gedeon (ehemals AfD): "Es ist an der Zeit, hier eine Pause eine Pause zu machen, einen Schlussstrich zu ziehen…"
Heinrich Fiechtner (ehemals AfD): "Und hier lass ich mich auch vom Präsidium nicht stoppen."
Sabine Kurtz (CDU): "Ja, jetzt stopp ich Sie mal…"
"Es ist unglaublich viel Bewegung, Unruhe, Lautstärke im Raum. Und ich habe manchmal das Gefühl, ich sitze da oben und die Pfeile kommen von rechts und von links. Und das ist akustisch nicht mal unbedingt immer alles feststellbar, was auch möglicherweise zu rügen wäre", sagt Sabine Kurtz, die Stellvertreterin der Landtagspräsidentin.
Muhterem Aras mit einer großen Glocke in der Hand am Tisch der Landtagspräsidentin im Landtag von Baden-Württemberg.
Landtagspräsidentin Muhterem Aras ist als Frau, Grüne und Alevitin zur Zielscheibe der AfD geworden. (Andreas Kaier)
"Was die Schwierigkeit ist, dass einem die Fantasie fehlt, was für neue Provokationen überhaupt einem einfallen können, die in einem Parlament vorgetragen werden, praktiziert werden", sagt Landtagspräsidentinnenvon den Grünen. An fast jedem Sitzungstag müssen sie mit minutenlangen Erklärungen klarkommen - mit Geschäftsordnungsanträgen.
"Auch das ist ein taktisches Manöver. Selbstverständlich", gibt der heutige AfD-Fraktionschef Bernd Gögel offen zu. Allerdings sieht er die Veränderung der parlamentarischen Kultur durch die AfD durchaus positiv:
"Es hat sich in der Form vielleicht verändert, dass die Debatten etwas hitziger und zugespitzter sind, als das vielleicht in den Jahren zuvor der Fall war. Das hat sich verändert. Die AfD ist hier hörbar geworden im Parlament, und ich denke, das tut aber einer Demokratie gut", sagt Gögel. Zu beleidigenden Äußerungen seiner Fraktionskollegen gegenüber der Parlamentspräsidentin sagt Gögel: "Ich bin jetzt kein Freund davon. Aber auch ich kann letztendlich nicht behaupten, es schadet mehr, als es nutzt."
"Wahlsieg" steht auf einem der Transparente während der Kundgebung der islamfeindlichen Pegida-Bewegung am 25.09.2017 auf dem Neumarkt in Dresden (Sachsen). Betont einmütig haben Pegida und AfD am Montagabend in Dresden den Wahlerfolg der Rechtspopulisten bei der Bundestagswahl gefeiert. 
Protest im Osten, Sorgen im Süden - Wie die AfD in den Bundestag kam
Menschen mit gebrochenen Biografien im Osten und ein "relatives Gefühl des Benachteiligtseins" der Bürger im Südwesten - Beobachter sehen eine "gefühlte Wirklichkeit" als Grund für den AfD-Erfolg.

Landtagspräsidentin Muhterem Aras ist in der Türkei geboren. Die Stuttgarterin ist als Frau, Grüne und Alevitin zur Zielscheibe der AfD geworden. Die AfD-Abgeordnete Christina Baum in einem Interview 2016: "Dass jetzt eine muslimische Frau Landtagspräsidentin von Baden-Württemberg werden soll, ist für mich ein klares Zeichen, dass die Islamisierung Deutschlands doch voll im Gang ist. Und es ist natürlich auch ein Angriff auf uns als AfD, da wir in unserem Programm ganz klar geäußert haben: Der Islam gehört nicht zu Deutschland."
"Da habe ich echt gedacht, bin ich im falschen Film. Oder was ist das?", sagt Aras.
Sprachwissenschafterin: "Der Ordnungsruf ist ein zahnloser Tiger"
Ein scharfes Mittel in der Geschäftsordnung des Landtags, um Abgeordnete zu verwarnen, ist der Ordnungsruf. Doch nicht immer hat er die gewünschte Wirkung.
Heinrich Fiechtner (ehemals AfD): "Ich danke Ihnen für diesen Ordnungsruf. Ich hoffe, ich kriege noch einen zweiten und einen dritten und dann können sie endgültig zeigen, was sie vom Parlamentarismus halten, nämlich nichts!"
Für manche Abgeordnete scheint es ein Sport geworden zu sein, Ordnungsrufe wie Trophäen zu sammeln.
Muhterem Aras (Grünen): "Dafür bekommen Sie erst einmal einen Ordnungsruf. Und wenn Sie weitermachen, werden auch Sie von der Sitzung ausgeschlossen."
Wolfgang Gedeon (ehemals AfD): "Sie können mir fünf Ordnungsrufe erteilen. Das interessiert mich nicht. Sie boykottieren hier Demokratie. Moment."
"Der Ordnungsruf ist ein zahnloser Tiger", sagt die Germanistik-Professorin Heidrun Kämper. 135-mal haben Abgeordnete den Ordnungsruf thematisiert, also beispielsweise für ihr Gegenüber in der Debatte gefordert – in der vorherigen Wahlperiode passierte das nur zweimal. Seit 2016 wurden dann aber 35 Ordnungsrufe gegen Abgeordnete verhängt – so oft wie noch nie innerhalb einer Wahlperiode im Stuttgarter Landtag.
Denkwürdige Debatte im Dezember 2018 - Polizei im Plenarsaal
Denkwürdiger Höhepunkt: Eine Debatte am 12. Dezember 2018 – es ging um Abtreibungsrecht und Rechtspopulismus. Der ehemalige AfD-Abgeordnete und mittlerweile fraktionslose Wolfgang Gedeon.
Wolfgang Gedeon (ehemals AfD): "So können Sie ein Parlament in Anatolien führen, aber nicht in Deutschland!"
Muhterem Aras (Grünen): "Sie haben den zweiten Ordnungsruf kassiert. Dieses "in Anatolien" ist diskriminierend. Das geht gar nicht. Dafür werden Sie von der Sitzung ausgeschlossen."
An diesem Tag werden gleich zwei Abgeordnete von der Sitzung ausgeschlossen – allein das war noch nie zuvor passiert. Und dann betritt auch noch erstmals in der Geschichte Baden-Württembergs die Polizei den Plenarsaal.
12.12.2018, Baden-Württemberg, Stuttgart: Stefan Räpple (sitzend, l), Abgeordneter der AfD im Landtag von Baden-Württemberg, spricht während einer Plenarsitzung mit Polizisten. Zuvor hatte er sich geweigert, trotz Aufforderung der Landtagspräsidentin, den Saal zu verlassen. In der Mitte steht der fraktionslose Landtagsabgeordnete und AfD-Politiker, Wolfgang Gedeon, (zu dpa: "Polizei-Einsatz im Plenum - Landtagssitzung wegen Räpple unterbrochen" vom 12.12.2018) - Bestmögliche Qualität - Foto: Nico Pointner/dpa | Verwendung weltweit
Polizei-Einsatz im Plenum des Stuttgarter Landtags. Die AfD-Politiker Wolfgang Gedeon und Stefan Räpple werden von der Polizei aus dem Saal geführt (12.12.2018) (picture alliance/dpa)
Angefangen hatte alles mit FDP-Fraktionschef Rülke, der die SPD-Abgeordneten gegen die AfD in Schutz nimmt:
Hans-Ulrich Rülke (FDP): "Wenn Sie mal 80 Jahre in unserer Geschichte zurückdenken, dann saßen die Vorgänger dieser Abgeordneten im KZ, weil sie gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt haben, und die geistigen Vorläufer von Leuten wie Herrn Räpple sind im Stechschritt durchs Brandenburger Tor marschiert! So war das nämlich in Deutschland!"
Stefan Räpple, damals noch AfD-Mitglied, fordert daraufhin einen Ordnungsruf für Rülke, nachdem er selbst schon zur Ordnung gerufen worden war.
Muhterem Aras (Grünen): "Wir fahren fort in der Debatte..."
Stefan Räpple (ehemals AfD): "Kein Ordnungsruf?!"
Muhterem Aras (Grünen): "Das Wort hat... Herr Räpple, ein letzter Zwischenruf, und Sie fliegen raus."
Stefan Räpple (ehemals AfD): "Das ist ja unglaublich, Frau Präsidentin."
Muhterem Aras (Grünen): "Herr Räpple, Sie sind damit für heute aus der Sitzung ausgeschlossen."
Landtagsvizepräsidentin Kurtz: "Sie wollen keine Brücke gebaut haben"
Doch Räpple lässt sich nicht von der Sitzung ausschließen. Trotzig bleibt er auf seinem Platz sitzen. Wenig später wiederholt Gedeon das Schauspiel bei seinem Rauswurf. Die Präsidentin weiß sich nicht anders zu helfen, als die Polizei um Hilfe zu bitten. Die Abgeordneten reden und laufen durcheinander. Der Parlamentsbetrieb: aufgehalten.
"Das war eine ganz schlimme Situation, weil wir uns nicht mehr selbst zu helfen wussten und die Polizei holen mussten", erinnert sich Landtagsvizepräsidentin Sabine Kurtz. "Und ich hätte es gerne vermieden, dass wir die Polizei ins Parlament holen müssen. Und wenn die Herrschaften es darauf anlegen, ja, dann kann man auch nur noch gegenhalten. Sie wollen keine Brücke gebaut haben, und wir tun uns selber keinen Gefallen, wenn wir ihnen Brücken bauen."
Werden da im Gegenteil ganz bewusst Brücken eingerissen? "Das fällt einem manchmal echt schwer, das zu ertragen, dass diese gezielten Provokationen ja nach wie vor stattfinden. Aber ich weigere mich, mich daran gewöhnen müssen, dass diese massiven Provokationen normal werden und dass wir uns daran gewöhnen. Nee", sagt Aras.
"Na gut, ich denke, eine Freude ist es nicht für den politischen Wettbewerb, sich hier im Parlament mit uns auseinanderzusetzen", sagt Gögel.
Parallelen zur Debattenkultur im Bundestag
Provozieren, stören, und immer mal wieder auch eskalieren. Berlin-Korrespondentin Katja Bauer sieht viele Parallelen zur Debattenkultur im Bundestag – die sich ebenfalls durch die AfD verändert habe. Doch sei es der neuen Fraktion nicht gelungen, den Parlamentsbetrieb nachhaltig zu stören.
"Man hat immer das Problem in einer offenen Gesellschaft, dass die Freiheiten auch von Freiheitsfeinden genutzt werden können. Aber bisher finde ich, ist es der AfD nicht an einer Stelle gelungen, diese Freiheit so zu nutzen, dass sie irgendetwas wirklich zerstört hätte", sagt die Berlin-Korrespondentin Katja Bauer.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die Sprachwissenschaftlerin Heidrun Kämper. Ihre Studie belegt zwar, dass sich der Ton im Landtag von Baden-Württemberg verschärft hat, dass die Debatten hitziger geworden sind und manche Themen häufiger diskutiert werden. Aber: "Aufs Ganze gesehen, ist es weiterhin ein funktionierendes, gut funktionierendes Parlament".
Wahlurne, Landtagswahl 2021 in Baden-Württemberg