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Debbie Harrys Memoiren
Kein Grund zur Reue

In der männerdominierten New Yorker Musikszene der Siebzigerjahre war Debbie Harry als Frontfrau von Blondie eine Wegbereiterin für die Pop-Ästhetik des kommenden Jahrzehnts. Jetzt hat sie einem Memoirenband vorgelegt: "Face It" liefert deftige Einblicke in die Hochphase des Rock.

Von Robert Rotifer |
Debbie Harry mit Sonnenbrille während eines Blondie-Konzertes
Ikone des New Wave: die Musikerin Debbie Harry (www.imago-images.de / Yander Zamora)
Rock-Memoiren sind ein Genre, das von der Erwartung möglichst saftiger Klatschgeschichten lebt. In der Welt des New Yorker Punk und New Wave waren Blondie wohl die Band mit der geringsten Scheu davor, dem Publikum zu geben, was es will. Und als Autorin ihrer Autobiographie "Face It" steht ihre Frontfrau Debbie Harry dem in nichts nach. Ein Ausschnitt aus Kapitel 7 mit dem Titel "Wir heben ab und rechnen ab":
"Einmal waren David Bowie und Iggy Pop auf der Suche nach ein bisschen Koks. Ihr New Yorker Dealer war überraschend verstorben, und sie hatten ihre Vorräte aufgebraucht. Ein Freund hatte mir ein Gramm gegeben, das ich bislang kaum angerührt hatte. Also gingen wir mit meinem bisschen Koks nach oben, und sie zogen es in einem Rutsch weg. Danach holte David seinen Schwanz raus – als wäre ich staatlich geprüfte Pimmelprüferin oder sowas."
Die goldene Zeit der Rockkultur
Als ich Debbie Harry in London zum Interview treffe, bedauert sie bereits, diese Anekdote in ihrem Buch ausgeplaudert zu haben: "I'm sorry. I wrote it actually because now everybody's become very aware of it, and yeah, it's too bad."
Doch es gibt keinen Grund zur Reue, denn diese Geschichte hat schon einiges zu sagen über die gern verherrlichte goldene Zeit der Rockkultur der Siebzigerjahre. Sie ereignete sich, als Blondie ihre erste große Tournee im Vorprogramm von Iggy Pop und David Bowie bestritten. Ich frage Debbie Harry, ob sie im Nachhinein nicht gern die Macht gehabt hätte, Bowie in die Schranken zu weisen: "Überhaupt nicht. Vielleicht bin ich ein kranker Mensch, aber ich fand es schmeichelhaft, süß und lustig. Auch ein bisschen peinlich, weil mein Freund gerade die Treppe rauf kam und jeden Moment da reinplatzen konnte. Aber seien wir ehrlich: Wie viele Mädchen hätten nicht Millionen darum gegeben, im Zimmer zu sein, als das passierte? Und Jungs!"
"Wir sind sexuelle Wesen."
Eine heikle Wahrheit: Ob schmeichelhaft oder sexuelle Belästigung, das hängt stark davon ab, wer es ist, der sich da entblößt. Aber Debbie Harrys Toleranz hat auch viel damit zu tun, dass sie keine Heuchlerin sein will. Wie sie in "Face It" immer wieder offen erklärt, setzte sie ihre eigene Sexualität sehr bewusst und offensiv ein, auf der Bühne und in Fotos, die sie gemeinsam mit ihrem Partner Chris Stein inszenierte.
"Ich konnte gar nicht anders als meine Sexualität einzusetzen. Wir sind sexuelle Wesen. Das ist Teil der Kunst. Heute sind die Zeiten anders. Es ist eine gute Sache, dass wir über diese Dinge besser Bescheid wissen und mehr darüber reden. All die Diskussionen und Enthüllungen sind da sehr hilfreich, denn dann ist man das kleine Bisschen klüger."
Debbie Harry fiel der Ende der Siebzigerjahre mit Blondie errungene Ruhm nicht in den Schoß. Die 1945 geborene Sängerin nutzte die Punk-Szene rund um den New Yorker Club CBGB's vielmehr als ihre zweite Chance. 1968 hatte sie bei der Hippie-Band "The Wind in the Willows" nur eine, wie sie selbst schreibt, "dekorative" Rolle spielen dürfen. Ihre spätere Neudeutung des wasserstoffblonden Archetyps der Marilyn Monroe beschreibt sie als eine Form der Selbstermächtigung: "Das war eine der Qualitäten, die ich mitbrachte. Dieser vom Kino geprägte weibliche Glamour war noch nie von der Leitfigur einer Rockband verkörpert worden. Ich fühlte mich Filmstars immer sehr verbunden.
Unterbewertung des eigenen künstlerischen Beitrags
Was an "Face It" manchmal überrascht, ist Debbie Harrys Unterbewertung ihres eigenen künstlerischen Beitrags. Etwa, wenn sie ihren spontan geschriebenen Text zum Hit "Atomic" erklärt: "Ich begann direkt, überwiegend Quatsch aufzuschreiben und mir einen Spaß aus der Sache zu machen. Ich hätte nie gedacht, dass irgendetwas davon hängen bleiben könnte."
Rückblickend erscheint "Atomic" tatsächlich als perfekte Reflexion des Endzeit-Hedonismus der Ära der nuklearen Bedrohung. Die wirklich große Offenbarung von Debbie Harrys Buch steckt allerdings weder in der Analyse ihrer Kunst, noch in den Sex- und Drogengeschichten, sondern in ihren ungeschönt rohen Beschreibungen der Härten des Lebens im New York jener Zeit. Dafür allein lohnt die Lektüre.