Zwei Männer Schulter an Schulter vertieft in die Musik. Der eine am Klavier der Pianist Lambert. Vor dem Gesicht eine sardische Stiermaske mit hochaufragenden Hörnern, die jedoch eher an eine Antilope erinnern – sein Markenzeichen. Der andere mit offenem Blick an Samplern und einem zierlichen Moog-Synthesizer der Hamburger Technoproduzent Martin Stimming. Ihr gemeinsamer Sound: elektronisch und organisch zugleich.
Seit mehreren Jahren boomt die sogenannte Neoklassik. Ihre bekanntesten Vertreter, Nils Frahm und Federico Albanese, füllen weltweit große Hallen. Und auch Lambert ist ganz Neoklassiker, wenn er wie viele andere aus dem Genre sagt, dass er mit dem Begriff fremdelt.
Neoklassikboom
Lambert: Erstmal steckt da Klassik drin. Ich sehe mich überhaupt nicht als klassischer Musiker und die Art und Weise, wie ich Musik mache, ist einfach sehr viel popkultureller verordnet. Wie ich die Stücke schreibe und wo ich herkomme musikalisch. Neoklassik impliziert ja so ein bisschen, dass das eine Form von Klassik wäre. Das sehe ich halt einfach nicht so.
Als "instrumentales Songwriting" bezeichnet Lambert seine Musik und im Gegensatz zu den neoromantischen Tastendrückern ist seine klassische Ausbildung hörbar. Dabei liegt die Stärke des 35-Jährigen in der Beiläufigkeit und dem Understatement seines Spiels. Wie en passant strickt er kurze, schlichte Melodien, die sofort ins Ohr gehen.
Während Lambert in Musikclubs und gediegenen Konzerthäusern wie der Hamburger Elbphilharmonie zuhause ist, spielt Martin Stimming seine beat-lastigen Live-Sets zum Tanzen ganz woanders. Das Metier des Mittdreißigers sind Raves auf der ganzen Welt, zwischen New York und Paris. Die Standardzeit für seinen Auftritt im Club: von drei Uhr nachts bis halb fünf Uhr morgens. Der größte Unterschied zu Lambert sei jedoch:
"Dass meine Leute nicht speziell da hinkommen, um eine bestimmte Sorte Musik zu hören, sondern sie wollen feiern – von Saufen über jemanden für die Nacht finden bis einfach sich amüsieren. Ich genieße diese Offenheit, aber war schon auch an einem Punkt – ich mache das jetzt seit elf Jahren – wo ich dachte 'So ganz ...', also die Schattenseiten gingen mir manchmal so hart auf den Senkel, dass ich dachte ich muss auch ein bisschen was anderes machen, um mich auszugleichen, und das ist dann eher so ein Konzertrahmen."
Die Tracks der beiden Musiker wirken erstaunlich homogen
Kennengelernt haben sich Lambert und Stimming über die Musik des anderen. Dann wurden Soundfiles hin- und hergeschickt. Die gemeinsame Musik ist allerdings mehr als das Übereinanderlegen von zwei unterschiedlichen Künstleridentitäten. Die Tracks wirken erstaunlich homogen, als ob sie aus einer gemeinsamen Form wirklich gewachsen wären.
"Für mich war das Besondere, dass er sehr loopbasiert spielt, also sehr rhythmisch und das Ganze dann in kleinen Patterns. Daraus besteht seine Musik. Das war für mich die Tür Und für ihn war die Tür, dass ich so organisch klinge, obwohl ich eigentlich elektronische Musik mache."
Manchmal ahmt Martin Stimming sogar die Streicher und Bläser eines Orchesters nach.
Überschreiten von Genregrenzen
Das Geheimnis des Produzenten: Dass er selbst viel mit der Hand einspielt, aufnimmt und dann erst mit dem Computer bearbeitet. So ist er teilweise auch mit Klavieraufnahmen von Lambert verfahren. Daneben benutzt er viele Fieldrecordings. Klänge aus dem Alltag und insbesondere aus der Natur – wie morsches Holz zum Beispiel – verwebt er zu filigranen, urbanen Soundstrukturen. Das Ergebnis klingt zeitlos und erinnert stellenweise – vom Stil – an Triphop. Wobei die Songideen jedoch klarer sind und auskomponiert.
Das Überschreiten von Genregrenzen deutet sich bereits im Albumtitel an: Exodus. Ein solcher Grenzgang zwischen Berghain und Philharmonie wäre noch vor etwas mehr als 10 Jahren undenkbar gewesen. Mittlerweile gibt es mehr Künstler, die diesen Schritt wagen. Nicht nur aus eigenem Interesse, sondern auch aus einer gewissen künstlerischen Notwendigkeit, meint Martin Stimming.
"Die Klassik würde sich gern erweitern und ins 21.Jahrhundert kommen, und der Techno – plakativ gesprochen – würde gern durch die Klassik ein bisschen mehr Tiefe kriegen."