Teilweise geht das Experiment auf. Das merkt man gleich zu Beginn von "Nothing Is Still", dem ersten, längeren Album von Leon Vynehall, der bislang cluborientierte House-Musik produziert hat. Am Anfang des Buchs und des Albums, dessen zehn Stücke jeweils ein Kapitel vertonen, steht die Schiffsfahrt von Vynehalls Großeltern von England in die USA. Es ist der 12. Oktober 1963. Die See ist rau. Vynehalls Großmutter, damals Anfang 20, liegt seekrank in der Kabine.
Erst kam der Text dann die Musik
"Und so stehe ich doch auf, um Luft zu holen. Die dünne, raue Seeluft aus der Welt hinter der Kabinentür. Sie strömt in die weichen Poren meiner schmerzenden Lunge, und hinterlässt auf meiner Zunge den Geschmack von Eisen und Salz."
Poesie trifft auf elegische Streicher. Erst später, wenn die Geschichte dramatischer wird, kommen jene dumpfen Beats dazu, für die Leon Vynehall bekannt ist. Zuerst war der Text. Vynehall hat viel Zeit mit seiner Großmutter verbracht, um ihre Geschichte zu hören. Zusammen mit einem befreundeten Autor hat er das Buch geschrieben, und ihre Erzählungen fiktionalisiert. Erst dann kam die Musik.
"Jeder Klang ist durchdacht. Jede Bewegung, jede Phrase ist verbunden mit der Literatur. Ich habe alle Kapitel ausgedruckt und mit einem Textmarker Adjektive und Sätze markiert, die ich dann als Grundlage für die Musik benutzt habe."
Es sei logisch, meint Vynehall, dass "Nothing Is Still" kein Club-Album geworden ist, sondern so etwas wie eine moderne, elektronische Symphonie. Die Streicherpassagen, eingespielt von einem zehnköpfigen Ensemble, dazu Saxophon, Flöte, Klavier. Instrumente, die Vynehall bislang mit dem Computer hergestellt hat.
Kleine Kosmologie vom New York der 60er-Jahr
"Die Novelle hat vorgegeben, dass der Sound menschlicher sein muss. Die Geschichte ist eine menschliche Geschichte. Natürlich gibt es Plug-Ins, Software und Samples, die wie echte Instrumente klingen. Aber du kannst einem Computer nicht sagen: Spiel etwas, das an ‚Casablanca‘ erinnert, oder etwas, das aggressiv oder unstet ist."
Eigentlich klingt das kitschig: Ein junger Musiker will die Geschichte seiner Großeltern konservieren, deren Leben zwar interessant, nun aber doch nicht so ungewöhnlich ist. Er schreibt ein Buch über ihre Migration in die USA. Die Geschichte an sich ist nicht so spannend. Doch die exakten, lyrischen Szenenbeschreibungen von Vynehalls Co-Autor Max Sztyber lassen sie zu einer kleinen Kosmologie vom New York der 60er-Jahre werden.
"Die Hafenarbeiter in der Ferne, die aus ziegelroten Lagern mit schwarzen, bogenförmigen Türen kommen, wirken wie Ameisen. Bäume am Ufer wechseln ihre Farbe von grün zu braun. Die Freiheitsstatue schlendert vor uns über das Wasser, lebendig war sie bislang nur in Büchern."
Was literarisch aufgeht, ist musikalisch schwer zu fassen. Das Album ist ein passender Soundtrack zum Buch, die Stücke sind ungewöhnlich arrangiert. Es fehlt ihnen aber stellenweise an Tiefe. Lange Streicher- und Ambient-Passagen wirken redundant, die Beats nicht ganz so ausgeformt wie man das bislang von Leon Vynehall gewohnt war. Der Weg vom Club zum literarisch-akustischen Gesamtkunstwerk, er wirkt am Ende ein wenig holprig.