"Ich sehe mich nicht als traditionellen Komponisten, weil ich fange ja nicht mit einer musikalischen Idee an, indem ich zum Beispiel ein Motiv aufschreibe und das dann weiterentwickele, sondern ich gehe auf die Suche nach Klängen."
Kurze akustische Eindrücke
Diese Suche führt Orson Hentschel mit akribischer Genauigkeit durch. In seiner Musik vernetzt er winzige Klangpartikel zu hypnotischen Geräuschsinfonien. Kurze akustische Eindrücke, die manchmal nur bis zu drei Sekunden lang sind, werden miteinander verzahnt, beschleunigt, verlangsamt, verdichtet und entschlackt.
"Ich suche ja immer nach Audioquellen und bediene mich nicht so stark an Software-Instrumenten, sondern eben an Audioquellen wie Filmtonspuren und Sound-Libraries und so weiter. Von dort gehe ich eben weg und versuche, darauf eine Struktur aufzubauen, eine Stapelung, eine Ansammlung von musikalischen Geschehnissen."
Schichtungen, die sich in permanenter Bewegung befinden, unentwegt neue Formen und Gestalten annehmen. Ihr Antriebsmotor ist die Wiederholung, der Loop. Hentschel experimentiert mit musikalischen Endlosschleifen, die er im Verlauf des Stücks langsam gegeneinander verschiebt und auseinanderdriften lässt. So entstehen psychoakustische Höreindrücke, musikalische Täuschungen. Man glaubt etwas zu hören, das eigentlich gar nicht da ist – akustische Phantome.
Orson Hentschel ist nicht nur ein Klangnetzwerker. Er verwebt auch unterschiedliche historische Einflüsse in seiner Musik. Seine Arbeitsweise ist keineswegs neu. Sie wurde bereits in den 60er Jahren von Komponisten wie Steve Reich oder Philip Glass erprobt, den Pionieren der US-amerikanischen Minimal Music.
Hentschel blickt allerdings noch weiter zurück, in das 14. Jahrhundert, die Epoche der Ars Nova, mit ihrer mehrstimmigen Vokalmusik. Sie klingt wie ein feingliedriges Ornament aus kunstvoll ineinander verschränkten Gesangsstimmen und rhythmischen Mustern. Strukturelle Eigenschaften, die auch ein wichtiger Bestandteil der Musik von Orson Hentschel sind. Der Produzent begeistert sich aber nicht nur für den Sound der Ars Nova, den er etwa in dem Stück "Florence" sampelt, sondern auch für seine bewusstseinserweiternde Wirkung.
"Da ist es das psychedelische, was mich interessiert weil eben diese Gesänge so im Raum schweben. Ich weiß nicht, ich finde das einfach total schön. Es gibt halt so ein paar Stellen, die ein bisschen rhythmisch sind, und die habe ich dann auch genutzt, und die dann eben gesampelt und auch als Klangteppich dann genutzt."
Keine Maschinenmusik
Diese Musik wird am Computer produziert. Hentschel füttert seinen Laptop mit akustischen Informationen. Daher auch der Titel seines Debütalbums, "Feed the Tape". Der Produzent verneint allerdings, Maschinenmusik zu spielen, auch wenn viele seiner Stücke einem strengen und genau durchkalkulierten Aufbau folgen. Nicht zuletzt weil er auch ein Schlagzeug in seine Kompositionen integriert, das live eingespielt wurde. Dadurch entstehen zwangsläufig spielerische Unschärfen, mikroskopische Fehler, die der Musik eine organische Qualität vermitteln.
"Ich habe eine klassische Ausbildung genossen. Ich habe Klavierunterricht gehabt, habe auch mit sieben oder acht angefangen, Klavier zu spielen. Aber ich habe mich eigentlich im Studium mehr mit Filmen auseinandergesetzt als mit Musik. Ich habe eine musikalische Ausbildung, aber viel davon habe ich eigentlich nicht mitgenommen, was mich jetzt musikalisch ausmacht."
Dass sich Orson Hentschel mit Filmen beschäftigt hat, hört man in dem feinen Gespür des Produzenten für Atmosphären. Ihm gelingt es, musikalische Dramaturgien zu erzeugen. Jedes Stück auf "Feed the Tape" erzählt eine Geschichte. Hentschel möchte keine Musik machen, die klinisch und abstrakt wirkt. Mit seinem Debütalbum ist ihm dieses Ziel geglückt. Trotz seiner experimentellen Ausrichtung klingt es nicht nach akademischer Kopfarbeit. Es vereint avancierte Versuchsanordnungen mit einem Gefühl für eingängige Melodien und Arrangements. Eine Kombination, die nicht jedem gelingt.