An der Türkei scheiden sich die Geister! Die einen sehen in ihr einen zum Islam tendierenden autoritären Staat, andere feiern sie als westlich orientierte Nation, die in den vergangenen Jahren große Schritte in Richtung Moderne getan hat.
Dr. Roy Karadag, türkischstämmiger Politikwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Gesellschaftswissenschaft in Köln, vertritt die zweite Position:
"Ich bin auf jeden Fall dafür, dass die Türkei ab irgendeinem Zeitpunkt X in die EU aufgenommen werden sollte ..."
Wobei die Betonung auf "Zeitpunkt X" liegt, im Moment sei die Türkei nicht reif für eine EU-Mitgliedschaft. Ein Grund, so Karadag: Die Türkei ist noch kein vollwertig demokratischer Staat. Aber was genau ist sie dann? Antworten auf diese Frage sind schon deshalb schwierig, weil es keine eindeutige Definition des Begriffs "Demokratie" gibt. Allgemein akzeptiert sind die Minimalanforderungen des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Robert Alan Dahl. Ein demokratischer Staat muss folgende Freiheiten und Rechte garantieren:
Die Freiheit, Organisationen zu gründen,
die Freiheit der Meinungsäußerung,
das Recht zu wählen,
das Recht, für ein öffentliches Amt zu kandidieren,
das Recht politischer Führer, für Wählerstimmen zu werben.
Außerdem muss er freie und faire Wahlen abhalten, und – last, but not least – es muss Institutionen geben, welche Regierungspolitiker vom Wählerwillen abhängig machen. Diese Grundanforderungen an Demokratien sind in der Türkei weitgehend erfüllt, trotzdem ist Karadag der Meinung,
"… dass Länder wie die Türkei, aber auch andere, wie die Philippinen, mehrere Länder in Lateinamerika, in Südostasien und in Afrika eben nicht Demokratien sind, nur weil es dort demokratische Institutionen gibt und formell freie Wahlen stattfinden.""
Politikwissenschaftler nutzen in diesem Zusammenhang gerne die Wendung "defekte Demokratie", ein Begriff, den Wolfgang Merkel Ende der 90er-Jahre am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung in die Debatte eingeführt hat. Bezogen auf die Türkei liegen die "Defekte" vor allem im rigiden Nationalismus und in der großen Macht des Militärs. Der letzte Punkt spiegelt für Yunus Ulusoy von der "Stiftung Zentrum für Türkeistudien" in Essen eine gewisse Tragik wider.
"Die türkische Republik hat eine Grundorientierung, die einmalig ist in der islamischen Welt, und diese Grundorientierung Richtung Westen, Richtung Moderne, Richtung Rationalismus sollten die Militärs garantieren, die Militärs haben sich als Garant dieser westlichen türkischen Orientierung verstanden und haben sich dann immer wieder in die Politik eingemischt, um Entwicklungen gegenzusteuern, die sie für die Ziele der türkischen Republik gefährlich hielten."
Doch die Macht der Militärs wird auch in der Türkei zunehmend infrage gestellt. So hat die türkische Regierung erst vor wenigen Tagen eine Machtprobe zu ihren Gunsten entschieden. Erfolgreich verhinderte sie die Beförderung von Offizieren, denen die Verwicklung in Putschpläne vorgeworfen wird. Das mag als Ausweis für die Rundumdemokratisierung der Türkei zwar noch nicht reichen, aber ein Blick auf einige EU-Mitglieder zeigt: Auch dort geht es undemokratisch zu. Roy Karadag:
"Die EU hat zumindest Länder wie Rumänien und Bulgarien in der letzten Erweiterungswelle aufgenommen, Länder, in denen dann die systematische Korruption um EU-Gelder dazu geführt hat, dass solche Gelder eingefroren werden, bis dieses Phänomen der Korruption zurückgedrängt werden kann."
Ob Italien alle Demokratiestandards erfüllt, darf angesichts des massiven Einflusses von Staatspräsident Silvio Berlusconi auf die Medienlandschaft ebenfalls angezweifelt werden. Und so ergibt sich denn das verwirrende Bild, dass die Türkei auch nicht mehr Demokratiedefizite hat als andere EU-Mitglieder.
"So ist es! Es kommt immer darauf an, welchen Blickwinkel Sie zu Hilfe nehmen, und ob Sie in erster Linie die Defizite wahrnehmen und nach ihnen suchen, weil Ihre Argumentation dies verlangt, dann werden Sie immer wieder solche Defizite in der Türkei und in anderen Ländern finden."
Zumal – fährt Yunus Ulusoy fort – es ja in der Türkei Gruppierungen und Strömungen gibt, die von der westlichen Welt mit offenen Armen empfangen werden.
"In der Türkei gibt es zum Beispiel eine starke wirtschaftliche Gruppe von Unternehmern, die von außen als die "türkischen Calvinisten" bezeichnet werden, die einerseits Werteorientierung aufzeigen, und andererseits weltoffen als Unternehmer agieren. All das gehört zur Türkei, und man sollte sie nicht auf solche Punkte reduzieren."
Die Demokratiefähigkeit der Türkei spielt nach Meinung vieler Politikwissenschaftler aber ohnehin nur eine untergeordnete Rolle bei den Beitrittsverhandlungen. Geopolitische und wirtschaftliche Überlegungen sind weitaus wichtiger. Überhaupt keinen Einfluss habe die Türkei auf die innereuropäischen Diskurse.
" Um die Rolle oder Beziehung zwischen der islamischen Religion und der Frage von Menschenrechten, der Beziehung Islam und Demokratie, Islam und Kapitalismus, das sind innereuropäische Diskurse um die eigene europäische Identität."
Erst vor wenigen Tagen hat Ali Yüksel, ein Berater des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, öffentlich angekündigt, er werde eine vierte Frau heiraten – womit der die Polygamiedebatte angefeuert und seine Regierung in eine unangenehme Situation gebracht hat. Ist die Türkei also doch ein islamistisch ausgerichteter Staat, der mit westlichen Werten nicht kompatibel ist? Yunus Ulusoy von der "Stiftung Zentrum für Türkeistudien" sieht in der Türkei eher ein Land, das unter seinem Dach unterschiedliche Strömungen vereint.
"Deshalb ist auch die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union nicht nur eine Frage der wirtschaftlichen Vernunft, nicht nur eine Frage der geostrategischen Vernunft, sondern auch eine Zivilisationsantwort auf solche gesellschaftlichen Auseinanderdifferenzierungen, letztendlich ist die Europäische Union eine Wertegemeinschaft um diese Wertegemeinschaft funktioniert dann, wenn die Mitglieder sich am politischen und demokratischen Grundregeln orientieren, und eine islamische Gesellschaft, die das kann, ist nach meinem Dafürhalten erst recht geeignet, Mitglied der Europäischen Union zu sein."
Es wird weiter gerungen um die Westanbindung der Türkei – Ende offen. Trotz des großen Interesses der USA an einem EU-Beitritt. Roy Karadag:
"Ich glaube nicht, dass die USA einen Einfluss darauf haben wird, dass die Türkei am Ende in die EU eintritt, denn am Ende müssen erst einmal die Europäer sich klar werden über ihre eigene Identität und welche Rolle die Türkei darin spielen kann."
Dr. Roy Karadag, türkischstämmiger Politikwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Gesellschaftswissenschaft in Köln, vertritt die zweite Position:
"Ich bin auf jeden Fall dafür, dass die Türkei ab irgendeinem Zeitpunkt X in die EU aufgenommen werden sollte ..."
Wobei die Betonung auf "Zeitpunkt X" liegt, im Moment sei die Türkei nicht reif für eine EU-Mitgliedschaft. Ein Grund, so Karadag: Die Türkei ist noch kein vollwertig demokratischer Staat. Aber was genau ist sie dann? Antworten auf diese Frage sind schon deshalb schwierig, weil es keine eindeutige Definition des Begriffs "Demokratie" gibt. Allgemein akzeptiert sind die Minimalanforderungen des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Robert Alan Dahl. Ein demokratischer Staat muss folgende Freiheiten und Rechte garantieren:
Die Freiheit, Organisationen zu gründen,
die Freiheit der Meinungsäußerung,
das Recht zu wählen,
das Recht, für ein öffentliches Amt zu kandidieren,
das Recht politischer Führer, für Wählerstimmen zu werben.
Außerdem muss er freie und faire Wahlen abhalten, und – last, but not least – es muss Institutionen geben, welche Regierungspolitiker vom Wählerwillen abhängig machen. Diese Grundanforderungen an Demokratien sind in der Türkei weitgehend erfüllt, trotzdem ist Karadag der Meinung,
"… dass Länder wie die Türkei, aber auch andere, wie die Philippinen, mehrere Länder in Lateinamerika, in Südostasien und in Afrika eben nicht Demokratien sind, nur weil es dort demokratische Institutionen gibt und formell freie Wahlen stattfinden.""
Politikwissenschaftler nutzen in diesem Zusammenhang gerne die Wendung "defekte Demokratie", ein Begriff, den Wolfgang Merkel Ende der 90er-Jahre am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung in die Debatte eingeführt hat. Bezogen auf die Türkei liegen die "Defekte" vor allem im rigiden Nationalismus und in der großen Macht des Militärs. Der letzte Punkt spiegelt für Yunus Ulusoy von der "Stiftung Zentrum für Türkeistudien" in Essen eine gewisse Tragik wider.
"Die türkische Republik hat eine Grundorientierung, die einmalig ist in der islamischen Welt, und diese Grundorientierung Richtung Westen, Richtung Moderne, Richtung Rationalismus sollten die Militärs garantieren, die Militärs haben sich als Garant dieser westlichen türkischen Orientierung verstanden und haben sich dann immer wieder in die Politik eingemischt, um Entwicklungen gegenzusteuern, die sie für die Ziele der türkischen Republik gefährlich hielten."
Doch die Macht der Militärs wird auch in der Türkei zunehmend infrage gestellt. So hat die türkische Regierung erst vor wenigen Tagen eine Machtprobe zu ihren Gunsten entschieden. Erfolgreich verhinderte sie die Beförderung von Offizieren, denen die Verwicklung in Putschpläne vorgeworfen wird. Das mag als Ausweis für die Rundumdemokratisierung der Türkei zwar noch nicht reichen, aber ein Blick auf einige EU-Mitglieder zeigt: Auch dort geht es undemokratisch zu. Roy Karadag:
"Die EU hat zumindest Länder wie Rumänien und Bulgarien in der letzten Erweiterungswelle aufgenommen, Länder, in denen dann die systematische Korruption um EU-Gelder dazu geführt hat, dass solche Gelder eingefroren werden, bis dieses Phänomen der Korruption zurückgedrängt werden kann."
Ob Italien alle Demokratiestandards erfüllt, darf angesichts des massiven Einflusses von Staatspräsident Silvio Berlusconi auf die Medienlandschaft ebenfalls angezweifelt werden. Und so ergibt sich denn das verwirrende Bild, dass die Türkei auch nicht mehr Demokratiedefizite hat als andere EU-Mitglieder.
"So ist es! Es kommt immer darauf an, welchen Blickwinkel Sie zu Hilfe nehmen, und ob Sie in erster Linie die Defizite wahrnehmen und nach ihnen suchen, weil Ihre Argumentation dies verlangt, dann werden Sie immer wieder solche Defizite in der Türkei und in anderen Ländern finden."
Zumal – fährt Yunus Ulusoy fort – es ja in der Türkei Gruppierungen und Strömungen gibt, die von der westlichen Welt mit offenen Armen empfangen werden.
"In der Türkei gibt es zum Beispiel eine starke wirtschaftliche Gruppe von Unternehmern, die von außen als die "türkischen Calvinisten" bezeichnet werden, die einerseits Werteorientierung aufzeigen, und andererseits weltoffen als Unternehmer agieren. All das gehört zur Türkei, und man sollte sie nicht auf solche Punkte reduzieren."
Die Demokratiefähigkeit der Türkei spielt nach Meinung vieler Politikwissenschaftler aber ohnehin nur eine untergeordnete Rolle bei den Beitrittsverhandlungen. Geopolitische und wirtschaftliche Überlegungen sind weitaus wichtiger. Überhaupt keinen Einfluss habe die Türkei auf die innereuropäischen Diskurse.
" Um die Rolle oder Beziehung zwischen der islamischen Religion und der Frage von Menschenrechten, der Beziehung Islam und Demokratie, Islam und Kapitalismus, das sind innereuropäische Diskurse um die eigene europäische Identität."
Erst vor wenigen Tagen hat Ali Yüksel, ein Berater des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, öffentlich angekündigt, er werde eine vierte Frau heiraten – womit der die Polygamiedebatte angefeuert und seine Regierung in eine unangenehme Situation gebracht hat. Ist die Türkei also doch ein islamistisch ausgerichteter Staat, der mit westlichen Werten nicht kompatibel ist? Yunus Ulusoy von der "Stiftung Zentrum für Türkeistudien" sieht in der Türkei eher ein Land, das unter seinem Dach unterschiedliche Strömungen vereint.
"Deshalb ist auch die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union nicht nur eine Frage der wirtschaftlichen Vernunft, nicht nur eine Frage der geostrategischen Vernunft, sondern auch eine Zivilisationsantwort auf solche gesellschaftlichen Auseinanderdifferenzierungen, letztendlich ist die Europäische Union eine Wertegemeinschaft um diese Wertegemeinschaft funktioniert dann, wenn die Mitglieder sich am politischen und demokratischen Grundregeln orientieren, und eine islamische Gesellschaft, die das kann, ist nach meinem Dafürhalten erst recht geeignet, Mitglied der Europäischen Union zu sein."
Es wird weiter gerungen um die Westanbindung der Türkei – Ende offen. Trotz des großen Interesses der USA an einem EU-Beitritt. Roy Karadag:
"Ich glaube nicht, dass die USA einen Einfluss darauf haben wird, dass die Türkei am Ende in die EU eintritt, denn am Ende müssen erst einmal die Europäer sich klar werden über ihre eigene Identität und welche Rolle die Türkei darin spielen kann."