Archiv


Definition des Flüchtlings wirkt heute "ein bisschen eng gefasst"

Nach Einschätzung des Politologen Jochen Hippler gibt es Defizite in der Genfer Flüchtlingskonvention, da von Hunger betroffene und ökologische Flüchtlinge darin nicht aufgenommen sind. In der Realität werde aber dieser Schwachpunkt des Textes häufig auf dem kleinen Dienstweg wieder zurückgenommen.

Jochen Hippler im Gespräch mit Gerwald Herter | 28.07.2011
    Gerwald Herter: Jean Ziegler in einem Beitrag von Mathias Zahn aus Genf. Am Telefon ist jetzt Dr. Jochen Hippler, Privatdozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Uni Duisburg-Essen. In seiner Forschungsarbeit befasst er sich unter anderem mit internationalen Konflikten, sowohl mit den Auswirkungen als auch mit Lösungsansätzen. Unser Gespräch wird uns vom Rahmen des internationalen Rechts zum konkreten Fall, nämlich nach Somalia führen. Guten Morgen, Jochen Hippler!

    Jochen Hippler: Guten Morgen, Herr Gerwald Herter!

    Herter: Herr Hippler, die Genfer Flüchtlingskonvention ist ein klassischer Text des internationalen Rechts. Setzen wir mal ganz unten an: Ist es bereits ein Glücksfall, dass es diese Konvention überhaupt gibt?

    Hippler: Ja, es ist in gewissem Sinne noch eine Folge des Zweiten Weltkrieges, also 1951 verabschiedet, hat sich die Diskussion damals vor der Verabschiedung tatsächlich aus den Folgen auch von Flucht und Vertreibung im Kriegszusammenhang nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt. Insofern – Glück, wenn es aus dem Zweiten Weltkrieg ist, würde man vielleicht nicht sagen, aber zumindest ist es ein Glück, dass bestimmte Schlussfolgerungen damals auch völkerrechtlich verbindlich gezogen worden sind, ja.

    Herter: Und wo liegen Ihrer Ansicht nach die größten Defizite dieser Konvention?

    Hippler: Also wenn wir uns auf den Text beziehen, also auf das juristische Werk und nicht, was dann die Regierungen damit unternehmen, würde ich tatsächlich in etwas milderer Form, aber in der Richtung, wie Jean Ziegler das argumentiert hat, sagen, dass die Definition des Werkes, wer ein Flüchtling ist, tatsächlich heute ein bisschen eng gefasst wirkt in dem Sinne, dass es eben halt die Verfolgung gegen politische, rassische und andere Gruppen gemeint ist.

    Und da müsste man schon heute vielleicht ein bisschen großzügiger formulieren, etwa, dass auch direkte Kriegsflüchtlinge oder dass eben, wie halt Ziegler gesagt hat, auch Hunger und ökologische Flüchtlinge drin wären. Das wäre sicher hilfreich. Man muss allerdings fairerweise zugeben, dass in der Realität das Flüchtlingshochkommissariat und auch die Internationale Gemeinschaft diesen Schwachpunkt des Textes häufig so auf dem kleinen Dienstwege in die Realität der Arbeit wieder zurücknehmen. Insofern ist es nicht ganz so hart, wie es sein könnte.

    Und das Zweite ist eben, dass sich im Prinzip die Konventionen ja eigentlich auf internationale Flüchtlinge ... also dass Flüchtlinge eben grenzüberschreitende Flüchtlinge sind, und dass das bedeutet, dass eben Binnenflüchtlinge, also Menschen, die vor solchen Katastrophen oder vor solcher Verfolgung innerhalb ihres Landes in andere Landesteile fliehen, eigentlich damit nicht gemeint sind. Aber auch da hat die Gemeinschaft inzwischen geschafft und auch das Flüchtlingskommissariat, obwohl das nicht explizit vorgesehen ist, sich trotzdem teilweise eben auch um solche Binnenflüchtlinge zu kümmern.

    Herter: Zu dem, Herr Hippler, was die Regierungen daraus machen, der Begriff Festung Europa hat sich, ob zu Recht oder Unrecht, eingebürgert. Steht die europäische Flüchtlingspolitik mit der Genfer Konvention überhaupt in Einklang?

    Hippler: Also es gibt ein Spannungsverhältnis, also wir haben tatsächlich, wenn Sie jetzt an Frontex oder an bestimmte Elemente der Flüchtlingspolitik denken, erst mal in relativ vielen europäischen Ländern eine Tendenz, erst mal die Abschottung in den Vordergrund zu stellen und dann Hilfe zu leisten, wenn es eben halt nicht mehr zu vermeiden ist, während: Der Grundgedanke der Flüchtlingskonvention war natürlich der umgekehrte, nämlich ins Zentrum zu rücken, dass Menschen, die aus Verfolgung und ähnlichen Gründen fliehen müssen, ihr Land verlassen müssen, dass die einen Anspruch haben, nicht zurückgeschickt zu werden, dass die einen Anspruch haben, nicht diskriminiert zu werden und eine Reihe von anderen Dingen man denen gegenüber tun muss.

    Da scheint mir die Grundherangehensweise tatsächlich eher das Umgekehrte zu sein – da war nicht der Gedanke, wie halten wir die Leute fern, sondern da war aufgrund der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs der Gedanke, wie kann man Flüchtlingen, die verfolgt werden, Hilfe leisten? Und das scheint mir nicht unbedingt das Hauptinteresse der europäischen Flüchtlingspolitik im Moment zu sein.

    Herter: Sie hören den Deutschlandfunk, Dr. Jochen Hippler über die Genfer Flüchtlingskonvention und über Hunger und Elend am Horn von Afrika. Herr Hippler, die Menschen, die da nun zu Hunderttausenden aus Somalia fliehen – denen jetzt zu helfen, gleichgültig ob in Somalia oder in Kenia, da führt kein Weg dran vorbei. Müssen wir aber nicht uns an die Ursachen erinnern? Somalia gilt als gescheiterter Staat. Kann man sagen, dass dieser Staat vom Westen sozusagen aufgegeben wurde?

    Hippler: Also die Ursachen sind tatsächlich relativ wichtig, aber wenn Sie formulieren, da führt kein Weg dran vorbei, ihnen zu helfen – das ist leider zu optimistisch gesehen, weil wir müssen daran denken, dass wir eigentlich seit letztem Jahr bereits wissen, dass es eine solche Katastrophe geben würde, dass die Dürre vor der Tür steht und dass eben die somalische Gesellschaft und der nicht existierende somalische Staat, wenn wir es überspitzt sagen, nicht in der Lage sein würden, dem entgegenzuarbeiten.

    Das heißt, wir haben jetzt tatsächlich Monate, wichtige Monate seit vielleicht letztem Herbst versäumt, wo man hätte helfen müssen, um vorbeugend tätig zu sein, und wieder – und das ist ja nicht das erste Mal – setzt die Hilfe erst dann ein, nachdem schon Zehntausende von Leuten gestorben sind. Und das ist ein wichtiger Punkt, wo wir über die Ursachen, dass es wirklich zu solchen Katastrophen kommt, noch mal nachdenken müssen.

    Es ist eben nicht nur der Klimawandel, der natürlich eine wichtige Rolle spielt, es ist nicht nur die Unfähigkeit mancher Staaten, schwach oder nicht existierender oder auch meinetwegen manchmal doch existierender Arten vor Ort – es ist manchmal eben auch, dass die Internationale Gemeinschaft erst dann ernsthaft hilft, wenn es wirklich schon fünfstellige Totenzahlen gibt. Und da müssen wir wirklich drüber nachdenken, dass das nicht zur Regel wird.

    Herter: Wem geben Sie da die Schuld, Hilfsorganisationen oder Staaten oder Staatenbünden?

    Hippler: Also ich glaube, es ist der Mangel der Aufmerksamkeit der einzelnen Staaten, also der UNO-Generalsekretär, die UNO hat eigentlich schon seit Monaten gewarnt, wenn auch, wie man kritisieren könnte, mit etwas zu leiser Stimme, aber Ban Ki-Moon, auch der Generalsekretär hat das kürzlich erklärt, man hätte jetzt tatsächlich schon seit Monaten um Hilfe die Internationalen Gemeinschaft gebeten, es wäre aber nicht viel passiert.

    Die Hilfsorganisationen haben sich da teilweise auch schon seit Monaten relativ laut geäußert, Oxfam, also eine der großen im Hilfsgeschäft, hat öffentlich erklärt, dass es ein skandalöser Zusammenbruch des Weltgewissens gewesen wäre mit etwas anderen Worten. Also da ist ... Das kommt dann aber teilweise nicht auf einer politischen Ebene an, wo Hilfsentscheidungen getroffen werden, nämlich auf Ebene von Nationalstaaten, die dann häufig erst reagieren, wenn die Öffentlichkeit im eigenen Land sensibilisiert ist durch Medienberichterstattung und solche Dinge. Dann plötzlich kommt eine Hilfe in Gang, aber dann ist es eben oft schon ein paar Monate zu spät.

    Herter: Das war Dr. Jochen Hippler über Flüchtlingsrechte und einige der Ursachen für die traurige Lage am Horn von Afrika. Herr Hippler, vielen Dank!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.