Man darf behaupten, dass Gore Verbinsky und Johnny Depp alias Captain Jack Sparrow mit dem vierteiligen Epos "Fluch der Karibik" das Thema "Piraten" bis auf Weiteres für sich reklamiert haben. Wozu also ein Rückgriff auf Seegefechte und Machtpolitik im 17. und 18. Jahrhundert - und mehr noch auf Utopien ebendieser Zeit?
Auf Vorstellungen, die - das muss man zugeben - in "Fluch der Karibik" am Rande durchaus angesprochen werden: etwa Basisdemokratie, Gleichheit von Männern und Frauen ungeachtet ihrer Hautfarben, zusammengewürfelt aus aller Herren Länder auf einem Schiff? Die somalischen Piraten der Gegenwart, die aus ökonomischer Vernunft genau wie ihre historischen Vorbilder - aber anders als die Kino-Piraten - lieber Schiffe entern als versenken, sind weit weniger spektakulär. Und die Piratenparteien in den westlichen Demokratien, die ihre Utopien von Basisdemokratie und Allgemeingut an die Zukunft von Datenbanken und Internet knüpfen, sind derzeit doch eher in der Defensive. Das macht weder die neuen noch die alten Piraten sonderlich attraktiv - es sei denn als Spektakel. Also tatsächlich nur ein Fall für die Unterhaltungsindustrie?
Als vor rund dreihundert Jahren die Piraten ihre "große Zeit" hatten, gegen Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts, regelten die großen Seemächte gerade ihre Einflussbereiche auf den Ozeanen, der Sklavenhandel entwickelte sich sprunghaft und Handelsgesellschaften wie etwa die Ostindienkompanie wuchsen zu macht-politisch entscheidenden Instanzen heran. In den Jahrhunderten zuvor hatten Piraten oft als Kaperfahrer im Dienst einer europäischen Macht die Schiffe der anderen Mächte aufgebracht. Um 1700 ist das weitgehend vorbei, die Piratenkapitäne und ihre Mannschaften werden sozusagen Freiberufler, gefährlich, aber ohne Rückhalt.
Auch davon erzählt "Fluch der Karibik" - aber Genaueres über so illustre Piraten und Piratinnen wie Captain Teach alias Schwarz-Bart, Captain Avery oder Mary Read und Anne Bonny erfährt ein Leser aus der "Allgemeinen Geschichte der Räubereien und Mordtaten der berüchtigten Piraten", die erstmals 1724 unter dem Namen eines Captain Charles Johnson veröffentlicht wird. Lange Zeit wird sie dem englischen Journalisten und Schriftsteller Daniel Defoe zugeschrieben - wegen der Parallelen zu seinen anderen journalistischen Arbeiten und wegen der Sachkenntnis, über die er als weit gereister Kaufmann und als Verfasser der Geschichte von Robinson Crusoe besessen hat. Bis heute ist die Autorschaft dieser "Allgemeinen Geschichte" nicht definitiv geklärt - es sind sogar noch weitere mögliche Verfasser neben Defoe und Johnson ins Gespräch gebracht worden. Sicher ist, dass das das Buch Erfolg hat, weil es die Sensationsgier der Leser bedient. Es wird in rascher Folge mehrmals aufgelegt und 1728 durch einen zweiten Band ergänzt, der sich vor allem der legendären Piratenrepublik "Libertalia" auf der Insel Madagaskar widmet - und damit dem brisantesten Aspekt des Piraten-Mythos: "Libertalia" steht für den Versuch, eine basisdemokratische Gesellschaft zu begründen, in der es eine Art Sozialversicherung geben soll, aber keine Sklaverei, keine Unterdrückung von Frauen durch Männer und keinen Rassismus. Knapp hundert Jahre vor der Französischen Revolution und der Erklärung der Menschenrechte; mehr als zweihundert Jahre, ehe weltweit nach und nach das Wahlrecht für Frauen denkbar wird und durchgesetzt werden kann.
Diesen ergänzenden Teil der Geschichte der Piraten hat Helge Meves nun zum ersten Mal in einer deutschen Übersetzung von David Meienreis und Arne Braun vorgelegt und um einen ausführlichen Materialteil ergänzt. So wie schon frühere Auswahlausgaben der "Allgemeinen Geschichte der Piraten", benutzt Mewes ebenfalls weiterhin den Namen von Defoe als Verfasser, macht das aber als Provisorium deutlich. Er erläutert die Diskussion um die Urheberschaft, zitiert weitere Quellen herbei und ergänzt die Berichte durch drei beispielhafte zeitgenössische Satzungen, die sich Piratenkapitäne und ihre Mannschaften seinerzeit gegeben haben. Der historische Bericht über die Republik "Libertalia", deren Existenz nicht sicher belegt ist, macht daher nur den kleineren Teil dieser Buchausgabe aus. Er handelt von den beiden Kapitänen Misson und Tews sowie von dem ehemaligen Dominikaner Caraciola, der vom Religionskritiker zum Philosophen der Freiheit wird und sich dabei auf Gedanken stützt, die im 17. Jahrhundert vor allem von Baruch de Spinoza veröffentlicht werden. Es ist eine chronologische Abhandlung von Ereignissen, die nach einschlägigen Beutezügen auf Madagaskar enden, wo die Piraten sich an einem geschützten Ort eine Festung und einen Hafen einrichten, den sie gegen die Kriegsschiffe der Portugiesen verteidigen können. Wo sie sich zudem mit verfeindeten eingeborenen Herrschern ins Benehmen setzen wollen - schließlich aber einem Großangriff dieser Einheimischen zum Opfer fallen. Was davon auf Fakten beruht, bleibt offen - nur Kapitän Tews ist tatsächlich als historische Figur belegt. Die beiden anderen sind vermutlich "gut erfunden".
Aber darauf kommt es nicht an, wie man aus dem umfangreicheren zweiten Teil des Buches erfährt, der Kommentare und Anmerkungen versammelt, die einerseits den Forschungsstand zur Geschichte der Piraten referieren, und andererseits - weiter ausgreifend - den geistesgeschichtlichen Ort der Satzungen der Piraten ausloten, über die man nur wenig weiß und das meist nur aus unzuverlässigen Quellen. "Libertalia" ist eine Legende, aber eine mit großer Ausstrahlung. Zahlreiche Romane spielen darauf an, der Staatsrechtler Carl Schmitt diskutiert Anfang der 40er-Jahre am Beispiel dieser Piraten Fragen des Völkerrechts auf dem offenen Meer; der marxistische Historiker Eric Hobsbawm reiht sie 1959 in seinem Buch über Banditen unter die Sozialrebellen ein. "Libertalia" ist ein mythischer Ort und ein Störfaktor - und nicht in gleicher Weise ein blutiger Karneval wie etwa die karibische Insel "Tortuga", wo es ebenfalls ein Piratennest gab, einen wüsten Ort, den die Mexikanerin Carmen Boullosa 1991 in ihrem nicht minder wüsten Roman "Sie sind Kühe, wir sind Schweine" porträtiert hat. "Libertalia" steht für eine Tradition des Erzählens von Utopien, die nicht von dieser Welt sind, die wieder verlassen werden, die als Bild, nicht als mögliche Realität inszeniert werden. Das blutige Ende der Geschichte, der Tod aller wesentlichen Protagonisten gehört zu dieser Inszenierung dazu, entschärft aber nicht die Fragen, die eine solche Utopie bis heute an die Wirklichkeit des Lesers stellen kann.
Daniel Defoe: "Libertalia. Die utopische Piratenrepublik - aus der Allgemeinen Geschichte der Piraten zusammen mit den Piratensatzungen der Kapitäne Roberts, Lowther und Phillips in deutscher Erstausgabe sowie die Beschreibung der Regierung, Gewohnheiten und Lebensart der Seeräuber auf Madagaskar von Jacob de Bucqouy"
Übersetzt von David Meienreis und Arne Braun. Herausgegeben und eingeleitet von Helge Meves.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin Dez. 2014, 240 Seiten, Euro 22,90
Übersetzt von David Meienreis und Arne Braun. Herausgegeben und eingeleitet von Helge Meves.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin Dez. 2014, 240 Seiten, Euro 22,90