Dekolonisierung bedeutet eigentlich, ganze Weltgegenden aus kolonialer Vormundschaft zu entlassen. Das klingt zunächst einmal positiv, so Christoph Türcke, doch wenn man genauer hinschaue, stelle man fest, dass dies Ende der 1940er Jahre nicht einfach aus humanitären Gründen geschah, sondern aus dem Umstand heraus, dass die alten Kolonialmächte nicht mehr die Kraft hatten, ihre Kolonien zu verwalten. Damit begann die Bewährungsprobe der von ihnen einst nach dem Vorbild der europäischen Nationalstaaten eingerichteten Länder. Türcke vergleicht den Prozess ein wenig mit Deregulierungsprozessen auf dem Arbeitsmarkt. So wie Arbeitskräfte, statt sie festanzustellen, in die Selbstständigkeit entlassen werden, so hat man Länder aus der kolonialen Vormundschaft entlassen und sie nur noch ökonomisch an staatliche und private Auftraggeber in den Ländern der ehemaligen Kolonialherren gebunden.
"In gewisser Weise ist das ganze Outsourcing von Arbeitskräften im Weltmaßstab schon mal vorexerziert worden, ehe das in den hochindustrialisierten Ländern in Form der sogenannten Deregulierung zu einer Strategie geworden ist. Nach dem Motto: Lasst die Leute sich doch selber verwalten, sie erbringen uns nur noch Leistungen. Also zum Beispiel in Verlagen werden keine neuen Lektoren eingestellt, sondern für jedes lektorierte Buch. Also eine Leistung, wird bezahlt, aber ansonsten sollen sich die Leute selber versichern."
Stammes- und Clanloyalitäten leben wieder auf
Als allerdings die ehemaligen Kolonialstaaten zerfielen, ging das nicht selten mit einem Schwund an Rechtsstaatlichkeit einher. Oft lebten ältere und ungeschriebene Stammes-und Clanloyalitäten wieder auf. Demokratische Strukturen funktionieren aber nur, wenn sie von demokratischer Mentalität erfüllt seien, meint Türcke, und sie nicht nur als Exportgut irgendwo hingebracht werden. Dies sei ein Grund für den riesigen Zerfall dieser Organisationsformen. Eine zweite, gewissermaßen gelungene Dekolonisierung, könnte nur gelingen, wenn man die konkrete kulturelle und soziale Lage in den Ländern, in denen man diese Strukturen ursprünglich gebracht hat, erst mal ernstnähme.
"Von den bestehenden Partizipationsstrukturen aus muss versucht werden, eigene Formen von Demokratie zu entwickeln. Denn Demokratie ist ja nicht ein feststehender Sachverhalt, sondern es ist selber ein lebendiger Partizipationsprozess, der je nach kulturellen Bedingungen variiert werden muss."
Christoph Türcke:
"Digitale Gefolgschaft. Auf dem Weg in eine neue Stammesgesellschaft"
C.H.Beck Verlag, München 2019
251 Seiten, 16,95 Euro
"Digitale Gefolgschaft. Auf dem Weg in eine neue Stammesgesellschaft"
C.H.Beck Verlag, München 2019
251 Seiten, 16,95 Euro