Olympische Spiele haben diese Eigenart: Patriotismus, sogar Nationalismus, wird plötzlich überall auf der Welt offen gelebt. Auch Länder mit so komplizierten historischen Hintergründen wie Deutschland blicken ab dem ersten Wettkampftag laufend auf den Medaillenspiegel. Und stimmt die Platzierung nicht, brechen Debatten aus. Olympia ist schließlich der Wettstreit der Nationen.
Aber wenn in zwei Wochen in Peking die Winterspiele beginnen, gibt es zumindest eine Ausnahme von dieser Regel: Hongkong. Formal ist die Sieben-Millionen-Einwohner-Metropole seit 1997 ein Teil Chinas. Zuvor war es für 99 Jahre britische Kolonie gewesen.
Und wegen dieser Geschichte wurde den Menschen einst weitgehende Autonomie garantiert – unter anderem im Sport. Hongkong hat sein eigenes nationales olympisches Komitee.
Konflikt ist auch im Sport zu spüren
Diese Aufzeichnungen aus einer Hongkonger Shopping Mall stammen vom vergangenen Sommer. Bei den Olympischen Spielen in Tokio hatte der Fechter Edgar Cheung die erste Goldmedaille für Hongkong seit 1996 gewonnen und die erst zweite überhaupt. „We Love Hong Kong“, rief das Publikum bei einem Public Viewing-Event. Aber dann war es plötzlich zu viel Patriotismus. Wenige Tage später wurde ein Mann verhaftet, der während der Medaillenzeremonie gebuht hatte – ihm gefiel nicht, dass zur gehissten Hongkonger Flagge die Nationalhymne Chinas lief.
Vor den Winterspielen in Peking bringt dies den Hongkonger Sport nun in eine seltsame Lage: Wie sehr darf man noch jubeln, wenn die eigenen Sportlerinnen und Sportler gewinnen? Hongkong wird nur sehr wenige Athleten nach Peking entsenden. Für die meisten Wintersportarten ist das Klima zu warm.
"Falls ein Athlet trotzdem gut abschneidet, würden die Menschen schon jubeln und ihn unterstützen. Aber sie wären jetzt wohl vorsichtiger", sagt Valarie Tan vom Mercator Institute for China Studies, einem Thinktank in Berlin. Tan stammt aus Singapur, war früher Hongkong-Korrespondentin für mehrere Medien.
"Diejenigen, die in letzter Zeit sehr laut ihre Meinung gesagt haben, sind verhaftet worden oder haben Hongkong verlassen. Ich will nicht sagen, dass überall eine Atmosphäre der Angst herrscht. Für die Menschen geht das Leben schon weiter: Facebook und so können sie noch nutzen. Aber es gibt Anlässe und Situationen, wo die Leute jetzt zurückhaltender sind. Und das ist genau das, was die Regierung in China will. Das alte Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ wird nicht mehr befolgt.
Im Sommer 2020 hat sich das öffentliche Leben in Hongkong grundlegend verändert. Mit dem Ende der britischen Kolonialzeit und der Rückgabe Hongkongs an China im Jahr 1997 sollte das Gebiet für zumindest 50 Jahre autonom bleiben. Presse- und Meinungsfreiheit wurden garantiert; die schon bestehenden demokratischen Elemente des Stadtstaats sollten ausgebaut werden.
Zahlreiche Aktivisten sind im Gefängnis
Doch vor eineinhalb Jahren setzte die Regierung aus Peking dem ein Ende. Mit dem Nationalen Sicherheitsgesetz ist Kritik an Chinas Ein-Parteien-System strafbar geworden. Zahlreiche Aktivisten sind nun im Gefängnis, kritische Zeitungen mussten schließen, das Hongkonger Parlament hat keine kritische Stimme mehr.
Was das mit Sport zu tun hat? Viel, sagt Valarie Tan: "Letztes Jahr veranstaltete Hongkong zum ersten Mal seit dem Sicherheitsgesetz und der Pandemie seinen großen Marathon durch die Stadt. Das war der Lackmustest. Und die Polizei verfolgte Läufer, die Slogans auf ihrer Kleidung trugen, die mit der Demokratiebewegung verbunden werden konnten. Bei den Spielen in Tokio gab es dann einen Athleten, der ein schwarzes Shirt trug, was auch als heikles Symbol gilt. Er sah sich dann gezwungen, sich öffentlich erklären, dass dies keine politischen Gründe hatte."
Viele Menschen haben Angst
In Hongkong ist die Lage mittlerweile so angespannt, dass kaum noch jemand etwas sagen will – nicht einmal zu den anstehenden Olympischen Spielen, die doch offiziell unpolitisch sind. Jedenfalls kritisierten die Pekinger Organisatoren den diplomatischen Boykott westlicher Länder mit der Forderung, man solle den Sport nicht politisieren.
"Ich möchte erstmal lieber nichts öffentlich sagen", erklärt eine Person, die in der Vergangenheit noch für Interviews zu Verfügung stand. "Ich kann ganz bestimmt nicht sprechen", sagt ein anderer.
Auch Akademikerinnen und Buchautoren, die sich mit Sportpolitik auseinandersetzen, beantworten keine Interviewanfragen – ebenso wie das Hongkonger Olympische Komitee. Emails bleiben einfach unbeantwortet.
Shin Kawashima, Professor für internationale Politik und Experte für China an der Universität Tokio, erklärt sich die neue Schweigsamkeit so: "In Hongkong verstehen die Menschen so langsam, wie das Sicherheitsgesetz eingesetzt wird, um Menschen festzunehmen und die Gesellschaft zu managen. Selbst bei den Sportlern: Wenn da jemand die dominante Ideologie in China nicht mag, wird er nicht nominiert. Auch die sportliche Selektion hat jetzt also mit Ideologie zu tun."
"Mit Hongkong hat China im IOC zwei Stimmen statt nur einer"
So kann man sich fragen, wozu Hongkong überhaupt noch ein eigenes olympisches Komitee braucht.
"Wenn Chinas Staatschef Xi Jinping von seinem „chinesischen Traum“ spricht, meint er damit auch Taiwan, Hongkong und die Auslandschinesen. Er geht davon aus, dass Hongkong irgendwann keinen Sonderstatus mehr haben wird. Aber was die Sportorganisation betrifft, geht es auch um Geld und Einfluss: Mit Hongkong hat China im IOC zwei Stimmen statt nur einer."
Sagt Shin Kawashima. Valarie Tan bietet eine weitere Erklärung an: "Einiges deutet darauf hin, dass Hongkonger Athleten früher oder später gezwungen werden, für China anzutreten. Aber zum jetzigen Zeitpunkt könnten einige Sportler unter solchen Umständen auswandern und für andere Länder starten. Deswegen vermeidet man dies wohl erstmal."
"Hongkongs Gouverneurin Carrie Lam hat schon häufiger davon gesprochen, dass Sport dabei helfen kann, die nationale Identität zu stärken. Und sie meinte sicher nicht eine unabhängige Hongkonger Identität, sondern die chinesische."
Das IOC sagt auf Anfrage, ob die Existenz des Hongkonger Komitees zur Debatte steht: "Es gibt keinen Plan, den Status des NOK von Hongkong, China, zu diskutieren, da es als solches vom IOC anerkannt ist."
Mit einer seltsamen Angst vor der eigenen Courage, die heimische Delegation lauthals zu unterstützen, könnte es in Hongkong also noch eine Weile weitergehen.