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Dem Pessimismus in den Rücken fallen

Der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm kennt nur ein Thema: Leben, das verpasst oder aufgeschoben wird. In seinem neuen Roman wohnt seine Hauptfigur, ein Lehrer, in Paris, hat eine Eigentumswohnung, keine Familie und zwei Teilzeit-Geliebte. Dann aber schmeißt er alles hin und kehrt zu dem Punkt zurück, an dem er sich von seiner Seele verabschiedet hat.

Von Ursula März |
    Die Geschichten des Schweizer Schriftstellers Peter Stamm verfügen über eine Fülle von Schauplätzen, sie spielen mal auf dem einen, mal auf dem anderen Kontinent, mal in Skandinavien, mal in New York. Aber sie haben nur wenige, immer neu variierte Themen. Genau betrachtet, nur ein Thema: Leben, das nicht gelebt, sondern aufgeschoben oder verpasst wird. Leben, das ohne Sinn abläuft oder auf den Gleisen mechanischer Monotonie. Leben, dessen Charakter eine Farbe hat: Das Grau der Ereignislosigkeit.

    Gleichsam aus dem Stand heraus brachte der 1963 geborene Schweizer Peter Stamm dieses Zentralthema des 20. Jahrhunderts, diese Zentralfrage säkularisierten Daseins, in dem Debutroman "Agnes" (1998) auf den aktuellen Stand. Ein Paar, ein Schweizer Sachbuchautor und eine amerikanische Physikstudentin, leben gleichsam mechanisch die Geschichte nach, die der Mann aus einer Phantasielaune heraus zu Papier bringt. Stamm gilt seit diesem Roman als eine Art Nachwuchsstar in der Oberliga der literarischen Lakonisten, der das philosophische Pathos seines Themas mit einem trockenen, schmucklosen Erzählduktus, einem elliptischen Erzählstil und mit der Alltäglichkeit seiner Sujets unterläuft.

    Auch Dramen behandelt Stamm mit dem Instrumentarium der Unauffälligkeit - und in all seinen Büchern, die auf "Agnes" folgten, Erzählbände und der Roman "Ungefähre Landschaft", blieb bisweilen schwer zu unterscheiden, ob dieses Instrumentatrium schriftstellerischer Meisterschaft oder schriftstellerischer Routine entstammt.

    Den Protagonist namens Andreas, der in Stamms neuem Roman "An einem Tag wie diesem" auftritt, kennen wir nach ein paar Seiten schon recht gut. Denn erstens ist er ein typischer Stammianer, ein Schweizer Anfang oder Mitte vierzig, der seit eineinhalb Jahrzehnten in Paris lebt und dort als Lehrer an einer Schule unterrichtet. Aber was heißt "lebt". Dieser Mann, der keine Familie hat, keine Ehefrau, nur zwei Geliebte, die pünktlich wie der Postbote je einmal pro Woche bei ihm erscheinen und nach erotischem Vollzug wieder verschwinden, dieser Mann, den auch sonst kein festes Gefühl, keine feste Verpflichtung an die Mitwelt bindet, den nichts quält und nichts beglückt, hält sich in einem Zustand des Vakuums.

    Er ist der Besitzer einer Eigentumswohnung. Viel mehr ist über sein Leben nicht zu sagen. Und: Er zehrt von einer Erinnerung. Als junger Mann war er in ein französisches Au-pair-Mädchen verliebt, die in sein Schweizer Dorf kam. Er hat sie einmal geküsst, ihr dann aus bockiger Gefühlsfurcht den Rücken zugekehrt, und sie hat einen anderen geheiratet. Wir kennen diesen Scheintoten aber auch aus einem Klassiker der Weltliteratur, aus Camus' "Der Fremde", denn der Erzähler lenkt die Erinnerung seines Helden auf den ersten Romanseiten zur Beerdigung des Vaters.

    Nicht durch Zufall spielt "An einem Tag wie diesem" in Paris, in der Heimat der existentialistischen Defätisten. Aber es ist auch die Heimat eines Filmregisseurs wie Eric Rohmer, der im banalen Zufall nicht die bleierne Bedeutungslosigkeit des Lebens, sondern den Zauber der Unberechenbarkeit erkennt. Einer seiner schönsten Filme heißt "Das grüne Leuchten", ein Farbspiel der untergehenden Sonne über dem Meer, das sich nur sehr selten ereignet und ein Glückssymbol ist. Glück für Liebende.

    Dorthin zieht es den Roman und seine Hauptfigur. "An einem Tag wie diesem" schmeißt Andreas, nachdem er vom Arzt erfahren hat, dass er eventuell Krebs hat, sein Leben hin. Er verkauft die Wohnung, er kündigt seine Lehrerstelle, er kündigt den zwei Teilzeitgeliebten. Er kehrt zu dem Punkt zurück, an dem er sich von seiner Seele verabschiedet hat, fährt in die Schweiz, sucht die Französin auf, die er einmal geküsst und nie vergessen hat. Dann fährt er zurück nach Frankreich und an die Küste.

    Dort sieht er, inmitten hunderter Strandurlauber, im Gegenlicht und nur als Shilouette ahnbar, Delphine. So heißt die junge Frau, die, wie nebenher, in die Routine seines Lebens eingebrochen ist. Ober er tatsächlich an Krebs erkrankt ist oder nicht, ob er Delphine wieder stehen lässt oder sie an sich bindet, erfährt der Leser und weiß offensichtlich auch der Erzähler nicht. Sicher ist nur: Der Fremde hat einen Blick auf das grüne Leuchten erhascht.

    Sicher ist auch: An diesem Romanplot haftet so einige Sentimentalität. Am Romanstil, am mählichen Spannungsaufbau eine gute Portion Routine. An der Kunst der Lakonie das Übel der Redundanz. Man könnte so ziemlich alles gegen diesen Roman einwenden, was gegen Stamms Literatur regelmäßig eingewendet wurde. Aber man übersähe dabei, wovon er, auf anrührende Weise erzählt: Von dem Versuch, der Routine des Pessimismus, der selbstgefälligen Philosophie der Lebensleere in den Rücken zu fallen. Peter Stamm hat den Versuch unternommen, eine in düsterer Monotonie beginnende Geschichte in der hellen Leichtigkeit eines Rohmer-Films enden zu lassen. Das ist ihm geglückt.

    Peter Stamm: "An einem Tag wie diesem". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main