Es gibt weitverbreitete Regeln wie "die Masse machts" oder "viel hilft viel", von denen leider auch Teile der Leserschaft und des Literaturbetriebs überzeugt sind. Demnach ist eine Romanschwarte von 600 Seiten allemal mehr wert als eine Erzählung, auch wenn man den Roman diagonal liest beziehungsweise auf die Verfilmung der bloßen Story wartet, in der einem speziell die lästigen Gedanken und Diskussionen erspart werden. Der hartnäckige Konsens, Erzählungen nur als Vorarbeiten oder als Etuden abzuwerten, anstatt sie als eine eigenständige Form anzusehen, erweist sich angesichts einer Autorin wie Alice Munro als blanker Blödsinn.
Die Kanadierin Munro, Jahrgang 1931, setzte sich mit ihren Erzählungen erst allmählich durch; aber dann wurde ihr umfangreiches Werk mit zahllosen Preisen gewürdigt. Ihr amerikanischer Kollege John Updike vergleicht sie mit dem russischen Klassiker Anton Tschechow; Jonathan Frantzen wünscht ihr seit Jahren den Literaturnobelpreis – wohlgemerkt, für die "mindere Disziplin" der Erzählung. Und hierzulande wird sie von Autorinnen wie Eva Menasse, Ruth Schweikert oder Judith Hermann gerühmt. Alice Munro veröffentlichte den Geschichtenband "Was ich dir schon immer sagen wollte" erstmals 1974; soeben ist er endlich auf Deutsch erschienen.
In der Erzählung "Vergebung in Familien" geht es um eine erwachsene Frau, die immer noch mit ihrem Bruder um die Anerkennung der Mutter konkurriert. Der Bruder sollte Unipräsident oder Großindustrieller werden, tatsächlich gammelt er und luchst seiner Mutter das Geld ab. In den 60er-Jahren landet er bei obskuren Hippies und gibt seither als Beruf "Priester" an. Als die Mutter lebensgefährlich krank wird, taucht er mit seinen Glaubensbrüdern in der Klinik auf, um für sie zu "arbeiten", sprich zu tanzen, Zaubersprüche zu murmeln und mit Glocken zu bimmeln. Tatsächlich wird die Mutter gesund und lobt das Talent ihres Sohnes, Leben zu retten. Die Schwester ist wie vor den Kopf geschlagen, als sie ihre eigenen Gefühle ergründet. Wollte der Bruder mit seinen Spinnereien ihr selbst eigentlich je etwas antun? Hat sie ihrer Mutter etwa den Tod gewünscht, um den Beweis zu haben, dass die Faxen ihres Bruders erfolglos bleiben müssten? Und schließlich: Könnte es selbst innerhalb des furchtbar verklebten Familiennetzes so etwas wie gegenseitiges Verzeihen geben?
Alice Munros Erzählungen über kleine Alltagserlebnisse faszinieren durch ihre Tiefendimension. Und man kann die Menschenkenntnis dieser Autorin nur bewundern. Munro behandelt ihre Figuren auf zurückhaltende, unvoreingenommene Art. Ihr Blick ist realistisch, frei von Kritik; er ist einfühlend, aber ohne Mitleidsgestik; illusionslos, aber nicht kalt. Munro interessiert sich vor allem für Familienkonstellationen, für die Beziehungsdramen zwischen Eheleuten, Geschwistern, Müttern und Kindern.
Ihre teilweise autobiografisch motivierten Erzählungen sind bis auf kleine Einsprengsel fast unberührt von den kulturellen und gesellschaftlichen Einflüssen, wie sie die nur zwei Jahre ältere Amerikanerin Marylin French, Jahrgang 1929, in ihrem Kultbuch "Frauen" von 1977 beschrieb. Hier wie da geht es vor allem um Frauen in der Zeit zwischen den braven 50er- und den rebellischen 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Aber während French mitunter reichlich typisierend und programmatisch die Niederlagen und die Auf- und Ausbrüche von Frauen aus tradierten Rollenbildern beschreibt und dabei auch das "große" politische Zeitgeschehen integriert, bleibt Munro konsequent im scheinbar Kleinen, Privaten. Ihr Blick auf brave und/oder frustrierte Hausfrauen hat nichts mit einem augenzwinkernd kokettem Understatement zu tun, er gleicht eher dem einer Forscherin. Ohne Zorn und Eifern, sondern geduldig, feinfühlig, unprätentiös und mit verhaltenem Witz geht Munro den verästelten, widersprüchlichen Gefühlen der Figuren nach. Sie moralisiert nicht und doch müssen sich ihre Gestalten fragen, wie es um ihre Integrität bestellt ist und ob sie Erfahrungen "nur" machen oder manchmal auch aus ihnen lernen. Unversehens ist man plötzlich doch bei der Frage nach dem Guten und dem weniger Guten. Und die sympathische Haltung des Skrupels betrifft auch das Schreiben selbst als einer Form, überhaupt Bilder, also Behauptungen in die Welt zu setzen. Und nicht nur das: Auch all das mündlich Überlieferte und Weitergegebene, alles Reden in Familien und in sämtlichen anderen Beziehungsgeflechten webt an einem riesigen Netz von Gerüchten, Erklärungen, an Sinnstiftung im weitesten Sinne, von der man sich getragen oder auch gefesselt fühlen kann.
Die Substanz von Munros Erzählungen liegt in einer seltenen Hellhörigkeit für die feinen, leisen Unterschiede zwischen Gesagtem und Gemeintem, zwischen Gedachtem und Gefühltem. Das kleine Mädchen in der Erzählung "Winterwind" ist kein süßes Unschuldslamm, sondern hat sehr wohl eine Ahnung davon, wo es seine Machtfantasien ausleben kann. Und noch eine vielleicht belächelnswerte alte Tante wird hier zu einem Universum, wert, es zu entdecken, und zwar immer weiter. Munro macht sich die Arbeit, das aufzudröseln, was man gemeinhin unter "Charakter" versteht. Insofern gibt es bei ihr nicht "die" eifersüchtige Schwester oder "den" Nichtsnutz von Bruder. Ihre Figurenzeichnung zeugt von Neugier und Respekt: Munro weiß nicht schon alles im Vorfeld, sondern entdeckt im Schreiben. Um es in einem Bild zu sagen: Sie wirft einen Stein ins Wasser, betrachtet aber nicht nur die sich allmählich vergrößernden Kreise, sondern folgt dem Stein bis auf den Grund. Insofern ist es auch gleichgültig, wo und wann die Erzählungen spielen: Sie haben keinen Staub angesetzt; sie können überall verstanden werden. Und sie setzen ihrerseits ein erweitertes Verständnis für allerhand seelische Abgründe frei.
Buchinfos:
Alice Munro: Was ich dir schon immer sagen wollte. Dreizehn Erzählungen. Deutsch von Heidi Zerning. Dörlemann-Verlag, 380 Seiten, 23,90 Euro
Die Kanadierin Munro, Jahrgang 1931, setzte sich mit ihren Erzählungen erst allmählich durch; aber dann wurde ihr umfangreiches Werk mit zahllosen Preisen gewürdigt. Ihr amerikanischer Kollege John Updike vergleicht sie mit dem russischen Klassiker Anton Tschechow; Jonathan Frantzen wünscht ihr seit Jahren den Literaturnobelpreis – wohlgemerkt, für die "mindere Disziplin" der Erzählung. Und hierzulande wird sie von Autorinnen wie Eva Menasse, Ruth Schweikert oder Judith Hermann gerühmt. Alice Munro veröffentlichte den Geschichtenband "Was ich dir schon immer sagen wollte" erstmals 1974; soeben ist er endlich auf Deutsch erschienen.
In der Erzählung "Vergebung in Familien" geht es um eine erwachsene Frau, die immer noch mit ihrem Bruder um die Anerkennung der Mutter konkurriert. Der Bruder sollte Unipräsident oder Großindustrieller werden, tatsächlich gammelt er und luchst seiner Mutter das Geld ab. In den 60er-Jahren landet er bei obskuren Hippies und gibt seither als Beruf "Priester" an. Als die Mutter lebensgefährlich krank wird, taucht er mit seinen Glaubensbrüdern in der Klinik auf, um für sie zu "arbeiten", sprich zu tanzen, Zaubersprüche zu murmeln und mit Glocken zu bimmeln. Tatsächlich wird die Mutter gesund und lobt das Talent ihres Sohnes, Leben zu retten. Die Schwester ist wie vor den Kopf geschlagen, als sie ihre eigenen Gefühle ergründet. Wollte der Bruder mit seinen Spinnereien ihr selbst eigentlich je etwas antun? Hat sie ihrer Mutter etwa den Tod gewünscht, um den Beweis zu haben, dass die Faxen ihres Bruders erfolglos bleiben müssten? Und schließlich: Könnte es selbst innerhalb des furchtbar verklebten Familiennetzes so etwas wie gegenseitiges Verzeihen geben?
Alice Munros Erzählungen über kleine Alltagserlebnisse faszinieren durch ihre Tiefendimension. Und man kann die Menschenkenntnis dieser Autorin nur bewundern. Munro behandelt ihre Figuren auf zurückhaltende, unvoreingenommene Art. Ihr Blick ist realistisch, frei von Kritik; er ist einfühlend, aber ohne Mitleidsgestik; illusionslos, aber nicht kalt. Munro interessiert sich vor allem für Familienkonstellationen, für die Beziehungsdramen zwischen Eheleuten, Geschwistern, Müttern und Kindern.
Ihre teilweise autobiografisch motivierten Erzählungen sind bis auf kleine Einsprengsel fast unberührt von den kulturellen und gesellschaftlichen Einflüssen, wie sie die nur zwei Jahre ältere Amerikanerin Marylin French, Jahrgang 1929, in ihrem Kultbuch "Frauen" von 1977 beschrieb. Hier wie da geht es vor allem um Frauen in der Zeit zwischen den braven 50er- und den rebellischen 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Aber während French mitunter reichlich typisierend und programmatisch die Niederlagen und die Auf- und Ausbrüche von Frauen aus tradierten Rollenbildern beschreibt und dabei auch das "große" politische Zeitgeschehen integriert, bleibt Munro konsequent im scheinbar Kleinen, Privaten. Ihr Blick auf brave und/oder frustrierte Hausfrauen hat nichts mit einem augenzwinkernd kokettem Understatement zu tun, er gleicht eher dem einer Forscherin. Ohne Zorn und Eifern, sondern geduldig, feinfühlig, unprätentiös und mit verhaltenem Witz geht Munro den verästelten, widersprüchlichen Gefühlen der Figuren nach. Sie moralisiert nicht und doch müssen sich ihre Gestalten fragen, wie es um ihre Integrität bestellt ist und ob sie Erfahrungen "nur" machen oder manchmal auch aus ihnen lernen. Unversehens ist man plötzlich doch bei der Frage nach dem Guten und dem weniger Guten. Und die sympathische Haltung des Skrupels betrifft auch das Schreiben selbst als einer Form, überhaupt Bilder, also Behauptungen in die Welt zu setzen. Und nicht nur das: Auch all das mündlich Überlieferte und Weitergegebene, alles Reden in Familien und in sämtlichen anderen Beziehungsgeflechten webt an einem riesigen Netz von Gerüchten, Erklärungen, an Sinnstiftung im weitesten Sinne, von der man sich getragen oder auch gefesselt fühlen kann.
Die Substanz von Munros Erzählungen liegt in einer seltenen Hellhörigkeit für die feinen, leisen Unterschiede zwischen Gesagtem und Gemeintem, zwischen Gedachtem und Gefühltem. Das kleine Mädchen in der Erzählung "Winterwind" ist kein süßes Unschuldslamm, sondern hat sehr wohl eine Ahnung davon, wo es seine Machtfantasien ausleben kann. Und noch eine vielleicht belächelnswerte alte Tante wird hier zu einem Universum, wert, es zu entdecken, und zwar immer weiter. Munro macht sich die Arbeit, das aufzudröseln, was man gemeinhin unter "Charakter" versteht. Insofern gibt es bei ihr nicht "die" eifersüchtige Schwester oder "den" Nichtsnutz von Bruder. Ihre Figurenzeichnung zeugt von Neugier und Respekt: Munro weiß nicht schon alles im Vorfeld, sondern entdeckt im Schreiben. Um es in einem Bild zu sagen: Sie wirft einen Stein ins Wasser, betrachtet aber nicht nur die sich allmählich vergrößernden Kreise, sondern folgt dem Stein bis auf den Grund. Insofern ist es auch gleichgültig, wo und wann die Erzählungen spielen: Sie haben keinen Staub angesetzt; sie können überall verstanden werden. Und sie setzen ihrerseits ein erweitertes Verständnis für allerhand seelische Abgründe frei.
Buchinfos:
Alice Munro: Was ich dir schon immer sagen wollte. Dreizehn Erzählungen. Deutsch von Heidi Zerning. Dörlemann-Verlag, 380 Seiten, 23,90 Euro