"Ich wähl Angela Merkel, weil Angela gesagt hat, solange wie sie Kanzlerin sein wird, kommt die Türkei nicht in die EU."
"Ne, ich geh prinzipiell nicht wählen. Ich bin in meinem Leben noch nicht einmal wählen gegangen und werde es auch nicht tun."
Berlin, im September 2009: In den Tagen vor der Bundestagswahl ist es herbstlich geworden im Regierungsviertel, die Kronen der Bäume färben sich schon, zwischen Bundeskanzleramt und Reichtagsgebäude flanieren Touristen. Arbeiter renovieren Häuser in Berlins Mitte. Studenten sind auf dem Weg zur Humboldt-Universität.
"Ja, ich habe schon gewählt und zwar das Königreich Gottes. Ich bin ein neutraler Mensch und richte mich nach der Bibel. Also kann ich keine Partei wählen."
"Ich werd wahrscheinlich die SPD wählen, weil ich Student bin, und das Erststudium kostenlos sein sollte."
"Ich wähle FDP. Das hat sich einfach so eingebürgert."
62,2 Millionen Menschen sind aufgefordert, am kommenden Wochenende ihre Stimme abzugeben. Darüber zu entscheiden, wer in die Abgeordnetenbüros Unter den Linden einzieht, wer unter Fosters Glaskuppel im Reichstag debattiert - und wer vom Kanzleramt aus das ganze Land regiert. Und während die Wähler noch flanieren, arbeiten und studieren, diskutiert das politische Berlin darüber, ob sich die SPD nach dem TV-Duell nun doch zur Großen Koalition bekennen sollte, was die Leute "da draußen" denken - und auch, wer am Ende die Wahl gewinnt. Und weil man, wenn man zum politischen Berlin gehört, viel Zeit in Bundestagsdebatten verbringt, in Fraktionssitzungen und Hintergrundgesprächen, also eher selten mit "dem Volk" ins Gespräch kommt, verlässt man sich bei allen diesen Fragen gerne auf die Meinungsforscher.
Meinungsumfragen machen den Wähler, das unbekannte Wesen, zu einer berechenbaren Größe. So jedenfalls die Hoffnung. Eine Fieberkurve für jede Partei, Tortenstücke in Farbe und Schulnoten für Spitzenpolitiker sollen widerspiegeln, was die Menschen so denken - sei es nun im oberbayerischen Rosenheim oder auf der Reeperbahn in Hamburg. Und diese Stimmung im Land will man natürlich kennen - zumal in den Tagen vor der Bundestagswahl.
"Ich glaube schon, dass der politisch-publizistische Komplex sich sehr stark an Umfragen orientiert und damit meint, zu wissen, wie die Stimmung in der Bevölkerung ist","
... sagt Nico Fried - und der muss es eigentlich wissen. Schließlich leitet er das Berliner Büro der "Süddeutschen Zeitung" und gehört damit selbst zu jenem politisch-publizistischen Komplex. Sein Büro liegt in der Französischen Straße, mittendrin im politischen Berlin. Von seinem Fenster aus kann man auf die Terrasse des Borchardt sehen, ein Restaurant, das so etwas wie ein gediegener Mittagstisch für Politiker und Hauptstadtjournalisten ist. Hier wird in diesen Tagen viel über Schwarz-Gelb oder Rot-Schwarz spekuliert und über die sogenannten Projektionen diskutiert. Doch obwohl Zweifel angebracht sind - daran, ob Umfragen nun wirklich abbilden, was die Menschen denken - kommt man als Journalist nicht an ihnen vorbei, sagt Nico Fried.
""Es lässt sich insofern gar nicht vermeiden, als die Politik auch auf Umfragen reagiert. Also schlechte Umfragewerte für die SPD führen dazu, dass die Abgeordneten unsicher werden, Angst um ihre Mandate kriegen, dass sich diese Nervosität in die Spitzen der Fraktion und auch der Partei einschleicht. Und dann wird das zum Politikum. Und dann muss man indirekt auch als Journalismus darauf reagieren - und diese Stimmung, die sich dann in einer Partei bildet, natürlich auch abbilden."
Womit sich der Kreis schließt. Denn die Umfragen werden häufig von Medien in Auftrag gegeben. Die Medien berichten dann über die Zahlen zur Wahl, worüber sich die Politiker ärgern oder freuen, je nach dem. Und über diesen Ärger oder diese Freude können dann die Medien ihrerseits wieder berichten.
Folgt man nun den Meinungsumfragen dieser Woche, so liegt die Union weiter vorne: je nach Institut bei 35 bis 37 Prozent. Die SPD kommt derzeit auf 22,5 bis 26 Prozent. Die Grünen liegen bei zehn bis 13 Prozent, die FDP bei zwölf bis 14 Prozent und die Linke bei neun bis zwölf Prozent. Gerade in diesen letzten Tagen vor der Wahl sind diese Zahlen heiß begehrte Ware, sagt der Publizist Michael Spreng.
"Viele Politiker sind auch Umfragejunkies, die dann ihre Mitarbeiter in den letzten Wochen des Wahlkampfs täglich fragen: Gibt es neue Umfragen? Oder wer hat was ermittelt? Die Politiker dürsten richtig danach, oder viele zumindest; so sehr sie dann in der Öffentlichkeit das relativieren oder so tun, als würden sie sich dadurch nicht beeinflussen lassen."
Michael Spreng sitzt im Café Einstein U.d.L., also: Unter den Linden. Auch das Einstein ist einer jener Orte, an dem man sich trifft, in Berlin-Mitte, um Politik zu machen oder um über Politik zu sprechen. Michael Spreng war früher Chefredakteur der "Bild am Sonntag" und dann, im Wahlkampf 2002, der Spindoktor von Edmund Stoiber. Und als solcher musste er am Wahlabend, am 22. September 2002, hautnah miterleben, wie sein Kandidat sich zu früh freute.
"Politiker leben ja unter einer Glocke an einem solchen Abend. Sie sind extrem angespannt, erhöhter Adrenalinausstoß. Es geht ja um sehr viel und man greift nach jedem Strohhalm. Und als dann vorübergehend die Infratest-dimap-Umfrage für die ARD Stoiber und die CDU/CSU vorne sah, war man nur zu schnell bereit, das zu glauben."
Kurz vor acht, gerade noch rechtzeitig vor der Tagesschau, ging Edmund Stoiber vor die Presse und verkündete so etwas wie seinen Sieg.
"Und ich werde noch kein Glas Champagner öffnen. Aber es wird bald sein."
Einige Minuten später war der Traum ausgeträumt; der Traum vom Kanzleramt. Dort blieb Gerhard Schröder sitzen.
Auch 2005 hätten die Politiker, zumal die von der Union, gut daran getan, den Umfragen nicht allzu viel Glauben zu schenken. Noch in den Tagen vor der Wahl lag Angela Merkel ganz klar vorne, die Meinungsforscher sahen sie bei 40 bis 43 Prozent. Ausgezählt wurden am Ende nur 35,2 Prozent - alle Institute hatten die Union hoffnungslos überschätzt. Und trotzdem habe der politisch-publizistische Komplex nichts aus jenem Wahlabend gelernt, sagt Nico Fried von der "Süddeutschen".
"Nach der Erfahrung von 2005, wo wir gesehen haben, wie falsch Umfragen liegen können und damit auch diejenigen, die daran glauben, bin ich eigentlich jedes Mal wieder erschüttert, wie sehr wir inzwischen wieder diesen Umfragen folgen."
Politiker und Journalisten pflegen offenbar so etwas wie eine Hassliebe zu Umfragen. Dieses Verlangen nach der Sonntagsfrage, gepaart mit einer gehörigen Portion Skepsis. Kein Wunder, dass sich die Meinungsforscher viel Kritik anhören müssen. Manfred Güllner, Chef von Forsa, räumt mit Blick auf die schlechten Zahlen 2005 auch selbst Fehler ein.
"Wir haben 2005 eine Situation gehabt, dass auseinanderklaffte: die Parteipräferenz, die Sympathie für die verschiedenen Parteien und die Kandidatenpräferenz. Und hier war es eben so, dass Frau Merkel auf große Vorbehalte stieß in den eigenen Reihen. Und ich hatte gedacht, das war sozusagen mein persönlicher Fehler 2005, dass die Vorbehalte gegen Frau Merkel nicht wahlrelevant werden würden."
Die Forsa-Zentrale ist in Berlin und natürlich mitten drin. Zwischen Alexander Platz und Hackeschem Markt liegt das Gebäude mit Räumen, die so groß sind wie Fabriketagen. Hier sitzen 160 Menschen, mit einem Headset auf den Ohren, und telefonieren, fragen täglich zwischen 17 und 21 Uhr nach des Volkes Meinung.
Manfred Güllner ist ein gefragter Mann in diesen Tagen vor der Bundestagswahl. Seine Analysen sind im "Stern" zu lesen, genauso wie in der "Super-Illu" oder auf Spiegel-Online. Noch nie sei es so schlimm gewesen, wie in diesem Jahr, sagt er. Alle wollen wissen, was er denkt - also: was der Wähler denkt. Dabei wird Manfred Güllner nicht müde zu betonen, dass Meinungsforscher natürlich keine Prognosen liefern, sondern allenfalls über Absichten berichten könnten. Absichten, von denen man nicht wisse, ob sie sich auch im Wahlverhalten niederschlagen. Und obwohl er das immer wieder betont, ist die Enttäuschung groß, wenn am Ende das Ergebnis nicht zur Projektion passt. Schließlich lässt sich bei kaum einer anderen Umfrage das Ergebnis so gut überprüfen wie bei einer Wahlumfrage. So ist der Wahlabend der Moment der Wahrheit; und der Moment, in dem es regelmäßig Kritik gibt:
"Das ist erstaunlich. Man könnte also schon wörtlich die Kritik, kann ich Ihnen sagen, die immer wieder kommt. Das ist seit den 50er-Jahren so. Also, das ist nichts Neues, dass man die Umfragen kritisiert."
Die Geschichte der politischen Meinungsforschung beginnt in Deutschland mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Während der NS-Zeit fragte allein die GfK, die Gesellschaft für Konsumforschung, nach den Vorlieben des Verbrauchers. Politische Umfragen dagegen waren in der Nazidiktatur nicht erwünscht. Doch schon die Amerikaner, als Besatzungsmacht, nutzten das Instrument, um herauszufinden, wie demokratietauglich die Deutschen nach der Hitler-Ära waren. Konrad Adenauer dann ließ das Volk zur Wiederbewaffnung Deutschlands und zur Westintegration in der NATO befragen. Manfred Güllner:
"Und die Umfrageforschung in Deutschland ist auch zunächst einmal mehr als Herrschaftsinstrument genutzt worden, etwa von Adenauer: sehr gut, sehr elegant, sehr effizient."
Ein souveräner Umgang mit Umfragen sei heute eher selten, beklagt Manfred Güllner - zumal Politiker dazu neigten, panisch auf die Zahlen zu reagieren, anstatt sie als wertvolle Hinweise zu nutzen.
Wie aber steht es um die Wähler? Lässt auch er sich von Tortenstücken und Fieberkurven beeindrucken? Amerikanische Forscher sind der Frage nachgegangen und haben einen sogenannten Bandwaggon-Effekt festgestellt: Weil Wähler zu den Gewinnern gehören wollen, springen sie in letzter Minute auf den Zug auf, der voraussichtlich das Rennen machen wird. Sie wählen also die Partei, die in den Umfragen vorne liegt. Dafür kommt den Parteien mit schlechten Umfragewerten der sogenannte Underdog-Effekt, das Mitleid des Wählers, zugute. Fragt man die Menschen in Berlins Mitte, so weisen sie eine Beeinflussung durch "anderer Leute Meinung" weit von sich.
"Es geht ja um meine Meinung, die ich zu Politik habe, und nicht um die Meinung anderer Leute. Außerdem ist die breite Masse ja eigentlich immer ziemlich doof halt."
"Da es den altbewährten Spruch gibt: Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast."
"Weil wir gesehen haben, dass die Umfragen nicht immer mit dem Wahlergebnis übereinstimmten."
Wer nun glaubt, verlässlich zu wissen, wie die Wähler über Meinungsforschung denken, hat sich natürlich getäuscht. Denn die Demoskopen begnügen sich nicht damit, Menschen zu befragen, die ihnen gerade zwischen Brandenburger Tor und Alexanderplatz zufällig über den Weg laufen. Allerdings: Der Zufall spielt bei den Telefoninterviews, die Forsa täglich macht, durchaus eine große Rolle.
"Die eigentliche Telefon-Nummer wird wirklich Ziffer für Ziffer aneinandergereiht, jedes Mal neu ausgewürfelt."
Anja Görlich erklärt, wie es geht. Die junge Frau ist seit zwölf Jahren bei Forsa, sie hat hier selbst als Interviewerin angefangen und ist inzwischen Teamleiterin. An das permanente Telefonrauschen hat sie sich gewöhnt. Nur wenn sie abends, nach der Arbeit, auf die Straße geht, in Berlins lebhafter Mitte, stellt sie fest, wie ruhig es ist; im Vergleich zu ihrem Arbeitsplatz jedenfalls.
1000 Menschen stellt Forsa täglich die Sonntagsfrage, also die Frage danach, was sie wählen würden, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahlen wären. Wer diese Frage zu hören bekommt, darüber entscheidet der Zufall, und das gleich zweimal.
Schritt 1: Die Wahl der Telefonnummer, darüber entscheidet ein Zufallsgenerator. Schritt 2: die Wahl der Zielperson. Denn befragt wird nicht etwa derjenige, der den Hörer abnimmt. Würde man das tun, hätte man in der Stichprobe vermutlich überdurchschnittlich viele Frauen, weil es in der Regel die Frauen sind, die zu Hause ans Telefon gehen. Um das zu vermeiden, befragt man also denjenigen, der in dem Haushalt zuletzt Geburtstag hatte.
Gefragt wird in den Interviews auch nach statistischen Daten, sodass man am Ende die Stichprobe mit der Zusammensetzung der Bundesbevölkerung abgleichen kann. Und in der Regel bildet die Stichprobe die Bevölkerung überraschend gut ab. Für das Ergebnis der Umfrage ist es aber nicht nur entscheidend, wer die Fragen beantwortet, sondern auch, wer sie stellt. Und weil die Meinungsforscher bei Forsa das wissen, haben sie ihr Team entsprechend zusammengestellt, sagt Anja Görlich.
"Wenn Sie sich hier mal umgucken, werden Sie feststellen, dass die Altersgruppen wirklich sehr gemischt vertreten sind, einfach, weil es für die Qualität einer Befragung immer sehr zuträglich ist, wenn tatsächlich das befragende Medium, also der Interviewer, genauso durchmischt ist wie die Stichprobe."
Denn wenn zwei Menschen miteinander reden - das wissen die Demoskopen - dann gehen sie eine Beziehung ein, bewusst oder unbewusst. Und die kann das Ergebnis verfälschen. Etwa, wenn eine junge Frau einen jungen Mann befragt:
"Da könnte der junge Mann der Versuchung erliegen und sich reicher machen, sich besser machen, wie im wahren Leben eben. Aber für uns wollen wir so etwas nicht haben."
Hat man alle Daten gesammelt, werden die Ergebnisse gewichtet - wie es im Demoskopen-Deutsch heißt. Nach welchem Schlüssel, das gehört zu den Geheimnissen eines jeden Instituts. So viel aber lässt sich sagen: Bei dieser Gewichtung werden die Rohdaten mit bestimmten Erfahrungswerten verrechnet. So wissen die Demoskopen beispielsweise, dass Menschen, die rechtsradikale Parteien wählen, das in einem Interview häufig nicht zugeben.
"Also, das gehört zum Forscher dazu, dass er nicht nur Fliegenbeine zählt, sondern auch, das ist natürlich wichtig, dass man handwerklich sauber Daten erhebt, aber dass man auch die Ergebnisse interpretiert, dass es nicht zu Fehlschlüssen kommt."
Diese Interpretation der Ergebnisse hat Meinungsforschern häufig den Vorwurf eingebracht, sie würden Umfragen politisch schönfärben. So musste sich Manfred Güllner - als Gerhard Schröder noch regierte - häufig "Kanzler-Guru" nennen lassen, was auch daran liegen mag, dass die beiden Freunde sind, woraus der Forsa-Chef nie einen Hehl machte.
Seine Kollegin Elisabeth Nölle-Neumann vom Allensbach-Institut dagegen war die "Kanzler-Glucke" - so lange Helmut Kohl an der Macht war. Sogar nahe Mitarbeiter räumten damals ein, dass die Forscherin dem Altkanzler politisch nahestand. Und doch: Niemand sagte Helmut Kohl seinen Abschied vom Kanzleramt 1998 so klar voraus wie Elisabeth Nölle-Neumann. Sie hatte die präzisesten Zahlen. Und so hält der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider eine politische Manipulation von Zahlen auch eher für unwahrscheinlich.
"Das können sich die Institute nicht leisten. Eine politische Schönfärberei würde ihnen schaden. Es würde ihrem guten Ruf schaden. Denn die meisten Institute verdienen ihr Geld nicht durch die Wahlumfragen, sondern etwa 90 Prozent werden durch die klassische Marktforschung eingenommen."
Frank Brettschneider lehrt an der Universität Hohenheim in Stuttgart. Er erforscht die Meinungsforschung. Brettschneider hätte nichts dagegen, wenn die Institute kurz vor der Wahl täglich neue Zahlen liefern würden. Denn gerade diese letzten Tage sind entscheidend. Und zwar aus einem einfachen Grund: Immer mehr Bürger haben bis kurz vor dem Wahltag keine Antwort auf die Frage, wen sie wählen wollen:
"Bin noch unentschlossen gerade, ehrlich gesagt, habe bisher immer SPD gewählt. Aber weiß nicht, was ich dieses Mal mache. Aber wählen gehe ich auf jeden Fall."
"Ich bin nicht sicher, ob ich noch wählen will. Zumal ich noch Urlaub machen wollte, in Schweden, und deshalb versaue ich mir den Schwedenurlaub nicht."
"Ich weiß noch nicht genau. Muss ich mir noch drüber im Klaren werden, glaube ich."
Laut infratest dimap ist derzeit noch knapp jeder Zweite unentschlossen. Der Trend also geht zur Last-Minute-Wahl - und dieser Trend wird sich noch verstärken, sagt Frank Brettschneider.
"Die Zahl der Unentschiedenen, die Zahl der Personen, die sich erst relativ spät entscheiden, die wird deutlich ansteigen, das hängt damit zusammen, dass die klassischen Wähler im wahrsten Sinne des Wortes aussterben."
Die Unentschiedenen, das sind zum einen Menschen, die sich für Politik nur wenig interessieren - und die sich häufig auch dagegen entscheiden, überhaupt ein Kreuz zu setzen. Es sind aber auch jene Bürger, die sich sehr für Politik interessieren, aber nicht auf eine Partei festgelegt sind.
Wenn aber immer weniger Menschen auf eine Partei festgelegt sind, dann hat das Folgen nicht nur für die Meinungsforscher, sondern auch für die Parteien. Dann kann sich die Union nicht darauf beschränken, mit Plakaten und Programmen den sonntäglichen Kirchgänger zu umwerben. Genausowenig wie sich die SPD auf den gewerkschaftlich organisierten Arbeiter oder die Grünen auf die umweltbewusste Frau verlassen können. Das macht den Wahlkampf nicht leichter. Und hinzukommt, sagt Manfred Güllner von Forsa:
"Eigentlich ist der Wahlkampf etwas, was in Zeiten der Krise gar nicht so gewollt ist."
Das jedenfalls denken die Menschen "da draußen" - an den Telefonen in Duisburg oder Dresden. In Berlin, oder besser im politischen Berlin dagegen wünscht man sich den Wahlkampf spannender. Viel zu nett gingen die beiden Kandidaten miteinander um, so heißt es in Redaktionen und Parteizentralen, was man nicht zuletzt in dem Fernsehduell habe sehen können. Den Wähler aber, jedenfalls jenen Wähler, der an diesem Herbstnachmittag über den Gendarmenmarkt flaniert, ist es letztlich egal, ob gerade Wahlkampf ist und ob der nun spannend ist oder langweilig.
"Es wird immer irgendetwas los sein, wo man seine Zeit besser mit vertrödeln kann, aber Herrgott, es muss irgendwann mal gewählt werden. Nehme ich an."
"Ne, ich geh prinzipiell nicht wählen. Ich bin in meinem Leben noch nicht einmal wählen gegangen und werde es auch nicht tun."
Berlin, im September 2009: In den Tagen vor der Bundestagswahl ist es herbstlich geworden im Regierungsviertel, die Kronen der Bäume färben sich schon, zwischen Bundeskanzleramt und Reichtagsgebäude flanieren Touristen. Arbeiter renovieren Häuser in Berlins Mitte. Studenten sind auf dem Weg zur Humboldt-Universität.
"Ja, ich habe schon gewählt und zwar das Königreich Gottes. Ich bin ein neutraler Mensch und richte mich nach der Bibel. Also kann ich keine Partei wählen."
"Ich werd wahrscheinlich die SPD wählen, weil ich Student bin, und das Erststudium kostenlos sein sollte."
"Ich wähle FDP. Das hat sich einfach so eingebürgert."
62,2 Millionen Menschen sind aufgefordert, am kommenden Wochenende ihre Stimme abzugeben. Darüber zu entscheiden, wer in die Abgeordnetenbüros Unter den Linden einzieht, wer unter Fosters Glaskuppel im Reichstag debattiert - und wer vom Kanzleramt aus das ganze Land regiert. Und während die Wähler noch flanieren, arbeiten und studieren, diskutiert das politische Berlin darüber, ob sich die SPD nach dem TV-Duell nun doch zur Großen Koalition bekennen sollte, was die Leute "da draußen" denken - und auch, wer am Ende die Wahl gewinnt. Und weil man, wenn man zum politischen Berlin gehört, viel Zeit in Bundestagsdebatten verbringt, in Fraktionssitzungen und Hintergrundgesprächen, also eher selten mit "dem Volk" ins Gespräch kommt, verlässt man sich bei allen diesen Fragen gerne auf die Meinungsforscher.
Meinungsumfragen machen den Wähler, das unbekannte Wesen, zu einer berechenbaren Größe. So jedenfalls die Hoffnung. Eine Fieberkurve für jede Partei, Tortenstücke in Farbe und Schulnoten für Spitzenpolitiker sollen widerspiegeln, was die Menschen so denken - sei es nun im oberbayerischen Rosenheim oder auf der Reeperbahn in Hamburg. Und diese Stimmung im Land will man natürlich kennen - zumal in den Tagen vor der Bundestagswahl.
"Ich glaube schon, dass der politisch-publizistische Komplex sich sehr stark an Umfragen orientiert und damit meint, zu wissen, wie die Stimmung in der Bevölkerung ist","
... sagt Nico Fried - und der muss es eigentlich wissen. Schließlich leitet er das Berliner Büro der "Süddeutschen Zeitung" und gehört damit selbst zu jenem politisch-publizistischen Komplex. Sein Büro liegt in der Französischen Straße, mittendrin im politischen Berlin. Von seinem Fenster aus kann man auf die Terrasse des Borchardt sehen, ein Restaurant, das so etwas wie ein gediegener Mittagstisch für Politiker und Hauptstadtjournalisten ist. Hier wird in diesen Tagen viel über Schwarz-Gelb oder Rot-Schwarz spekuliert und über die sogenannten Projektionen diskutiert. Doch obwohl Zweifel angebracht sind - daran, ob Umfragen nun wirklich abbilden, was die Menschen denken - kommt man als Journalist nicht an ihnen vorbei, sagt Nico Fried.
""Es lässt sich insofern gar nicht vermeiden, als die Politik auch auf Umfragen reagiert. Also schlechte Umfragewerte für die SPD führen dazu, dass die Abgeordneten unsicher werden, Angst um ihre Mandate kriegen, dass sich diese Nervosität in die Spitzen der Fraktion und auch der Partei einschleicht. Und dann wird das zum Politikum. Und dann muss man indirekt auch als Journalismus darauf reagieren - und diese Stimmung, die sich dann in einer Partei bildet, natürlich auch abbilden."
Womit sich der Kreis schließt. Denn die Umfragen werden häufig von Medien in Auftrag gegeben. Die Medien berichten dann über die Zahlen zur Wahl, worüber sich die Politiker ärgern oder freuen, je nach dem. Und über diesen Ärger oder diese Freude können dann die Medien ihrerseits wieder berichten.
Folgt man nun den Meinungsumfragen dieser Woche, so liegt die Union weiter vorne: je nach Institut bei 35 bis 37 Prozent. Die SPD kommt derzeit auf 22,5 bis 26 Prozent. Die Grünen liegen bei zehn bis 13 Prozent, die FDP bei zwölf bis 14 Prozent und die Linke bei neun bis zwölf Prozent. Gerade in diesen letzten Tagen vor der Wahl sind diese Zahlen heiß begehrte Ware, sagt der Publizist Michael Spreng.
"Viele Politiker sind auch Umfragejunkies, die dann ihre Mitarbeiter in den letzten Wochen des Wahlkampfs täglich fragen: Gibt es neue Umfragen? Oder wer hat was ermittelt? Die Politiker dürsten richtig danach, oder viele zumindest; so sehr sie dann in der Öffentlichkeit das relativieren oder so tun, als würden sie sich dadurch nicht beeinflussen lassen."
Michael Spreng sitzt im Café Einstein U.d.L., also: Unter den Linden. Auch das Einstein ist einer jener Orte, an dem man sich trifft, in Berlin-Mitte, um Politik zu machen oder um über Politik zu sprechen. Michael Spreng war früher Chefredakteur der "Bild am Sonntag" und dann, im Wahlkampf 2002, der Spindoktor von Edmund Stoiber. Und als solcher musste er am Wahlabend, am 22. September 2002, hautnah miterleben, wie sein Kandidat sich zu früh freute.
"Politiker leben ja unter einer Glocke an einem solchen Abend. Sie sind extrem angespannt, erhöhter Adrenalinausstoß. Es geht ja um sehr viel und man greift nach jedem Strohhalm. Und als dann vorübergehend die Infratest-dimap-Umfrage für die ARD Stoiber und die CDU/CSU vorne sah, war man nur zu schnell bereit, das zu glauben."
Kurz vor acht, gerade noch rechtzeitig vor der Tagesschau, ging Edmund Stoiber vor die Presse und verkündete so etwas wie seinen Sieg.
"Und ich werde noch kein Glas Champagner öffnen. Aber es wird bald sein."
Einige Minuten später war der Traum ausgeträumt; der Traum vom Kanzleramt. Dort blieb Gerhard Schröder sitzen.
Auch 2005 hätten die Politiker, zumal die von der Union, gut daran getan, den Umfragen nicht allzu viel Glauben zu schenken. Noch in den Tagen vor der Wahl lag Angela Merkel ganz klar vorne, die Meinungsforscher sahen sie bei 40 bis 43 Prozent. Ausgezählt wurden am Ende nur 35,2 Prozent - alle Institute hatten die Union hoffnungslos überschätzt. Und trotzdem habe der politisch-publizistische Komplex nichts aus jenem Wahlabend gelernt, sagt Nico Fried von der "Süddeutschen".
"Nach der Erfahrung von 2005, wo wir gesehen haben, wie falsch Umfragen liegen können und damit auch diejenigen, die daran glauben, bin ich eigentlich jedes Mal wieder erschüttert, wie sehr wir inzwischen wieder diesen Umfragen folgen."
Politiker und Journalisten pflegen offenbar so etwas wie eine Hassliebe zu Umfragen. Dieses Verlangen nach der Sonntagsfrage, gepaart mit einer gehörigen Portion Skepsis. Kein Wunder, dass sich die Meinungsforscher viel Kritik anhören müssen. Manfred Güllner, Chef von Forsa, räumt mit Blick auf die schlechten Zahlen 2005 auch selbst Fehler ein.
"Wir haben 2005 eine Situation gehabt, dass auseinanderklaffte: die Parteipräferenz, die Sympathie für die verschiedenen Parteien und die Kandidatenpräferenz. Und hier war es eben so, dass Frau Merkel auf große Vorbehalte stieß in den eigenen Reihen. Und ich hatte gedacht, das war sozusagen mein persönlicher Fehler 2005, dass die Vorbehalte gegen Frau Merkel nicht wahlrelevant werden würden."
Die Forsa-Zentrale ist in Berlin und natürlich mitten drin. Zwischen Alexander Platz und Hackeschem Markt liegt das Gebäude mit Räumen, die so groß sind wie Fabriketagen. Hier sitzen 160 Menschen, mit einem Headset auf den Ohren, und telefonieren, fragen täglich zwischen 17 und 21 Uhr nach des Volkes Meinung.
Manfred Güllner ist ein gefragter Mann in diesen Tagen vor der Bundestagswahl. Seine Analysen sind im "Stern" zu lesen, genauso wie in der "Super-Illu" oder auf Spiegel-Online. Noch nie sei es so schlimm gewesen, wie in diesem Jahr, sagt er. Alle wollen wissen, was er denkt - also: was der Wähler denkt. Dabei wird Manfred Güllner nicht müde zu betonen, dass Meinungsforscher natürlich keine Prognosen liefern, sondern allenfalls über Absichten berichten könnten. Absichten, von denen man nicht wisse, ob sie sich auch im Wahlverhalten niederschlagen. Und obwohl er das immer wieder betont, ist die Enttäuschung groß, wenn am Ende das Ergebnis nicht zur Projektion passt. Schließlich lässt sich bei kaum einer anderen Umfrage das Ergebnis so gut überprüfen wie bei einer Wahlumfrage. So ist der Wahlabend der Moment der Wahrheit; und der Moment, in dem es regelmäßig Kritik gibt:
"Das ist erstaunlich. Man könnte also schon wörtlich die Kritik, kann ich Ihnen sagen, die immer wieder kommt. Das ist seit den 50er-Jahren so. Also, das ist nichts Neues, dass man die Umfragen kritisiert."
Die Geschichte der politischen Meinungsforschung beginnt in Deutschland mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Während der NS-Zeit fragte allein die GfK, die Gesellschaft für Konsumforschung, nach den Vorlieben des Verbrauchers. Politische Umfragen dagegen waren in der Nazidiktatur nicht erwünscht. Doch schon die Amerikaner, als Besatzungsmacht, nutzten das Instrument, um herauszufinden, wie demokratietauglich die Deutschen nach der Hitler-Ära waren. Konrad Adenauer dann ließ das Volk zur Wiederbewaffnung Deutschlands und zur Westintegration in der NATO befragen. Manfred Güllner:
"Und die Umfrageforschung in Deutschland ist auch zunächst einmal mehr als Herrschaftsinstrument genutzt worden, etwa von Adenauer: sehr gut, sehr elegant, sehr effizient."
Ein souveräner Umgang mit Umfragen sei heute eher selten, beklagt Manfred Güllner - zumal Politiker dazu neigten, panisch auf die Zahlen zu reagieren, anstatt sie als wertvolle Hinweise zu nutzen.
Wie aber steht es um die Wähler? Lässt auch er sich von Tortenstücken und Fieberkurven beeindrucken? Amerikanische Forscher sind der Frage nachgegangen und haben einen sogenannten Bandwaggon-Effekt festgestellt: Weil Wähler zu den Gewinnern gehören wollen, springen sie in letzter Minute auf den Zug auf, der voraussichtlich das Rennen machen wird. Sie wählen also die Partei, die in den Umfragen vorne liegt. Dafür kommt den Parteien mit schlechten Umfragewerten der sogenannte Underdog-Effekt, das Mitleid des Wählers, zugute. Fragt man die Menschen in Berlins Mitte, so weisen sie eine Beeinflussung durch "anderer Leute Meinung" weit von sich.
"Es geht ja um meine Meinung, die ich zu Politik habe, und nicht um die Meinung anderer Leute. Außerdem ist die breite Masse ja eigentlich immer ziemlich doof halt."
"Da es den altbewährten Spruch gibt: Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast."
"Weil wir gesehen haben, dass die Umfragen nicht immer mit dem Wahlergebnis übereinstimmten."
Wer nun glaubt, verlässlich zu wissen, wie die Wähler über Meinungsforschung denken, hat sich natürlich getäuscht. Denn die Demoskopen begnügen sich nicht damit, Menschen zu befragen, die ihnen gerade zwischen Brandenburger Tor und Alexanderplatz zufällig über den Weg laufen. Allerdings: Der Zufall spielt bei den Telefoninterviews, die Forsa täglich macht, durchaus eine große Rolle.
"Die eigentliche Telefon-Nummer wird wirklich Ziffer für Ziffer aneinandergereiht, jedes Mal neu ausgewürfelt."
Anja Görlich erklärt, wie es geht. Die junge Frau ist seit zwölf Jahren bei Forsa, sie hat hier selbst als Interviewerin angefangen und ist inzwischen Teamleiterin. An das permanente Telefonrauschen hat sie sich gewöhnt. Nur wenn sie abends, nach der Arbeit, auf die Straße geht, in Berlins lebhafter Mitte, stellt sie fest, wie ruhig es ist; im Vergleich zu ihrem Arbeitsplatz jedenfalls.
1000 Menschen stellt Forsa täglich die Sonntagsfrage, also die Frage danach, was sie wählen würden, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahlen wären. Wer diese Frage zu hören bekommt, darüber entscheidet der Zufall, und das gleich zweimal.
Schritt 1: Die Wahl der Telefonnummer, darüber entscheidet ein Zufallsgenerator. Schritt 2: die Wahl der Zielperson. Denn befragt wird nicht etwa derjenige, der den Hörer abnimmt. Würde man das tun, hätte man in der Stichprobe vermutlich überdurchschnittlich viele Frauen, weil es in der Regel die Frauen sind, die zu Hause ans Telefon gehen. Um das zu vermeiden, befragt man also denjenigen, der in dem Haushalt zuletzt Geburtstag hatte.
Gefragt wird in den Interviews auch nach statistischen Daten, sodass man am Ende die Stichprobe mit der Zusammensetzung der Bundesbevölkerung abgleichen kann. Und in der Regel bildet die Stichprobe die Bevölkerung überraschend gut ab. Für das Ergebnis der Umfrage ist es aber nicht nur entscheidend, wer die Fragen beantwortet, sondern auch, wer sie stellt. Und weil die Meinungsforscher bei Forsa das wissen, haben sie ihr Team entsprechend zusammengestellt, sagt Anja Görlich.
"Wenn Sie sich hier mal umgucken, werden Sie feststellen, dass die Altersgruppen wirklich sehr gemischt vertreten sind, einfach, weil es für die Qualität einer Befragung immer sehr zuträglich ist, wenn tatsächlich das befragende Medium, also der Interviewer, genauso durchmischt ist wie die Stichprobe."
Denn wenn zwei Menschen miteinander reden - das wissen die Demoskopen - dann gehen sie eine Beziehung ein, bewusst oder unbewusst. Und die kann das Ergebnis verfälschen. Etwa, wenn eine junge Frau einen jungen Mann befragt:
"Da könnte der junge Mann der Versuchung erliegen und sich reicher machen, sich besser machen, wie im wahren Leben eben. Aber für uns wollen wir so etwas nicht haben."
Hat man alle Daten gesammelt, werden die Ergebnisse gewichtet - wie es im Demoskopen-Deutsch heißt. Nach welchem Schlüssel, das gehört zu den Geheimnissen eines jeden Instituts. So viel aber lässt sich sagen: Bei dieser Gewichtung werden die Rohdaten mit bestimmten Erfahrungswerten verrechnet. So wissen die Demoskopen beispielsweise, dass Menschen, die rechtsradikale Parteien wählen, das in einem Interview häufig nicht zugeben.
"Also, das gehört zum Forscher dazu, dass er nicht nur Fliegenbeine zählt, sondern auch, das ist natürlich wichtig, dass man handwerklich sauber Daten erhebt, aber dass man auch die Ergebnisse interpretiert, dass es nicht zu Fehlschlüssen kommt."
Diese Interpretation der Ergebnisse hat Meinungsforschern häufig den Vorwurf eingebracht, sie würden Umfragen politisch schönfärben. So musste sich Manfred Güllner - als Gerhard Schröder noch regierte - häufig "Kanzler-Guru" nennen lassen, was auch daran liegen mag, dass die beiden Freunde sind, woraus der Forsa-Chef nie einen Hehl machte.
Seine Kollegin Elisabeth Nölle-Neumann vom Allensbach-Institut dagegen war die "Kanzler-Glucke" - so lange Helmut Kohl an der Macht war. Sogar nahe Mitarbeiter räumten damals ein, dass die Forscherin dem Altkanzler politisch nahestand. Und doch: Niemand sagte Helmut Kohl seinen Abschied vom Kanzleramt 1998 so klar voraus wie Elisabeth Nölle-Neumann. Sie hatte die präzisesten Zahlen. Und so hält der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider eine politische Manipulation von Zahlen auch eher für unwahrscheinlich.
"Das können sich die Institute nicht leisten. Eine politische Schönfärberei würde ihnen schaden. Es würde ihrem guten Ruf schaden. Denn die meisten Institute verdienen ihr Geld nicht durch die Wahlumfragen, sondern etwa 90 Prozent werden durch die klassische Marktforschung eingenommen."
Frank Brettschneider lehrt an der Universität Hohenheim in Stuttgart. Er erforscht die Meinungsforschung. Brettschneider hätte nichts dagegen, wenn die Institute kurz vor der Wahl täglich neue Zahlen liefern würden. Denn gerade diese letzten Tage sind entscheidend. Und zwar aus einem einfachen Grund: Immer mehr Bürger haben bis kurz vor dem Wahltag keine Antwort auf die Frage, wen sie wählen wollen:
"Bin noch unentschlossen gerade, ehrlich gesagt, habe bisher immer SPD gewählt. Aber weiß nicht, was ich dieses Mal mache. Aber wählen gehe ich auf jeden Fall."
"Ich bin nicht sicher, ob ich noch wählen will. Zumal ich noch Urlaub machen wollte, in Schweden, und deshalb versaue ich mir den Schwedenurlaub nicht."
"Ich weiß noch nicht genau. Muss ich mir noch drüber im Klaren werden, glaube ich."
Laut infratest dimap ist derzeit noch knapp jeder Zweite unentschlossen. Der Trend also geht zur Last-Minute-Wahl - und dieser Trend wird sich noch verstärken, sagt Frank Brettschneider.
"Die Zahl der Unentschiedenen, die Zahl der Personen, die sich erst relativ spät entscheiden, die wird deutlich ansteigen, das hängt damit zusammen, dass die klassischen Wähler im wahrsten Sinne des Wortes aussterben."
Die Unentschiedenen, das sind zum einen Menschen, die sich für Politik nur wenig interessieren - und die sich häufig auch dagegen entscheiden, überhaupt ein Kreuz zu setzen. Es sind aber auch jene Bürger, die sich sehr für Politik interessieren, aber nicht auf eine Partei festgelegt sind.
Wenn aber immer weniger Menschen auf eine Partei festgelegt sind, dann hat das Folgen nicht nur für die Meinungsforscher, sondern auch für die Parteien. Dann kann sich die Union nicht darauf beschränken, mit Plakaten und Programmen den sonntäglichen Kirchgänger zu umwerben. Genausowenig wie sich die SPD auf den gewerkschaftlich organisierten Arbeiter oder die Grünen auf die umweltbewusste Frau verlassen können. Das macht den Wahlkampf nicht leichter. Und hinzukommt, sagt Manfred Güllner von Forsa:
"Eigentlich ist der Wahlkampf etwas, was in Zeiten der Krise gar nicht so gewollt ist."
Das jedenfalls denken die Menschen "da draußen" - an den Telefonen in Duisburg oder Dresden. In Berlin, oder besser im politischen Berlin dagegen wünscht man sich den Wahlkampf spannender. Viel zu nett gingen die beiden Kandidaten miteinander um, so heißt es in Redaktionen und Parteizentralen, was man nicht zuletzt in dem Fernsehduell habe sehen können. Den Wähler aber, jedenfalls jenen Wähler, der an diesem Herbstnachmittag über den Gendarmenmarkt flaniert, ist es letztlich egal, ob gerade Wahlkampf ist und ob der nun spannend ist oder langweilig.
"Es wird immer irgendetwas los sein, wo man seine Zeit besser mit vertrödeln kann, aber Herrgott, es muss irgendwann mal gewählt werden. Nehme ich an."