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Demo #unteilbar
"Die Straße wollen wir uns heute zurückholen"

Es sei erschreckend, wie sehr die Rechten die Straße übernommen hätten, sagte die Schriftstellerin Eva Menasse im Dlf. Die Demo #unteilbar in Berlin solle ein erstes großes Zeichen der schweigenden Mehrheit gegen rechte Strömungen sein. Man müsse wieder "eine neue Mitte bilden", forderte Menasse.

Eva Menasse im Gespräch mit Christine Heuer |
    Die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse am 12.03.2018 in Köln auf der Lit.Cologne, dem internationalen Literaturfest in Köln.
    Sich mit Leuten zusammentun, auch wenn man nicht in allen Details übereinstimme - das forderte die Schriftstellerin Eva Menasse im Dlf (dpa/Horst Galuschka)
    Christine Heuer: Gegen rechte Hetze, Diskriminierung, das Flüchtlingssterben auf dem Mittelmeer und Einschnitte im Sozialsystem, alles Themen bei der #unteilbar-Demo heute in Berlin.
    Die in Österreich geborene Schriftstellerin Eva Menasse lebt in der deutschen Hauptstadt, sie ist Mitglied des PEN-Zentrums und sie gehört zu den Unterzeichnern des Demonstrationsaufrufs #unteilbar. Sie ist jetzt am Telefon mit uns verbunden. Guten Morgen, Frau Menasse!
    "Die AfD sitzt in so gut wie allen Länderparlamenten"
    Eva Menasse: Guten Morgen, Frau Heuer!
    Heuer: Sie haben den Aufruf unterzeichnet, Sie gehen selbst hin heute zu der Demo und rufen eben andere auch auf, hinzugehen. Warum ist Ihnen das so wichtig, Frau Menasse?
    Menasse: Man muss doch sagen, wir haben es doch relativ weit kommen lassen, wir haben relativ lange zugeschaut, seit diese Gegenbewegung der rechten Strömungen begonnen hat mit Pegida und AfD. Das läuft jetzt schon seit einigen Jahren. Die AfD sitzt in so gut wie allen Länderparlamenten. Wenn es neue Strömungen gibt, radikalere als bisher, dann liegt es in der Natur der Dinge, dass man erst mal nicht weiß, wer da eigentlich dagegen ist. Man weiß immer nur, wer ist dafür. Und so, wie die Weltlage sich in den letzten Jahren entwickelt hat, fände ich es wirklich mal wichtig, dass die schweigende Mehrheit – denn die Mehrheit schweigt auch ihrer Natur gemäß immer – mal zeigt, wie groß sie ist und wer da alles eigentlich findet, jetzt reicht's. Und das ist jetzt das erste große Zeichen, oder es ist jedenfalls als ein solches erstes großes Zeichen gedacht.
    "Wenn die Mitte schwindet, geht die Balance verloren"
    Heuer: Hat die Mehrheit zu lange geschwiegen, und wenn ja, warum?
    Menasse: Das ist eine ganz schwierige Frage. Ich glaube, nicht. Denn eigentlich haben wir Wahlen, um diese Dinge zu klären. Solange wir uns auf den Rechtsstaat und auf die Demokratie verlassen können, und in diesem glücklichen Zeitalter, hoffe ich, leben wir ja immer noch, müsste man diesen Dingen einfach demokratisch ihren Lauf lassen. In letzter Zeit allerdings ist es doch erschreckend, wie sehr die Rechten die Straße übernommen haben. Und diese Straße wollen wir uns dann heute zurückholen.
    Heuer: Die Mitte. Die Mitte schwindet, die Extreme nehmen zu. Warum ist das gefährlich, Frau Menasse?
    Menasse: Das ist gefährlich, weil eine aggressive Seite immer eine andere aggressive Seite nach sich zieht. Wir haben das in der Geschichte x-mal erlebt. Wenn die Mitte schwindet, dann geht die Balance verloren, und dann sind eben die merkwürdigsten Dinge plötzlich wieder möglich, von denen man gedacht hat, die Immunisierung sei noch groß genug. Also wie zum Beispiel ein Bundesinnenminister, der die Flüchtlingsfrage für die Mutter aller Probleme hält.
    "Man darf niemanden absichtlich im Meer ertrinken lassen"
    Heuer: Oder Hitlergrüße und Menschenjagden in einer deutschen Stadt im Jahr 2018.
    Menasse: Ja, gut, solche Sachen hat es immer schon gegeben. Die gibt es seit der Wiedervereinigung. Es gibt natürlich – es hat auch noch, während Deutschland ein getrenntes Land war, radikale Gruppen gegeben. Die gibt es in allen Ländern. Die bleiben normalerweise unter ihrer üblichen Zwei- bis Drei-Prozent-Marke. Das Gefährliche jetzt daran ist, und das sehen wir allerdings in Österreich schon seit den 90er-Jahren, wie bestimmtes Gedankengut davon in der Mitte der Gesellschaft ankommt. Nehmen wir als ganz plakatives Beispiel die Flüchtlinge. Dass die Flüchtlinge weltweit, die globalen Fluchtbewegungen ein Problem sind, ein Problem für uns alle, ist eine Sache. Aber dass es plötzlich ganz normal ist, zu denken oder zu sagen, man solle Menschen im Meer ertrinken lassen, das ist eine ganz andere Sache. Man darf niemanden, keinen einzigen Menschen, absichtlich im Meer ertrinken lassen, egal wohin er danach gehen kann. Vielleicht muss er wieder zurück in das Land, aus dem er gekommen ist. Aber Ertrinkenlassen ist keine Option, und das darf nicht mal diskutiert werden – ist aber bereits so weit gekommen.
    "Noch nie ein solches Ausmaß an Desinformation und Manipulation"
    Heuer: Frau Menasse, Sie lesen Menschen, Sie schreiben über Menschen, Sie sind eine Erzählerin. Woran liegt das denn nach Ihrer Beobachtung, dass da ja offenbar Tabus gefallen sind in der letzten Zeit, in den letzten Jahren? Dass, wie Sie sagen, rechtes Gedankengut in der Mitte der Gesellschaft ankommt, und zwar unanständiges rechtes Gedankengut. Welche Hürden sind denn da gefallen?
    Menasse: Eines meiner großen Themen ist ja die Digitalisierung und was sie mit uns macht. Und ich halte das tatsächlich für einen der Hauptpunkte. Denn wir müssen ehrlich sein: Die Welt war immer schon ein brutaler, unangenehmer Ort, der einem Angst einjagen konnte. Dennoch hat sich vor allem unsere Wahrnehmung auf die Welt und auf die Probleme der Welt geändert, weil wir eben im Moment 24 Stunden täglich, sieben Tage die Woche mit unseren kleinen Geräten überall faktisch dabei sind oder uns einbilden, dabei zu sein. Das lässt die Welt automatisch zusammenrücken. Das ganze Thema von Hass und Diffamierungskampagnen im Internet muss ich jetzt nicht noch mal aufrufen, aber es ist nun tatsächlich so, dass es in der Geschichte der Menschheit noch nie ein solches Ausmaß an Desinformation und Manipulation gegeben hat, dass gleichzeitig eben so wahnsinnig viele Leute erreicht hat. Das heißt, die Menschen sind, und zwar wir, hier in unserem sicheren, friedlichen und immer noch wohlbestallten Mitteleuropa extrem hysterisch, extrem verunsichert. Wir wissen nicht, ob das, was wir im Internet sehen, schon morgen bei uns ankommen wird. Das heißt, es gibt eine unglaubliche Verunsicherung, die eine antidemokratische Wirkung hat. Lassen wir es einfach mal so kurz gesagt sein. Und das führt natürlich dazu – außerdem gibt es inzwischen Studien, dass sich gerade rechte Hetze im Internet, dass die von sehr wenigen Menschen sehr aktiv betrieben wird. Das heißt, wir wissen nicht genau als reiner Konsument, als Leser, als Surfer, als Benutzer der sozialen Medien wissen wir nicht, sind das 30.000 Leute, die diese Meinung haben, oder sind es eigentlich nur drei, die das mit Hilfe von gefakten Identitäten verbreiten. Das heißt, die Welt ist zu einem sehr bedrohlichen und für uns sehr schwer einschätzbaren Ort geworden. Und Angst und das Gefühl von Bedrohung führt immer zu politischer Radikalisierung. Auch das war in der Geschichte der Menschheit immer schon so.
    Heuer: Was können und was sollen wir uns als Gesellschaft und als Bürger zurückerobern, wenn wir deeskalieren wollen, wenn wir wieder normaler werden möchten, wenn wir wollen, dass diese Welt, in der wir leben, sich nicht mehr so bedrohlich anfühlt, dass wir so unsicher sind? Auf welche Eigenschaften kommt es da an?
    Die eigene Meinungsgruppe: "immer kleiner geworden in den letzten Jahren"
    Menasse: Es kommt, glaube ich, wirklich auf das Vertrauen in Demokratie und Rechtsstaat an, und es würde einfach mal darum gehen, sich umzuschauen im jeweiligen eigenen Leben und zu gucken, was ist da, was funktioniert da. Nicht immer nur, was funktioniert nicht. Es gibt sehr viele soziale Probleme, auch in Deutschland, das leugne ich nicht, das leugnet, glaube ich, niemand. Trotzdem muss man, wenn man zum Beispiel an so einem Brennpunkt lebt, auch überlegen, wie ginge es mir, wenn ich in einem anderen Land leben würde. Wenn man sich dessen versichern könnte, was gut ist, dann hätte man schon wieder eine Art von, wie soll ich sagen, von einem Stück von der neuen Mitte. Ich glaube, wir müssen überhaupt insgesamt viel weniger ideologisch werden. Wir müssen uns mit Leuten an einen Tisch setzen, die im Grunde dasselbe wollen, auch wenn sie in manchen Details anders sind. Ich hab das in einer Rede vor Kurzem gesagt, nicht jeder, der meint, dass in der Flüchtlingskrise einiges schiefgegangen ist, ist sofort ein böser Feind und ein AfD-Wähler. Ich glaube, dass diese Besorgnis, dass man die schon ernst nehmen und wahrnehmen muss und dass das ein Grund ist, dass wir zu exklusiv sozusagen unsere Gruppen gebildet haben. Das heißt, die eigene Meinungsgruppe ist immer kleiner geworden in den letzten Jahren. Und da, glaube ich, ging es wirklich so um etwas, was meiner Meinung nach die Grünen gerade versuchen, so ein bisschen zu gucken, was ist denn der gemeinsame Nenner, worauf können wir uns alle einigen. Und da wäre eine neue Mitte wieder zu bilden. Die Frage ist, ob das in dieser derzeit aufgeregten Lage und dieser entsetzlichen Vermüllung der Gehirne der Menschen durch das Internet überhaupt noch möglich ist.
    "Da wäre eine neue Mitte wieder zu bilden"
    Heuer: Frau Menasse, Sie haben ein Gespür, ein Lebensgefühl in Deutschland wie in Österreich. Wo fühlen Sie sich im Moment eigentlich wohler?
    Menasse: Ich hab schon vor vielen Jahren immer im Scherz gesagt, ich sei in Deutschland im politischen Asyl. Das hat aber genau damit zu tun gehabt, dass ich immer – als ich vor 20 Jahren kam – das Gefühl hatte, dass es hier einfach auch durch die Aufarbeitung nach '45 eine gewisse Immunisierung gibt, dass die Leute schon etwas gelernt haben. Dass in den Schulen über den Nationalsozialismus gelehrt wird. Alles Dinge, die es in meiner Jugend in Österreich eher weniger gegeben hat. Inzwischen sehe ich, dass das auch alles eine Illusion war. Wenn die Umstände nur richtig sind, also richtig im Sinne von falsch, dann bröckeln all diese Übereinkünfte doch relativ schnell. Ich weiß nicht – ich bin eine überzeugte Europäerin. Ich kann mir nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben als in der Mitte von Europa. Aber da mache ich dann keinen Unterschied mehr. Ich finde die Entwicklungen in Österreich im Moment natürlich noch sehr viel unangenehmer und beängstigender als die in Deutschland. In Deutschland hält ja immerhin die politische Kaste noch.
    Tief enttäuscht von Sarah Wagenknecht
    Heuer: Ja, sie hält, aber das wollte ich Sie jetzt auch noch fragen, die Demonstration ist ja mit "unteilbar" überschrieben – und schon teilen sich die Unterstützer ein bisschen. Sara Wagenknecht ist gegen die Demo, weil sie glaubt, es gehe um offene Grenzen. Konservative Kritiker bemängeln, da seien ja Ultralinke unter den Unterstützern. Wie finden Sie das?
    Menasse: Von Sara Wagenknecht, die ich aus der Ferne immer für eine intelligente Frau gehalten habe, bin ich wirklich tief enttäuscht. Das finde ich einfach eine geradezu dumme Aussage. Das andere beschreibt genau das, was ich gesagt habe: Wir müssen auf das Gemeinsame gucken, auf die unteilbaren Werte, und nicht, ob einer mehr links oder mehr rechts ist. Genau darum geht es jetzt. Dass da am Rand wieder Leute anfangen, zu meckern und zu mäkeln, auch das liegt in der Natur der Sache. Ich hoffe nur trotzdem, dass die Anzahl der Menschen, die da heute hinkommt, ein kräftiges Statement dagegen sein wird.
    Heuer: Die Schriftstellerin Eva Menasse, Österreicherin von Geburt, sie lebt in Berlin, und sie unterstützt die Demo #unteilbar, zu der heute in Berlin Zehntausende erwartet werden. Frau Menasse, ich bedanke mich sehr bei Ihnen für das Gespräch!
    Menasse: Vielen Dank, gern!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.