Demografie
Überalterung: eine Herausforderung für die Demokratie

In den westlichen Demokratien ist mit dem demografischen Wandel auch das Durchschnittsalter der Wahlberichtigten kontinuierlich gestiegen. Damit wächst die Gefahr, dass junge Menschen politisch unterrepräsentiert sind.

28.05.2024
Ein älterer Mann sitzt und stützt sich mit einer Hand auf einen Stock ab.
Europa wird immer älter. Das muss aber nicht zu weniger Repräsentation der Interessen junger Menschen führen. (Le Pictorium Agency via ZUMA/Alejo Manuel Avila)
In Deutschland sind inzwischen fast 60 Prozent der Wahlberechtigten über 50 Jahre alt. Im europäischen Ausland sieht es kaum anders aus. So hat Alterungs-Spitzenreiter Italien mit 48,4 Jahren (Stand Januar 2023) sogar noch ein höheres Durchschnittsalter als die Bundesrepublik mit 44,6 Jahren.
Expertinnen und Experten sehen darin das Risiko, dass die politischen Interessen der älteren Generationen zunehmend die Oberhand gewinnen könnten und so in den überalterten Gesellschaften nach und nach eine "Tyrannei der Mehrheit" entsteht.

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Warum sind junge Menschen politisch unterrepräsentiert?

Wer in Deutschland Mehrheiten erlangen will, kommt an den älteren Generationen kaum vorbei: Bei der vergangenen Bundestagswahl waren 58 Prozent der Wahlberechtigten älter als 50 Jahre, 1990 waren es noch knapp 44 Prozent. Die Folge: Aufgrund der Überalterung rücken die Interessen der Älteren immer stärker in den Fokus der politischen Parteien und Akteure.
Die Rechtswissenschaftlerin Silvia Pernice-Warnke warnt davor, dass die Stimmen der Jüngeren immer weniger Gehör finden könnten. Sie sagt: "Die gewählten Abgeordneten entscheiden über Zukunftsfragen, die insbesondere auch die Jüngeren und Jüngsten angehen, und da besteht zumindest Anlass zur Sorge, dass sich Entscheidungen vornehmlich an den vielleicht auch nur mutmaßlichen Interessen der Hauptwählergruppe der Älteren orientieren."
Kommen die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer ins Rentenalter, wird sich die Lage zuspitzen: Die enormen Kosten, die der demografische Wandel mit sich bringt, so der Soziologe Aladin El-Mafaalani, müssen die Jungen dann erwirtschaften, "während die Rentnerinnen und Rentner die mit Abstand mächtigste Wählergruppe sind. Das ist ein strukturelles Problem." Zum ersten Mal in der Geschichte der Demokratie entscheiden dann diejenigen über Ziele und Ressourcen, die nicht mehr selber im Arbeitsleben stehen.

Was sind die Folgen der Unterrepräsentation junger Wahlberechtigter?

Am Beispiel Italien lässt sich schon heute beobachten, was passiert, wenn junge Menschen deutlich weniger Mitbestimmungsmöglichkeiten haben als ältere Wahlberechtigte. Das Land hat die älteste Bevölkerung Europas. Bei der vergangenen Parlamentswahl 2022 lag der Altersdurchschnitt der wahlberechtigten Italienerinnen und Italiener bei 54 Jahren. Am Ende schafften nur vier Abgeordnete unter 30 Jahren den Einzug ins Parlament.
Der Demograf Alessandro Rosina stellt fest, dass sich die Perspektiven für jüngere Generationen in Italien spätestens seit der Euro-Krise 2008 dramatisch verschlechtert haben. Im Jahr 2022 hatte ein Viertel der 15- bis 29-Jährigen weder einen Ausbildungsplatz noch Arbeit. In den vergangenen 20 Jahren haben mehr als 600.000 Menschen Italien verlassen, ohne zurückzukehren, viele von ihnen jung und gut ausgebildet.
Die "fuga dei cervelli", die Flucht der Gehirne, wird zu einem immer größeren Problem. Die Ursachen dafür sieht Rosina darin, dass junge Menschen in Italien nicht in der Lage seien, an wichtigen, zukunftsweisenden Entscheidungen mitzuwirken und die Gesetze, das Wohlfahrtssystem sowie das Sozial- und Wirtschaftssystem gemäß ihren Bedürfnissen zu gestalten.
Dazu kommt: Die Reallöhne sind in Italien seit 30 Jahren nicht gestiegen. Die andauernde Wirtschaftskrise könne zu neuen Verteilungskämpfen führen, die auch entlang der unscharfen Trennlinie zwischen Jung und Alt verlaufen, so Rosina. "Wenn die unmittelbaren Interessen der Gegenwart der älteren Generationen und die Investitionen in die Zukunft der jüngeren Generationen miteinander in Konflikt geraten", sieht er die Gefahr, dass Erstere zunehmend die Oberhand gewinnen. "Und das ist dann die sanfte Tyrannei der Mehrheit."

Wo zeichnet sich ein Generationenkonflikt ab?

Auch in Deutschland schauen viele junge Menschen - unter anderem angesichts mehrerer Kriege, steigender Inflation und unbezahlbaren Wohnraums - pessimistisch in die Zukunft, wie die kürzlich erschienene Studie "Jugend in Deutschland" ergab. Es mangele an positiven Visionen und politischen Gestaltungsmöglichkeiten für junge Generationen.
Das Beispiel Klimawandel wird oft genannt, um einen vermeintlichen Generationenkonflikt zu illustrieren. Und tatsächlich: Während Klima-, Natur- und Umweltschutz laut einer Umfrage des Naturschutzbunds Deutschland (NABU) zur Bundestagswahl 2021 für 38 Prozent der 18- bis 29-Jährigen das wichtigste politische Thema war, lag der Wert bei den 50- bis 64-Jährigen bei nur knapp 25 Prozent. Auch bei Themen wie Familienpolitik und Renten gibt es, wie andere Studien zeigen, zwischen den verschiedenen Altersgruppen divergierende Standpunkte.
Der Demokratieforscher Robert Vehrkamp warnt jedoch davor, aus statistischen Differenzen direkt auf Interessenkonflikte zu schließen: "Das nennt man deskriptive Repräsentativität, wenn man aus dem Identitätsmerkmal Alter eins zu eins ableitet, was für Interessen die Wahlberechtigten vertreten. Wir alle haben multiple Identitäten und deshalb ist es zu holzschnittartig zu sagen, ältere Menschen vertreten nur die Interessen von Älteren und Jüngere vertreten nur die Interessen von Jüngeren."
Es gebe schließlich junge Menschen, die sich überhaupt nicht für Klimapolitik interessierten, und ältere Menschen, die sich enorm für Klimapolitik engagierten. Bei einigen Themen, wie zum Beispiel in der Rentenpolitik, seien zwar Generationeneffekte erkennbar, diese seien laut Vehrkamp aber statistisch in der Regel schwach und wenig stark ausgeprägt.
Ist der drohende Generationenkonflikt also mehr herbeigeredet als Realität? Ursula Engelen-Kefer, stellvertretende Vorsitzende des Landesseniorenbeirats Berlin, findet, der Generationenkonflikt werde politisch geschürt, um von Verteilungskonflikten abzulenken: "Unser Bemühen, auch speziell meines seit Jahrzehnten, geht dahin, zu sagen, wir brauchen eine Generationenbrücke anstelle dieses Konfliktes."

Was kann für mehr Repräsentanz junger Menschen getan werden?

Expertinnen und Experten diskutieren verschiedene Modelle, um die Sichtbarkeit und Repräsentanz junger Menschen in Europa zu verbessern und um eine zukünftige Interessenskluft zwischen den Generationen zu vermeiden.
Die Rechtswissenschaftlerin Pernice-Warnke sieht den demografischen Wandel nur als eines von mehreren Problemen. Ein anderes sei das derzeit gültige Mindestwahlalter bei der Bundestagswahl, das viele jüngere Menschen ausschließe. Sie hält ein Wahlrecht bereits ab 14 Jahren für denkbar. Auch ein Familienwahlrecht könne debattiert werden. Das würde bedeuten, dass Eltern für ihre Kinder mitwählen.
Ähnlich wie Ursula Engelen-Kefer sieht auch Pernice-Warnke eine Lösung in der gemeinsamen Arbeit von Alt und Jung in Form eines Generationengremiums. "Gleichwohl wäre die Funktion aber rein beratend, und dieses Gremium wäre paritätisch mit Jüngeren und Älteren besetzt. Die Jüngeren würden die jüngeren Mitglieder und die Älteren die älteren Mitglieder wählen." Das Votum eines solchen generationenübergreifenden Gremiums wäre bei allen Gesetzesvorhaben einzuholen und zu berücksichtigen, so der Vorschlag.
pj