"In Ihren Händen, Abgeordnete, liegt eine große Verantwortung. Sie sollten wie Landwirte hier in diesem Parlament die Saat des Dialogs als Schritt zur nationalen Eintracht aussähen."
Mit diesen Worten richtete sich der venezolanische Präsident Hugo Chávez am 15. Januar an die Abgeordneten im neu gewählten Parlament und besonders an die Opposition. Sie war zum ersten Mal seit ihrem Wahlboykott 2005 mit rund 40 Prozent der Mandate wieder in die Volksvertretung eingezogen.
"Ihre Rückkehr in die Nationalversammlung soll den politischen Raum erweitern. Also willkommen in der Politik. Lassen Sie uns als echte Politiker miteinander debattieren und in Aktion treten, als politische Gegner und nicht als Feinde."
Solche versöhnlichen Töne sind von Chávez nur selten zu hören. Erst wenige Wochen zuvor hatte er seinen Parteigängern versprochen, die Opposition im neuen Parlament "zu zermalmen". Doch an diesem Tag präsentierte er sich als konzilianter Staatsmann im schwarzen Anzug mit Präsidenten-Schärpe. Anlass bot sein Bericht zur Lage der Nation. In einer siebenstündigen Ansprache, eine seiner längsten, rief er mehrfach die Volksvertreter zum Dialog auf. Er zeigte sich sogar willens, das Ermächtigungsgesetz wieder zurückzunehmen, mit dem das alte Parlament ihm Sondervollmachten verliehen hatte.
"Die Regierung wird das Gesetz der Nationalversammlung zur Überprüfung vorlegen - jetzt haben wir Januar, Februar, März, April: am 1. Mai. Wir werden bis dahin alle Maßnahmen getroffen haben, die wir vorhatten. Oder ich gebe Euch das Ermächtigungsgesetz einfach zurück. Ich habe damit kein Problem. Ich werde einfach härter und schneller arbeiten."
Doch was der Staatsmann gerade verkündet hatte, das warf der Regierungschef, diesmal im roten Hemd seiner Partei, bereits fünf Tage später über den Haufen. Die Opposition hatte ihn aufgefordert, das Gesetz sofort zurückzuziehen. In einer seiner zahllosen, von Rundfunk und Fernsehen übertragenen Versammlungen antwortete er darauf
"Sie haben sich über das Ermächtigungsgesetz beschwert, also habe ich die Laufzeit bis auf Mai reduziert. Aber nun wollen sie alles oder nichts. Sie sollen sich doch mit ihrer Forderung den Hintern wischen. Ich werde das Ermächtigungsgesetz nicht zurücknehmen."
Dialog beinhaltet Widerspruch. Aber der scheint in dem von Chávez gern zitierten Konzept seiner "partizipativen und protagonistischen Demokratie" dem Präsidenten vorbehalten zu sein. Dabei hatte die Opposition doch lediglich die Aufhebung jener Sonderrechte gefordert, die ihr eine sinnvolle parlamentarische Arbeit nahezu unmöglich machen. Das alte Parlament hatte wenige Tage vor Ende der Legislaturperiode noch rund 30 Gesetze verabschiedet, von denen anzunehmen war, dass sie von der Opposition abgelehnt würden. Darunter befand sich dieses sog. Ley Habilitante. Es sollte eigentlich nur dazu dienen, die Überschwemmungskatastrophe vom Dezember besser zu bewältigen. Aber es ermöglicht dem Präsidenten auch, künftig per Dekret zu regieren, das heißt Maßnahmen zu treffen, die normalerweise der Zustimmung durch das Parlament bedurft hätten. Der Rechtswissenschaftler René Molina Galicia:
"Das war einer der fortgesetzten Schläge von Chávez gegen die Verfassung, als er sich vom alten Parlament Vollmachten übertragen ließ, von denen er wusste, dass die Opposition sie auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen würde, wenn er sie erst im Januar der neuen Zusammensetzung im Abgeordnetenhaus vorgelegt hätte. Er machte aus der Nationalversammlung eine ohnmächtige Veranstaltung, als er ihr das vornehmste Recht, Gesetze zu erlassen, weitgehend beschnitt. Wir befinden uns gegenwärtig in einer sehr ernsten verfassungsrechtlichen Situation."
Im letzten Jahr hatte Präsident Chávez bereits eine Wahlkreis-Reform durchgesetzt, als sich abzeichnete, dass sich die Opposition an den Parlamentswahlen im September 2010 beteiligen würde. Nach allen Umfragen konnte sie ein günstiges Ergebnis erwarten, denn die Popularität des Führers der 'bolivarianischen Revolution' war seit der Wirtschaftskrise von 2009 beträchtlich gesunken. Das Resultat überraschte: Die Opposition erhielt nahezu die gleiche Anzahl der absoluten Stimmen. Doch nach dem neuen Zuschnitt der Wahlkreise bekam die Regierungspartei eine beträchtliche Mehrheit der Sitze. Die Opposition verfügt immerhin über die Sperrminorität bei der Abstimmung von Gesetzen. Doch die nützt ihr nichts, weil Hugo Chávez vorläufig per Dekret herrschen kann. Welche Möglichkeiten bleiben also der Opposition? Julio Borges, einer ihrer führenden Köpfe:
"Als im Dezember zahlreiche Gesetze vom Parlament verabschiedet wurden, darunter auch das Ermächtigungsgesetz, da war das für uns eine verzweifelte Situation, denn wir besaßen kaum noch einen politischen Spielraum. Manche hielten uns für naiv, als wir trotzdem die parlamentarische Arbeit aufnahmen. Dann bot uns der Präsident den Dialog an und schlug uns anschließend die Tür vor der Nase zu. Wir wollen jetzt vor allem unser Profil als politische Alternative schärfen. Wir haben 2010 nahezu die Mehrheit der Stimmen erreicht, und unser Ziel ist es, im nächsten Jahr die Präsidentenwahl zu gewinnen."
Die Opposition hat nicht nur mit den Folgen der fragwürdigen Zusammensetzung des Parlaments zu kämpfen, sondern sie hat auch große Probleme mit ihrem Führungspersonal. Noch ist keine Persönlichkeit zu erkennen, die es ernsthaft mit dem großen Selbstdarsteller Chávez aufnehmen könnte. Auch vermochte sich dieses Konglomerat von Parteien bis jetzt auf kein politisches Programm zu einigen. Ihre Interessen sind zu verschieden. Das einzige gemeinsame Ziel heißt "Weg mit Chávez!" Aber das allein dürfte auf Dauer die Wähler nicht überzeugen. Luis Vicente León, Direktor des Meinungsforschungsinstituts Datanálisis:
"Die Opposition ist ein Sack voller Katzen. Da kommt es vor, dass Unternehmer Seite an Seite mit Mitgliedern der Kommunistischen Partei demonstrieren. Das ist aber nur eine kurzfristige Allianz gegen Präsident Chávez, dessen Anhänger hauptsächlich aus der Unterschicht kommen. Die Opposition findet vor allem in der Mittelschicht und in der Elite der großen Städte ihre Wählerschaft. Diese Venezolaner sind der Kriminalität auf den Straßen, der steigenden Radikalisierung von Chávez und der Korruption seiner Regierung müde. Sie sind auch nicht vom Staat als Arbeitgeber abhängig wie die Leute auf dem Land, sondern meist in der Privatwirtschaft tätig, sind also unabhängiger und kritischer."
Die Staatswirtschaft ist zunehmend ineffizient. Das wird sogar am Erdölkonzern PDVSA deutlich, dem größten in Lateinamerika und der wichtigsten Einnahmequelle Venezuelas. Dort hatte 2002 - im Jahr des Putschversuchs gegen Chávez - das Management und mit ihm ein Großteil der Facharbeiter zwei Monate lang die Förderung blockiert, um den Präsidenten zum Rücktritt zu zwingen. Danach ersetzte die Regierung 19.000 Angestellte durch loyales Personal. Doch seither ist die Produktion gesunken. Luis Vicente León:
"Es gab keine großen Investitionen, um das Fehlen der Fachkräfte auszugleichen und den Verschleiß der Förderanlagen aufzufangen. Ein Großteil der Gewinne, insgesamt rund 60 Milliarden Dollar, floss hauptsächlich in soziale Projekte zur Grundversorgung des ärmsten Teils der Bevölkerung, in die sogenannten Missionen, die Hilfsprogramme im Gesundheitswesen oder zur Versorgung mit Nahrungsmitteln. Der Konzern muss sie aber nicht nur finanzieren. Ihm obliegt auch ihre Durchführung. Dadurch werden viele Kapazitäten gebunden, die dringend für die Steigerung der Produktion eingesetzt werden müssten. Der Rückgang der Produktivität ist nur deshalb nicht ins Gewicht gefallen, weil sich die Einnahmen trotzdem erhöhten durch den drastischen Anstieg des Ölpreises."
Der venezolanischen Erdölindustrie fehlt es auch deshalb an technischem Know-how, weil Präsident Chávez die ausländischen Unternehmen verstaatlicht, teilweise sogar entschädigt hat. Mit ihnen verließen viele Fachkräfte Venezuela, weil sie im Ausland besser bezahlt werden. Als die globale Wirtschaftskrise 2009 Venezuela erreichte und der Ölpreis auf einen Tiefstand sackte, entpuppte sich der Staatskonzern als rüder Arbeitgeber: Er begann massenhaft Personal abzubauen und zwar ohne Rücksicht auf die Normen des Arbeitsrechts. Roberto González, Sprecher einer Gruppe entlassener Arbeiter:
"Wir wurden ohne Begründung, ohne Einhaltung der juristisch vorgeschriebenen Verfahrensweise und ohne jegliche Entschädigung auf die Straße gesetzt. Seit drei Jahren versuchen wir nun schon, Recht zu bekommen. Wir haben in jeder Form protestiert, auch mit Hilfe der Gewerkschaften. Aber bis heute hat keine einzige staatliche Instanz unsere Forderung nach Wiedereinstellung offiziell zur Kenntnis genommen. Deshalb ist jetzt eine Gruppe von uns hier vor dem Parlament in den Hungerstreik getreten. Wir wollen auf unsere dramatische Situation aufmerksam machen, aber auch auf die Bedingungen in der staatlichen Erdölindustrie. Denn viele von uns 90.000 Erdölarbeitern leiden unter gesundheitlichen Schäden, die sie dort erlitten haben und um die sich niemand kümmert. Dabei gehören wir alle zu jenen Arbeitern, die nach dem Streik von 2002 am Wiederaufbau der Ölindustrie mitgewirkt haben."
Auf der einen Seite ist PDVSA für die sozialen Wohltaten der Regierung zuständig, auf der anderen bricht der Ölgigant elementare Arbeitsrechte. Doch das ist nur einer von vielen Widersprüchen der Politik von Präsident Chávez. Seine Verstaatlichungen zentraler Teile der Wirtschaft haben zu Engpässen beispielsweise beim Wohnungsbau geführt. Der Rechtswissenschaftler René Molina Galicia:
"In den letzten acht Jahren wurde hier vieles verstaatlicht: Kaffee-Fabriken, Banken, landwirtschaftliche Betriebe, Energie-Unternehmen - was dem Präsidenten bei seinen vielen Auftritten im Fernsehen eben so in den Sinn kam. Dazu gehörten auch jene Stahlproduzenten, die Rohre für den Gerüstbau herstellten, aber ebenso die drei großen mexikanischen, französischen und Schweizer Zementfabriken. Als sie sich gezwungenermaßen zurückzogen, wurde ein Management eingesetzt, das nicht fähig war, die Produktionsprozesse vernünftig zu steuern. So fehlt es heute in der Bauwirtschaft am Nötigsten. Ineffizienz, Bürokratie und Korruption charakterisieren diese Regierung."
Inzwischen hat das notleidende Bruderland Kuba die Beschaffung des fehlenden Zements übernommen. Aber der staatliche Wohnungsbau bleibt seit Jahren weit hinter den großen Versprechungen von Präsident Chávez zurück. Nun hat er angekündigt, er wolle innerhalb von zwei Jahren 350.000 Wohnungen errichten lassen. Das hält die Privatwirtschaft für ausgeschlossen, angesichts der materiellen Engpässe und einer bisher fehlenden Planung, von der Finanzierung ganz zu schweigen. Auch das große Gesundheitsprojekt der Regierung Barrio Adentro geriet 2009 in die Krise. Mit Hilfe von rund 13.000 kubanischen Ärzten, Krankenschwestern und Krankenpflegern waren etwa 4.500 Sanitätsposten aufgebaut worden. Sie sollten der Bevölkerung in den Armenvierteln eine medizinische Grundversorgung bieten. Venezuela lieferte den Cubanern dafür das dringend benötigte Öl. Der Meinungsforscher Luis Vicente León:
"Die kubanischen Ärzte können 70 oder 80 Prozent der alltäglichen Krankheiten behandeln. Dafür sind sie sehr geeignet. Und die Menschen waren mit ihnen sehr zufrieden. Sie wurden hier besser betreut als in den schlecht ausgerüsteten, weil völlig vernachlässigten, öffentlichen Krankenhäusern. Aber bei der Wirtschaftskrise 2009 glaubte die Regierung, auch in diesem Bereich sparen zu müssen, und schloss eine große Zahl dieser Sanitätsposten. Bei anderen fehlte plötzlich das Personal, weil viele kubanische Mediziner nach Kolumbien oder in die USA desertiert waren. 2010 bekannte Präsident Chávez, dass die Reduzierung von Barrio Adentro ein großer Fehler war, der ihm viel Popularität gekostet hat. Auch die anderen Sozialprogramme litten damals unter dieser Krise."
Zu den sozialen Aufgaben des Ölriesen PDVSA gehört zum Beispiel das Lebensmittel-Programm PDVAL. Es soll den armen Teil der Bevölkerung Venezuelas mit Grundnahrungsmitteln zu niedrigen Preisen versorgen: mit Milch, Fleisch, Bohnen, Reis, Mais, Zucker, Gemüse usw. Doch die venezolanische Landwirtschaft ist nicht in der Lage, diese Produkte selbst in ausreichender Menge herzustellen. Das war schon vor der Chávez-Regierung ein Problem: Das Ölland verfügte über genügend Devisen und leistete sich die Einfuhr aus dem Nachbarland Kolumbien oder sogar aus den USA. Heute, in Zeiten der 'bolivarianischen Revolution', kommt ein weiteres Phänomen hinzu. Luis Vicente León:
"Letztes Jahr entdeckte man Hunderte Tonnen von Lebensmitteln, die in Containern vergammelten. Ein klarer Fall von Korruption. Es wurde wie wild eingekauft, ohne die nötigen Kapazitäten für die Verteilung der Lieferungen zu besitzen. Offensichtlich ging es auch gar nicht darum, sondern um die Abschöpfung eines Devisengewinns bei der Einfuhr. Die Verantwortlichen in der Regierung versuchten, sich auf diese Weise zu bereichern - wie sie das in vielen anderen Fällen ebenfalls tun. Chávez hat daraus gelernt und bei der Verstaatlichung der Supermärkte von Exito dem französischen Konzern das operative Geschäft überlassen. Dafür muss er zahlen, kann aber über die Supermärkte schreiben 'Vollendet im Sozialismus'."
Präsident Chávez beruft sich oft auf die strikte Legalität seiner Politik. Wenn allerdings der Gegner zu stark wird, dann ist er durchaus bereit, demokratisch getroffene Entscheidungen des Volkes, das er so gern zitiert, zu ignorieren. So geschah es im Fall von Antonio Ledezma. Der Oppositionelle war im November 2008 mit deutlicher Mehrheit zum Oberbürgermeister der Stadt Caracas gewählt worden. Das ist nach dem Staatspräsidenten das zweitwichtigste Amt in Venezuela und ein gutes Sprungbrett an die Spitze des Landes. Hätte er auch nur einige zentrale Probleme der Metropole gut gemanagt, wäre er ein ernsthafter Kandidat für die Präsidentenwahl 2012 geworden. Deshalb ließ Chávez per Dekret einen Bundesdistrikt mit einer übergeordneten Behörde schaffen, die seit dem letzten Jahr die Stadt Caracas verwaltet. Ihr wurden alle Vollmachten und auch 99 Prozent des Budgets Oberbürgermeisters übertragen. Antonio Ledezma:
"Wir wurden über Nacht unserer Kompetenzen, Befugnisse und Mittel beraubt, halten aber dennoch an unserer Legitimität fest, denn wir sind von der Bevölkerung mit Mehrheit gewählt worden. Es dürfte ein weltweit einzigartiges Ereignis sein, dass man einen rechtmäßig gewählten Oberbürgermeister nach wenigen Wochen kalt stellt. Deshalb bin ich aus Protest in den Hungerstreik getreten und habe Respekt vor dem Amt verlangt, vor der Entscheidung der Bürger und auch vor den Tausenden von Angestellten, die entlassen wurden. Wir arbeiten zwar weiter mit einem kleinen Apparat und einem paar Dutzend Leuten, aber regieren ist unter solchen Bedingungen sehr schwer."
Die venezolanische Demokratie hat in den zwölf Jahren der Regierung Chávez schwer gelitten. Sie war schon reichlich beschädigt, als er auf ihrer Basis seine'bolivarianische Revolution' 1999 begann. Aber seither hat er sich ihre beiden wichtigsten Säulen, Parlament und Justiz, gefügig gemacht. Die hohe Kriminalitätsrate und wachsende Gewalt im Land ist u.a. auch das Resultat mangelnder Strafverfolgung. Die Rechtssicherheit ist angeschlagen - der Fall des Oberbürgermeisters von Caracas ist nur das spektakulärste Beispiel. Der Umgang mit dem politischen Gegner zeigt, dass der Begriff Dialog für Präsident Chávez nur eine rhetorische Formel ist.
Mit diesen Worten richtete sich der venezolanische Präsident Hugo Chávez am 15. Januar an die Abgeordneten im neu gewählten Parlament und besonders an die Opposition. Sie war zum ersten Mal seit ihrem Wahlboykott 2005 mit rund 40 Prozent der Mandate wieder in die Volksvertretung eingezogen.
"Ihre Rückkehr in die Nationalversammlung soll den politischen Raum erweitern. Also willkommen in der Politik. Lassen Sie uns als echte Politiker miteinander debattieren und in Aktion treten, als politische Gegner und nicht als Feinde."
Solche versöhnlichen Töne sind von Chávez nur selten zu hören. Erst wenige Wochen zuvor hatte er seinen Parteigängern versprochen, die Opposition im neuen Parlament "zu zermalmen". Doch an diesem Tag präsentierte er sich als konzilianter Staatsmann im schwarzen Anzug mit Präsidenten-Schärpe. Anlass bot sein Bericht zur Lage der Nation. In einer siebenstündigen Ansprache, eine seiner längsten, rief er mehrfach die Volksvertreter zum Dialog auf. Er zeigte sich sogar willens, das Ermächtigungsgesetz wieder zurückzunehmen, mit dem das alte Parlament ihm Sondervollmachten verliehen hatte.
"Die Regierung wird das Gesetz der Nationalversammlung zur Überprüfung vorlegen - jetzt haben wir Januar, Februar, März, April: am 1. Mai. Wir werden bis dahin alle Maßnahmen getroffen haben, die wir vorhatten. Oder ich gebe Euch das Ermächtigungsgesetz einfach zurück. Ich habe damit kein Problem. Ich werde einfach härter und schneller arbeiten."
Doch was der Staatsmann gerade verkündet hatte, das warf der Regierungschef, diesmal im roten Hemd seiner Partei, bereits fünf Tage später über den Haufen. Die Opposition hatte ihn aufgefordert, das Gesetz sofort zurückzuziehen. In einer seiner zahllosen, von Rundfunk und Fernsehen übertragenen Versammlungen antwortete er darauf
"Sie haben sich über das Ermächtigungsgesetz beschwert, also habe ich die Laufzeit bis auf Mai reduziert. Aber nun wollen sie alles oder nichts. Sie sollen sich doch mit ihrer Forderung den Hintern wischen. Ich werde das Ermächtigungsgesetz nicht zurücknehmen."
Dialog beinhaltet Widerspruch. Aber der scheint in dem von Chávez gern zitierten Konzept seiner "partizipativen und protagonistischen Demokratie" dem Präsidenten vorbehalten zu sein. Dabei hatte die Opposition doch lediglich die Aufhebung jener Sonderrechte gefordert, die ihr eine sinnvolle parlamentarische Arbeit nahezu unmöglich machen. Das alte Parlament hatte wenige Tage vor Ende der Legislaturperiode noch rund 30 Gesetze verabschiedet, von denen anzunehmen war, dass sie von der Opposition abgelehnt würden. Darunter befand sich dieses sog. Ley Habilitante. Es sollte eigentlich nur dazu dienen, die Überschwemmungskatastrophe vom Dezember besser zu bewältigen. Aber es ermöglicht dem Präsidenten auch, künftig per Dekret zu regieren, das heißt Maßnahmen zu treffen, die normalerweise der Zustimmung durch das Parlament bedurft hätten. Der Rechtswissenschaftler René Molina Galicia:
"Das war einer der fortgesetzten Schläge von Chávez gegen die Verfassung, als er sich vom alten Parlament Vollmachten übertragen ließ, von denen er wusste, dass die Opposition sie auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen würde, wenn er sie erst im Januar der neuen Zusammensetzung im Abgeordnetenhaus vorgelegt hätte. Er machte aus der Nationalversammlung eine ohnmächtige Veranstaltung, als er ihr das vornehmste Recht, Gesetze zu erlassen, weitgehend beschnitt. Wir befinden uns gegenwärtig in einer sehr ernsten verfassungsrechtlichen Situation."
Im letzten Jahr hatte Präsident Chávez bereits eine Wahlkreis-Reform durchgesetzt, als sich abzeichnete, dass sich die Opposition an den Parlamentswahlen im September 2010 beteiligen würde. Nach allen Umfragen konnte sie ein günstiges Ergebnis erwarten, denn die Popularität des Führers der 'bolivarianischen Revolution' war seit der Wirtschaftskrise von 2009 beträchtlich gesunken. Das Resultat überraschte: Die Opposition erhielt nahezu die gleiche Anzahl der absoluten Stimmen. Doch nach dem neuen Zuschnitt der Wahlkreise bekam die Regierungspartei eine beträchtliche Mehrheit der Sitze. Die Opposition verfügt immerhin über die Sperrminorität bei der Abstimmung von Gesetzen. Doch die nützt ihr nichts, weil Hugo Chávez vorläufig per Dekret herrschen kann. Welche Möglichkeiten bleiben also der Opposition? Julio Borges, einer ihrer führenden Köpfe:
"Als im Dezember zahlreiche Gesetze vom Parlament verabschiedet wurden, darunter auch das Ermächtigungsgesetz, da war das für uns eine verzweifelte Situation, denn wir besaßen kaum noch einen politischen Spielraum. Manche hielten uns für naiv, als wir trotzdem die parlamentarische Arbeit aufnahmen. Dann bot uns der Präsident den Dialog an und schlug uns anschließend die Tür vor der Nase zu. Wir wollen jetzt vor allem unser Profil als politische Alternative schärfen. Wir haben 2010 nahezu die Mehrheit der Stimmen erreicht, und unser Ziel ist es, im nächsten Jahr die Präsidentenwahl zu gewinnen."
Die Opposition hat nicht nur mit den Folgen der fragwürdigen Zusammensetzung des Parlaments zu kämpfen, sondern sie hat auch große Probleme mit ihrem Führungspersonal. Noch ist keine Persönlichkeit zu erkennen, die es ernsthaft mit dem großen Selbstdarsteller Chávez aufnehmen könnte. Auch vermochte sich dieses Konglomerat von Parteien bis jetzt auf kein politisches Programm zu einigen. Ihre Interessen sind zu verschieden. Das einzige gemeinsame Ziel heißt "Weg mit Chávez!" Aber das allein dürfte auf Dauer die Wähler nicht überzeugen. Luis Vicente León, Direktor des Meinungsforschungsinstituts Datanálisis:
"Die Opposition ist ein Sack voller Katzen. Da kommt es vor, dass Unternehmer Seite an Seite mit Mitgliedern der Kommunistischen Partei demonstrieren. Das ist aber nur eine kurzfristige Allianz gegen Präsident Chávez, dessen Anhänger hauptsächlich aus der Unterschicht kommen. Die Opposition findet vor allem in der Mittelschicht und in der Elite der großen Städte ihre Wählerschaft. Diese Venezolaner sind der Kriminalität auf den Straßen, der steigenden Radikalisierung von Chávez und der Korruption seiner Regierung müde. Sie sind auch nicht vom Staat als Arbeitgeber abhängig wie die Leute auf dem Land, sondern meist in der Privatwirtschaft tätig, sind also unabhängiger und kritischer."
Die Staatswirtschaft ist zunehmend ineffizient. Das wird sogar am Erdölkonzern PDVSA deutlich, dem größten in Lateinamerika und der wichtigsten Einnahmequelle Venezuelas. Dort hatte 2002 - im Jahr des Putschversuchs gegen Chávez - das Management und mit ihm ein Großteil der Facharbeiter zwei Monate lang die Förderung blockiert, um den Präsidenten zum Rücktritt zu zwingen. Danach ersetzte die Regierung 19.000 Angestellte durch loyales Personal. Doch seither ist die Produktion gesunken. Luis Vicente León:
"Es gab keine großen Investitionen, um das Fehlen der Fachkräfte auszugleichen und den Verschleiß der Förderanlagen aufzufangen. Ein Großteil der Gewinne, insgesamt rund 60 Milliarden Dollar, floss hauptsächlich in soziale Projekte zur Grundversorgung des ärmsten Teils der Bevölkerung, in die sogenannten Missionen, die Hilfsprogramme im Gesundheitswesen oder zur Versorgung mit Nahrungsmitteln. Der Konzern muss sie aber nicht nur finanzieren. Ihm obliegt auch ihre Durchführung. Dadurch werden viele Kapazitäten gebunden, die dringend für die Steigerung der Produktion eingesetzt werden müssten. Der Rückgang der Produktivität ist nur deshalb nicht ins Gewicht gefallen, weil sich die Einnahmen trotzdem erhöhten durch den drastischen Anstieg des Ölpreises."
Der venezolanischen Erdölindustrie fehlt es auch deshalb an technischem Know-how, weil Präsident Chávez die ausländischen Unternehmen verstaatlicht, teilweise sogar entschädigt hat. Mit ihnen verließen viele Fachkräfte Venezuela, weil sie im Ausland besser bezahlt werden. Als die globale Wirtschaftskrise 2009 Venezuela erreichte und der Ölpreis auf einen Tiefstand sackte, entpuppte sich der Staatskonzern als rüder Arbeitgeber: Er begann massenhaft Personal abzubauen und zwar ohne Rücksicht auf die Normen des Arbeitsrechts. Roberto González, Sprecher einer Gruppe entlassener Arbeiter:
"Wir wurden ohne Begründung, ohne Einhaltung der juristisch vorgeschriebenen Verfahrensweise und ohne jegliche Entschädigung auf die Straße gesetzt. Seit drei Jahren versuchen wir nun schon, Recht zu bekommen. Wir haben in jeder Form protestiert, auch mit Hilfe der Gewerkschaften. Aber bis heute hat keine einzige staatliche Instanz unsere Forderung nach Wiedereinstellung offiziell zur Kenntnis genommen. Deshalb ist jetzt eine Gruppe von uns hier vor dem Parlament in den Hungerstreik getreten. Wir wollen auf unsere dramatische Situation aufmerksam machen, aber auch auf die Bedingungen in der staatlichen Erdölindustrie. Denn viele von uns 90.000 Erdölarbeitern leiden unter gesundheitlichen Schäden, die sie dort erlitten haben und um die sich niemand kümmert. Dabei gehören wir alle zu jenen Arbeitern, die nach dem Streik von 2002 am Wiederaufbau der Ölindustrie mitgewirkt haben."
Auf der einen Seite ist PDVSA für die sozialen Wohltaten der Regierung zuständig, auf der anderen bricht der Ölgigant elementare Arbeitsrechte. Doch das ist nur einer von vielen Widersprüchen der Politik von Präsident Chávez. Seine Verstaatlichungen zentraler Teile der Wirtschaft haben zu Engpässen beispielsweise beim Wohnungsbau geführt. Der Rechtswissenschaftler René Molina Galicia:
"In den letzten acht Jahren wurde hier vieles verstaatlicht: Kaffee-Fabriken, Banken, landwirtschaftliche Betriebe, Energie-Unternehmen - was dem Präsidenten bei seinen vielen Auftritten im Fernsehen eben so in den Sinn kam. Dazu gehörten auch jene Stahlproduzenten, die Rohre für den Gerüstbau herstellten, aber ebenso die drei großen mexikanischen, französischen und Schweizer Zementfabriken. Als sie sich gezwungenermaßen zurückzogen, wurde ein Management eingesetzt, das nicht fähig war, die Produktionsprozesse vernünftig zu steuern. So fehlt es heute in der Bauwirtschaft am Nötigsten. Ineffizienz, Bürokratie und Korruption charakterisieren diese Regierung."
Inzwischen hat das notleidende Bruderland Kuba die Beschaffung des fehlenden Zements übernommen. Aber der staatliche Wohnungsbau bleibt seit Jahren weit hinter den großen Versprechungen von Präsident Chávez zurück. Nun hat er angekündigt, er wolle innerhalb von zwei Jahren 350.000 Wohnungen errichten lassen. Das hält die Privatwirtschaft für ausgeschlossen, angesichts der materiellen Engpässe und einer bisher fehlenden Planung, von der Finanzierung ganz zu schweigen. Auch das große Gesundheitsprojekt der Regierung Barrio Adentro geriet 2009 in die Krise. Mit Hilfe von rund 13.000 kubanischen Ärzten, Krankenschwestern und Krankenpflegern waren etwa 4.500 Sanitätsposten aufgebaut worden. Sie sollten der Bevölkerung in den Armenvierteln eine medizinische Grundversorgung bieten. Venezuela lieferte den Cubanern dafür das dringend benötigte Öl. Der Meinungsforscher Luis Vicente León:
"Die kubanischen Ärzte können 70 oder 80 Prozent der alltäglichen Krankheiten behandeln. Dafür sind sie sehr geeignet. Und die Menschen waren mit ihnen sehr zufrieden. Sie wurden hier besser betreut als in den schlecht ausgerüsteten, weil völlig vernachlässigten, öffentlichen Krankenhäusern. Aber bei der Wirtschaftskrise 2009 glaubte die Regierung, auch in diesem Bereich sparen zu müssen, und schloss eine große Zahl dieser Sanitätsposten. Bei anderen fehlte plötzlich das Personal, weil viele kubanische Mediziner nach Kolumbien oder in die USA desertiert waren. 2010 bekannte Präsident Chávez, dass die Reduzierung von Barrio Adentro ein großer Fehler war, der ihm viel Popularität gekostet hat. Auch die anderen Sozialprogramme litten damals unter dieser Krise."
Zu den sozialen Aufgaben des Ölriesen PDVSA gehört zum Beispiel das Lebensmittel-Programm PDVAL. Es soll den armen Teil der Bevölkerung Venezuelas mit Grundnahrungsmitteln zu niedrigen Preisen versorgen: mit Milch, Fleisch, Bohnen, Reis, Mais, Zucker, Gemüse usw. Doch die venezolanische Landwirtschaft ist nicht in der Lage, diese Produkte selbst in ausreichender Menge herzustellen. Das war schon vor der Chávez-Regierung ein Problem: Das Ölland verfügte über genügend Devisen und leistete sich die Einfuhr aus dem Nachbarland Kolumbien oder sogar aus den USA. Heute, in Zeiten der 'bolivarianischen Revolution', kommt ein weiteres Phänomen hinzu. Luis Vicente León:
"Letztes Jahr entdeckte man Hunderte Tonnen von Lebensmitteln, die in Containern vergammelten. Ein klarer Fall von Korruption. Es wurde wie wild eingekauft, ohne die nötigen Kapazitäten für die Verteilung der Lieferungen zu besitzen. Offensichtlich ging es auch gar nicht darum, sondern um die Abschöpfung eines Devisengewinns bei der Einfuhr. Die Verantwortlichen in der Regierung versuchten, sich auf diese Weise zu bereichern - wie sie das in vielen anderen Fällen ebenfalls tun. Chávez hat daraus gelernt und bei der Verstaatlichung der Supermärkte von Exito dem französischen Konzern das operative Geschäft überlassen. Dafür muss er zahlen, kann aber über die Supermärkte schreiben 'Vollendet im Sozialismus'."
Präsident Chávez beruft sich oft auf die strikte Legalität seiner Politik. Wenn allerdings der Gegner zu stark wird, dann ist er durchaus bereit, demokratisch getroffene Entscheidungen des Volkes, das er so gern zitiert, zu ignorieren. So geschah es im Fall von Antonio Ledezma. Der Oppositionelle war im November 2008 mit deutlicher Mehrheit zum Oberbürgermeister der Stadt Caracas gewählt worden. Das ist nach dem Staatspräsidenten das zweitwichtigste Amt in Venezuela und ein gutes Sprungbrett an die Spitze des Landes. Hätte er auch nur einige zentrale Probleme der Metropole gut gemanagt, wäre er ein ernsthafter Kandidat für die Präsidentenwahl 2012 geworden. Deshalb ließ Chávez per Dekret einen Bundesdistrikt mit einer übergeordneten Behörde schaffen, die seit dem letzten Jahr die Stadt Caracas verwaltet. Ihr wurden alle Vollmachten und auch 99 Prozent des Budgets Oberbürgermeisters übertragen. Antonio Ledezma:
"Wir wurden über Nacht unserer Kompetenzen, Befugnisse und Mittel beraubt, halten aber dennoch an unserer Legitimität fest, denn wir sind von der Bevölkerung mit Mehrheit gewählt worden. Es dürfte ein weltweit einzigartiges Ereignis sein, dass man einen rechtmäßig gewählten Oberbürgermeister nach wenigen Wochen kalt stellt. Deshalb bin ich aus Protest in den Hungerstreik getreten und habe Respekt vor dem Amt verlangt, vor der Entscheidung der Bürger und auch vor den Tausenden von Angestellten, die entlassen wurden. Wir arbeiten zwar weiter mit einem kleinen Apparat und einem paar Dutzend Leuten, aber regieren ist unter solchen Bedingungen sehr schwer."
Die venezolanische Demokratie hat in den zwölf Jahren der Regierung Chávez schwer gelitten. Sie war schon reichlich beschädigt, als er auf ihrer Basis seine'bolivarianische Revolution' 1999 begann. Aber seither hat er sich ihre beiden wichtigsten Säulen, Parlament und Justiz, gefügig gemacht. Die hohe Kriminalitätsrate und wachsende Gewalt im Land ist u.a. auch das Resultat mangelnder Strafverfolgung. Die Rechtssicherheit ist angeschlagen - der Fall des Oberbürgermeisters von Caracas ist nur das spektakulärste Beispiel. Der Umgang mit dem politischen Gegner zeigt, dass der Begriff Dialog für Präsident Chávez nur eine rhetorische Formel ist.