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Demokratie in Indien
Errungenschaften, Fehler und Ausbeutung

Die indische Kongress-Partei steckt in der Krise. Korruption und Abhängigkeiten führten zu Machtverlust. Die nun dominierenden Hindu-Nationalisten setzten auf Religion und rechte Ideologie, beklagt der Historiker Ramachandra Guha. Eine Prüfung für das demokratische System.

Von Sonja Ernst |
    Anhänger der Bharatiya Janata Party (BJP) halten ein Bild des jetzt amtierenden Premierministers Indiens, Narendra Modi, feiern ihn mit Süßigkeiten. Bhopal, Indien, 9. Juni 2013. Die Plakate im Hintergrund von links nach rechts bedeuten: "Unsere Kultur, unser Erbe";"Sanskriti Bachao Manch" (eine Organisation mit dem Ziel die Kultur zu beschützen) und "Wer von Hindutva spricht, wird der Führer des Landes."
    Anhänger der Bharatiya Janata Party (BJP) halten ein Bild des amtierenden Premierministers Indiens, Narendra Modi. (EPA/Sanjeev Gupta)
    Das Buch beginnt mit einer Art Trauerrede. Zu Grabe getragen wird die Kongress-Partei. Sie hat entscheidend den Unabhängigkeitskampf und die Gründung eines freien, demokratischen Indiens geprägt – zurzeit jedoch verschwindet sie in der Bedeutungslosigkeit.
    Der da trauert ist der Autor Ramachandra Guha, einer der wichtigsten Historiker Indiens. Das US-amerikanische Time Magazine hat ihn einmal als den herausragenden Chronisten der indischen Demokratie beschrieben. Und genau das beweist Guha einmal mehr mit seiner Essay-Sammlung "Demokraten und Andersdenkende". Darin skizziert Guha das – in seinen Augen – selbstverschuldete Abwirtschaften der Kongress-Partei – und den damit verbundenen Verlust einer wichtigen politischen Kraft in Indien. Im Gespräch sagt er:"Es war eine wirklich großartige Partei, die jedoch mittlerweile seit dreißig Jahren im Niedergang ist. Korrumpiert und zerfressen. Aber sie hat Indien gegründet. Fünfzig Jahre lang spielte die Kongress-Partei eine zumeist progressive Rolle. Hat eine Nation gebildet, hat Demokratie und Pluralismus kultiviert, ernsthaft und gewissenhaft."
    Eine Partei im Würgegriff des Nehru-Gandhi-Clans
    Doch das ist vorbei. Guha beschreibt, wie abhängig die Partei von der Nehru-Gandhi-Familie sei. Ohne diese Dynastie drohe die Kongress-Partei auseinanderzubrechen; aber mit ihr sei sie für viele Inder nicht mehr wählbar. Die wollen Politiker, so Guha, die hart arbeiten und Verantwortung übernehmen. Allein mit dem Familiennamen lasse sich auf Bundesebene keine Wahl mehr gewinnen. Und genau das wurde 2014 deutlich, als die Kongress-Partei bei den Parlamentswahlen eine ordentliche Schlappe einfuhr – und die hindu-nationalistische BJP die Wahl gewann.
    Die Rechte werde wohl für einige Zeit vorherrschend bleiben, erwartet Guha. Problematisch sei daran, dass vor allem rechte Ideologen die Debatte bestimmten, die für einen Hindu-Nationalismus kämpften, gegen Muslime und Christen agitierten – mithin gegen Kritiker jeglicher Couleur. Der Autor beklagt, dass sich dieser Aufstieg der Rechten ohne intellektuellen Kompass vollziehe. Es fehlten konservative Intellektuelle, die die Rechte in Richtung eines Konservatismus führten, der sich nicht im Chauvinismus und nicht im Reaktionären verliert. Der auf Nation, nicht auf Religion setzt. Zur Panikmache neigt Guha dennoch nicht. "Man sollte keinen übertrieben alarmistischen Ton anschlagen. Es ist beunruhigend, aber nicht gefährlich. Die indische Demokratie wird weiter bestehen. Sie ist robust. Es ist ein Wettkampf der Ideen, aber das Experiment selbst geht weiter. Aber es gibt Mängel – aufgrund der Armut, des Fundamentalismus. Indiens Demokratie hat Fehler."
    Errungenschaften und Fehler der Demokratie abwägen
    Dieses Experiment Indien bezeichnet Guha im Buch als "50-50-Demokratie". Ein Begriff, den er schon zuvor geprägt hat. 50-50: Das steht für die Errungenschaften und für die Fehler der indischen Demokratie. Mit diesen setzt sich der Autor in den sechzehn Essays auseinander. Guha blickt aber auch auf die indischen Nachbarn Pakistan und Sri Lanka. Sowie auf China, den großen Rivalen in Asien. Auch in diesen Ländern sucht Guha nach Demokraten und Andersdenkenden. Ebenso setzt er sich mit bekannten und weniger bekannten Intellektuellen auseinander. Zum Beispiel mit dem indischen Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen. Oder mit der indischen Wirtschaftshistorikerin Dharma Kumar. Diese Essays wirken teils isoliert. Man muss sich beim Lesen darauf einlassen wollen.
    Stammesgesellschaften mussten dem politischen Fortschritt weichen
    Ergänzend zu seinen politischen Diskursen wird Guha immer wieder konkret. Zum Beispiel wenn er das in seinen Augen größte Versagen dieser 50-50-Demokratie beschreibt. Nämlich die Marginalisierung der Adivasi, der indigenen Völker Indiens. Zu ihnen zählen rund hundert Millionen Menschen. Der Großteil lebt in Zentralindien. Und es ist der lokale Ressourcenreichtum, der für die Adivasi zur Tragödie wurde und wird, so der Autor. Es geht um die Ressource Wald, um Flüsse für den Bau von Staudämmen sowie um Bodenschätze wie Kohle oder auch Bauxit. Die Adivasi müssen weichen, fast immer ohne Entschädigung. "Die Stammesgesellschaften Indiens sind die nicht anerkannten Opfer von sieben Jahrzehnten demokratischer Entwicklung. In dieser Zeit wurden sie fortwährend ausgebeutet und enteignet durch die Wirtschaft und den Staat." Diese Tragödie wird in den indischen Medien kaum erzählt, so Guha. Er macht sie zum Thema.
    Wie es um Indiens Demokratie steht, das skizziert Guha in diesem lesenswerten Buch. Anders als seine teils sehr umfangreichen, renommierten Werke wie "Indien nach Gandhi", bieten die gut dreihundert Seiten einen einfachen Einstieg. Die Essays sind gut geschrieben, verbunden mit persönlichen Erzählungen Guhas, die sie lebendig machen. Zugleich regt Guha zum politischen Diskurs an, der über Indien hinausgeht. Denn nicht allein in Indien ist die Rechte im Aufwind.
    Ramachandra Guha: Demokraten und Andersdenkende
    E-Book, 317 Seiten, 15,99 Euro.