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Demokratie und Gesellschaft
Die Lizenz zum Regieren

Alle vier Jahre wird per Wahl Politikern die Lizenz zum Regieren erteilt, doch dieses Modell gerät immer mehr in die Kritik. Der französische Historiker Pierre Rosanvallon analysiert in seinem neuen Buch "Die gute Regierung" die Krise der Demokratie - und erhält dafür den Luhmann-Preis der Universität Bielefeld.

Von Norbert Seitz |
    Konstituierende Sitzung des Bundestages im Reichstagsgebäude in Berlin. Bei der Sitzung am 22.10.2013 kommen die Parlamentarier der 18. Legislaturperiode erstmals nach der Bundestagswahl im Plenum zusammen
    Die konstituierende Sitzung des Bundestag am 22.10.2013 (Maurizio Gambarini/dpa)
    Den Titel "Die gute Regierung" hat Pierre Rosanvallon einem Fresko aus dem 14. Jahrhundert entnommen, das von Ambrogio Lorenzetti stammt und im Palazzo Pubblico in Siena zu bestaunen ist. Es veranschaulicht "die Tugenden des guten, das heißt Frieden stiftenden und Wohlstand schaffenden Fürsten sowie die Nachteile, die aus ihrer Vernachlässigung resultieren." Den Historiker beflügelte das Kunstwerk zu einer kritischen Bestandsaufnahme der westlichen Demokratien, ausgehend von der These: "Unsere politischen Systeme können als demokratisch bezeichnet werden, doch demokratisch regiert werden wir nicht."
    Es herrsche unter den Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl des "Schlechtregiertwerdens" vor, und das heißt:
    "Nicht gehört zu werden, zusehen zu müssen, wie Entscheidungen über die Köpfe der Betroffenen hinweg gefällt werden, wie Minister sich ihrer Verantwortung entziehen, führende Politiker ungestraft lügen, die politische Elite in ihrer eigenen Welt lebt und nicht hinreichend Rechenschaft über ihr Tun ablegt."
    Klassiker der Politikwissenschaft
    Rosanvallon, Geschichtsprofessor am Collège de France, will Demokratie erstmalig als spezifische "Regierungsweise" und nicht nur wie üblich als "System" theoretisch erfassen. In der historischen Form einer repräsentativen Demokratie habe die gesetzgebende Gewalt noch dominiert, heute erlebten wir aber mit wachsender Tendenz den Umschlag in ein offenes oder versteckt präsidiales Regierungsmodell. Historisches Beispiel USA: Auch wenn dort einst die Einführung eines Vorwahl- und sogenannten "Wahlmänner"-Systems zu einer Art Direktwahl geführt habe, "stellte diese Wahl in den Augen europäischer Beobachter kein Vorbild in Sachen Demokratisierung der Exekutive dar […] Alles sprach dafür, dieses System als Sonderfall zu betrachten".
    Pierre Rosanvallon gehört zu den Klassikern der Politikwissenschaft in Frankreich. Als gemäßigter Vertreter der französischen Linken steht er wieder etwas mehr im Rampenlicht, seit er sich der wechselvollen Geschichte der Machtverschiebung zwischen den Gewalten zuwendet. Dabei dient ihm die Französische Revolution als Muster für die demokratische Moderne.
    Von der Ausnahme zur Regel
    Zunächst galt die ausübende Gewalt noch als die "ewige Feindin" der gesetzgebenden Gewalt, ehe wieder Rufe nach dem König laut wurden und die Exekutive an Bedeutung zurückgewann. Bis ins 20. Jahrhundert wiederholen sich diese Degradierungs- und Aufwertungsprozesse zwischen den Gewalten.
    "Mit dem Ersten Weltkrieg hörte man […] auf, das demokratische Ideal ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Ausübung und Vervollkommnung der legislativen Gewalt zu betrachten. […] Zugleich begann sich zu dieser Zeit in der Vorstellung vieler Leute die Figur des Führers als positive und für die moderne Welt notwendige Erscheinung durchzusetzen."
    In der Präsidialisierung der Demokratie seit den 1960er-Jahren sieht der Demokratietheoretiker eine Entwicklung von der Ausnahme zur Regel, die nicht nur den Gaullismus in Frankreich betrifft. Drei unumkehrbare demokratische Impulse macht er dafür geltend. Erstens: eine Radikalisierung und Polarisierung der Verantwortung; zweitens: die "soziale Willenserwartung", Politik zu personalisieren, um ihr ein Gesicht zu geben. Sowie drittens: ein Verlangen nach besserer Lesbarkeit der Institutionen und Entscheidungsmechanismen in Zeiten gewachsener Anonymität der großen Bürokratien.
    Der Code des guten Regierens
    Nach der ersten demokratischen Revolution, die mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts begann, markiert der besorgte Autor nunmehr Umrisse einer zweiten Umwälzung. Ziel ist es, von einer reduzierten und anfälligen "Genehmigungsdemokratie" mit ihrer Mehrheitsfixierung zu einer "Betätigungs- oder Vertrauensdemokratie" zu gelangen, in der das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten neu geregelt werden sollte.
    Zum Code des guten Regierens gehört für Pierre Rosanvallon die Lesbarkeit, die Verantwortung und Reaktivität sowie das Wahrsprechen. Mit dem Gebot der "Lesbarkeit" von Politik und Regierung ist die Dimension des Verständlichmachens und der Interpretation der Welt gemeint. Und das ist mehr als die mittlerweile inflationär gebrauchte Forderung nach immer mehr Transparenz. So gipfelt die Studie in einer Art institutionellen Trias. Dem Autor schweben vor:
    "Erstens: Ein 'Rat für den demokratischen Prozess', der vorrangig die Integrität der Regierenden und die Transparenz der Maßnahmen und Institutionen sicherstellt;
    zweitens: 'Öffentliche Kommissionen', die die demokratischen Wege bei der Realisierung von politischen Programmen und dem bürokratischen Vollzug garantieren;
    sowie drittens: 'Zivile Wachsamkeitsorganisationen', die die Regierenden kritisch beurteilen mit Blick auf deren Reaktivität, Verantwortungsübernahme und ihre politische Sprache."
    Bürger mit Anspruch
    "Le bon gouvernement" ist keine dröge Geschichtslektüre über die Transformation der Demokratie, sondern eine hochrelevante zukunftsorientierte Betrachtung über das aktuelle Spannungsverhältnis zwischen zunehmend intransparenten Entscheidungsprozessen, Bedrohungsängsten in allen Lebensbereichen wie den gestiegenen, aber wohl weniger denn je erfüllten Erwartungen an die Regierenden. Dabei verliert sich der Autor glücklicherweise nicht in einem hohlen partizipatorischen Pathos:
    "Die Bürger träumen nicht von einer direkten Demokratie […] Was sie wollen sind Regierende, die kompetent und engagiert ihre Arbeit erledigen und deren vorrangige Sorge dem Gemeinwohl und nicht ihrer Karriere gilt. Sie akzeptieren die Arbeitsteilung zwischen Regierten und Regierenden, erwarten aber, dass diese Bedingungen erfüllt werden, und sind diesbezüglich anspruchsvoll."
    Pierre Rosanvallon: "Die gute Regierung"
    Hamburger Edition, 2016. 384 Seiten, 35 Euro.