Die Herausforderung der Demokratie bestehe zurzeit darin, dass Menschen auf die Straße gehen und unter dem Deckmantel der Demokratie an der Zerstörung der Demokratie arbeiten, sagte Jürgen Manemann im Deutschlandfunk. Als Beispiel nannte er die Proteste gegen die Coronamaßnahmen Ende August in Berlin. Dort werde beispielsweise "Wir sind das Volk" in einer Weise gerufen, die alle anderen, die nicht an dieser Demonstration teilnehmen, auszuschließen trachte.
"Demokratischer Zorn bezieht sich auf reale Zustände"
Eine demokratische Bewegung zeichne aus, dass Menschen zu einer Menge werden, bei der sie nicht ihre Individualität verlieren. In Berlin aber sei die Menge zu einer Masse geworden. Weiteres Merkmal der Anti-Coronamaßnahmen-Proteste sei die Emotionalisierung: Diese Demonstrationen seien von Zorn getragen, der sich auch in Rachsucht ausdrücke. Durchaus sei auch ein demokratischer Zorn möglich, der beziehe sich jedoch auf auf reale Zustände und strebe danach, diese zu überwinden, er sei ein "Zorn des Übergangs".
Es sei durchaus demokratisch, dass Bewegungen sich Gehör verschaffen, wenn sie der Meinung seien, nicht an Gesellschaft und Politik teilzuhaben. Diese Bewegungen dürften jedoch nicht "in ihrem eigenen Leid" steckenbleiben – und müssten zudem das Leid und die Rechte der anderen akzeptieren.
Demokratie als tägliche "Lebensform"
Politikerinnen und Politiker hätten in den vergangenen Jahren Staat und Gesellschaft "wie ein Unternehmen" regiert, glaubt Jürgen Manemann zu beobachten. Politik und Behörden wollten in diesem Sinn am Ende an ihrer Bilanz gemessen werden. Bürger hätten daher den Eindruck gewonnen, Politiker hörten ihnen nicht mehr zu. Doch demokratische Institutionen könnten nur funktionieren, wenn wir Bürger kommunikative Energie in sie investierten, meint Jürgen Mannesmann.
"Wir haben in den Letzten Jahren zu wenig darüber nachgedacht, Demokratie im täglichen Umgang als Lebensform zu praktizieren"
Grundlage: "leidempfindliche Humanität"
Alltagsleben sei das Herz der Demokratie: an der Straßenecke, im Hausflur, im alltäglichen Gespräch mit Nachbarn und Fremden über tagespolitische Themen sprechen, sagte Jürgen Manemann. Dabei ließen sich die Formen des demokratischen Austauschs praktizieren: "Austausch, dass wir dem anderen zuhören, ihn aussprechen lassen, ihn und seine Meinung tolerieren."
Demokratische Kultur lebe vom Glauben an die Werthaftigkeit der Verschiedenheit. Ihre Grundlage sei eine "leidempfindliche Humanität", meint Jürgen Manemann. Das bedeute: "Ich muss in die Humanität fallen. Wenn ich die Verletzlichkeit des Anderen erfahre, werde ich eine Verantwortung hineingezogen um ihn und dann spüre ich seine Menschenwürde." Dies sei die vorpolitische Dimension von Demokratie und Grundgesetz.