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Demonstration am 4.11.1989
Auf der Straße für eine andere DDR

Fünf Tage vor dem Fall der Mauer, am 4. November 1989, forderten etwa 500.000 Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz radikale Veränderungen in der DDR. In der Erinnerung vieler Teilnehmer war es ein Akt der Befreiung und der Selbstbestimmung.

Von Bernd Ulrich |
    Demonstration am 4. November 1989 in der Ost-Berliner Innenstadt, hier vor der Volkskammer
    Die Demonstration am 4. November 1989 in Berlin (hier vor der Volkskammer) war einer der Meilensteine beim Untergang des SED-Regimes. (dpa / picture alliance / Thomas Lehmann)
    "Die Straße ist die Tribüne des Volkes - überall dort, wo es von den anderen Tribünen ausgeschlossen wird."
    Mit diesen Worten eröffnete die Schauspielerin und Fernsehansagerin Marion van de Kamp am 4. November 1989 die bis dahin größte, nicht staatliche Massendemonstration in der Geschichte der noch existierenden DDR. Die genauen Teilnehmerzahlen sind heute nicht mehr zu ermitteln, aber ungefähr 500.000 Menschen dürften sich auf dem Berliner Alexanderplatz versammelt haben. Organisiert und ordnungsgemäß angemeldet von Ostberliner Künstlern und Kulturschaffenden, sollte die Veranstaltung offiziell dazu dienen, die in der DDR-Verfassung eigentlich festgeschriebene Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit einzufordern und durchzusetzen. Aber schnell wurde deutlich, dass es um mehr ging:
    "Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit."
    Stephan Heym fand die richtigen Worte. Es war ein mentaler, ein politischer Akt der Befreiung und der Selbstbestimmung, bis heute zu Unrecht halb vergessen - und überstrahlt von den Ereignissen des Sommers und Frühherbstes 1989, da bald Tausende ihre Ausreise über die bundesdeutschen Botschaften in Budapest und Prag erzwangen. Überstrahlt aber auch von den seit September laufenden "Montagsdemonstrationen" in Leipzig, in Plauen oder Dresden. Auf ihnen waren mit großem Mut - und immer am Abgrund der gewaltsamen Niederschlagung - vor allem politische Freiheiten gefordert worden. Woran es indessen auch am 4. November nicht mangelte, nur dass die Forderungen befreiter, gewitzter zum Ausdruck kamen, wie schon die in der Menge mitgeführten Losungen dokumentierten:
    "Visafrei - bis Hawaii"
    "Wir sind keine Fans von Egon Krenz" - "Freie Wahlen statt falscher Zahlen" - "Rücktritt ist Fortschritt" - "Stasi in die Produktion" - "Volksauge sei wachsam" - "Pässe für alle - der SED den Laufpaß" - "Visafrei - bis Hawaii".
    Der Komponist und Bürgerrechtler Christoph Schambach, Jahrgang 1963, sprach im Nachhinein aus, was viele an jenem historischen Samstag im November 1989 empfunden hatten:
    "Det war so ne solidarische Stimmung unter den Leuten, und alle waren sich wenigstens an dem einen Tag mal einig, hey, wenn wir irgend wat ändern wollen, denn schaffen wir das nur gemeinsam ... Det is nochn schönerer Tag gewesen als der Mauerfall selbst, dieser 4. November war eigentlich wirklich der echte Höhepunkt, weil man wusste, die Leute haben ausgedient!"
    Ein Akt friedlicher Selbstbefreiung
    Der Theologe Friedrich Schorlemmer bilanzierte es so:
    "Es war ein Akt friedlicher Selbstbefreiung mit einer Delegitimation der bisherigen Machtträger, die sich aber dort auch öffentlich noch zu zeigen wagten, und heruntergepfiffen, aber nicht heruntergerissen wurden."
    In der Tat - dem immer noch funktionierenden SED-Machtapparat war es gelungen, das Politbüromitglied Günter Schabowski auf die Rednerliste zu hieven. Er wurde jedoch ebenso ausgepfiffen wie der einstige Chef des DDR-Auslandsgeheimdienstes, Markus Wolff. Kaum jemand ahnte, dass Volksarmee und Polizei in einen sogenannten "verdeckten Alarmzustand" versetzt und auch zum rücksichtslosen Durchgreifen angehalten worden waren, falls die Teilnehmer, wie es hieß, den "Mauerdurchbruch" versuchen sollten.
    Aber jenseits solcher Anordnungen und jenseits auch aller Hoffnungen, die DDR reformieren zu können, die Würfel waren gefallen: Die ersehnte Wiedervereinigung stand im Mittelpunkt. Der damalige Bürgerrechtler Jens Reich in einem Interview von 1994:
    "Da bestand Einigkeit in den Zielen, alle wollten damals Freiheit, Freizügigkeit, all die Losungen, die am 4. November gezeigt wurden. Danach hat das Volk gesagt, jetzt haben wir genug von den Schwätzern. Wir wollen jetzt Macher haben. Und da haben 40 Prozent die einen und weitere 25 Prozent die anderen Macher gewählt."
    Allein im November 1989 hatten nahezu 135.000 Bürger die DDR in Richtung Bundesrepublik verlassen.