In der Menge einiger Tausend Protestierender geht eine ältere Frau im dunklen Wintermantel, mit Mütze und dicken Handschuhen. Bei minus 15 Grad. Sie hält, wie viele andere auch, ein Schild in die Höhe. Darauf steht: "Wer hat das in Auftrag gegeben?" Gemeint ist der Mord an Boris Nemzow, der sich am Dienstag zum dritten Mal jährt.
Ein Gericht hat zwar im vergangenen Jahr fünf Tschetschenen zu teils langjährigen Haftstrafen verurteilt, doch hat der Prozess in der Tat viele Fragen unbeantwortet gelassen. Die Frau zweifelt.
"Ich glaube, die Staatsmacht hat das alles in Auftrag gegeben. Er war der Macht oder sonst jemandem nicht genehm. Warum die Staatsmacht heute noch Angst vor ihm hat? Weil er für Wahrheit stand. Schauen sie, wie viele Leute ihn noch immer unterstützen, alle seine Ideen, seine Initiativen."
Gedenktafel inzwischen erlaubt
Was die Zukunft ihres Landes betrifft, äußert sie sich pessimistisch:
"Wir haben den Tiefpunkt noch nicht erreicht. Besonders in Sibirien, in den Provinzen, leben die Leute unter schlechten Bedingungen. Aber erst wenn es dort richtig schlecht wird und die Leute verstehen, dass es unmöglich ist, so weiter zu leben, gibt es eine Wende. Aber solange geht es für uns einfach weiter bergab."
Nach einigen Minuten Gespräch fasst sie etwas Vertrauen zum Reporter.
"Wissen Sie, mein Sohn hat dreieinhalb Jahre gesessen. Nach 'Bolotnaja'."
"Bolotnaja", das waren die Proteste infolge der Wiederwahl Putins zum Präsidenten Russlands vor knapp sechs Jahren, benannt nach einem zentralen Platz Moskaus. Das Urteil gegen den Sohn erging wegen Anstiftung zu Massenunruhen und Widerstands gegen Polizeibeamte. Er ist inzwischen wieder frei, hat Russland sogleich verlassen und lebt nun in Deutschland.
"Man muss widersprechen. Sonst brechen sie uns noch alle komplett."
Außer ihrem Schild trägt die Frau einen Blumenstrauß, den sie später auf der Brücke niederlegen will, auf der Nemzow erschossen worden war. Das Bauwerk überquert die Moskwa direkt am Kreml; Anhänger des einstigen Politikers fordern seit Langem, es in Boris-Nemzow-Brücke umzubenennen, doch der Oberbürgermeister geht darauf mit keinem Wort ein. Allerdings hat die Stadtverwaltung, nachdem sie drei Jahre nichts getan hat, vor wenigen Tagen erlaubt, am Haus des Ermordeten eine Gedenktafel anbringen zu lassen.
Vereinzelte Festnahmen
Die meisten Protestierenden sind mittlerer und älterer Generation; Russinnen und Russen, die sich an Nemzow und dessen Politikentwürfe erinnern, die mit dem streng autoritär regierten Russland von heute nicht deckungsgleich sind. Inmitten des Demonstrationszuges laufen auch der Oppositionelle Alexej Nawalny und die Präsidentschaftskandidatin Ksenia Sobtschak mit. Sobtschak tritt zwar gegen Wladimir Putin an, ihr werden aber auch Verbindungen in den Kreml nachgesagt. Als sie spricht, herrscht für einen Moment ein wenig Wahlkampf:
"Tausende Menschen gehen auf die Straße, um nicht zu vergessen, wie man mit unserer Freiheit umgeht, wie man mit Menschen umgeht, die die Wahrheit sagen. Wie man in unserem Land Menschen noch immer umbringt, einfach dafür, was sie denken und sagen. Das nennt man politische Verfolgung, das nennt man Intoleranz gegenüber einer anderen Meinung, das nennt man Entzug unserer Freiheit."
Schätzungen zufolge gab es in Moskau mehr als 7.000 Teilnehmer. In der Hauptstadt, in St. Petersburg und anderen Städten Russlands, in denen ebenfalls Gedenkveranstaltungen stattgefunden haben, ist es zu vereinzelten Festnahmen gekommen.
Anmerkung der Redaktion: Die Überschrift des Beitrags wurde korrigiert. Anders als dort zunächst geschrieben handelte sich bei der Kundgebung nicht um die größte Anti-Putin-Demo seit Jahren.