In Berlin haben am Samstag (01.08.2020) tausende Menschen dicht gedrängt und teils ohne Maske gegen die Corona-Maßnahmen demonstriert. Auch in anderen Städten gehen regelmäßig Menschen auf die Straße, um ihren Unmut über die seit Monaten anhaltenden Beschränkungen zum Ausdruck zu bringen. Andere leugnen die Existenz des Virus sogar komplett. Der Wissenschaftler und Philosoph Claus Beisbart von der Universität Bern sieht für das Verhalten der Menschen mehrere Gründe: Das Wissen um einen Umstand motiviere noch nicht zum Handeln, wenn keine Notwendigkeit bestehe, erklärte er im Dlf.
Britta Fecke Warum demonstrieren Zehntausende in Berlin gegen Corona-Maßnahmen? Warum feiern viele wilde Partys, ohne Abstand und Hygieneregeln einzuhalten, obwohl sie wissen, dass sie eine Ansteckung in Kauf nehmen und so auch ältere und kranke Menschen gefährden? Eine Frage des Willens oder des Wissens?
Claus Beisbart Ich denke, da gibt es mehrere Gründe. Ein Grund ist, dass Wissen allein uns noch nicht zum Handeln motiviert. Das muss immer mit unseren Werten oder auch Handlungsmotiven zusammenspielen. Wenn Sie mir sagen, die Kaffeemaschine ist unten im Keller, und ich habe keinen Durst, dann ist das Wissen eigentlich irrelevant für mich. Das heißt, es braucht erst mal die richtigen Werte, die mit dem Wissen zusammenspielen können. Ja, und dann ist in der Coronakrise natürlich das Problem, dass unser Wissen nur sehr partiell ist, dass es große Wissenslücken gibt. Es gibt so kleine Mosaiksteinchen, es fehlt das große Bild, und deshalb müssen wir erstmal Orientierung finden. Und das fällt uns auch schwer.
"Künstliche Intelligenz kann selbst nicht richtig neue Begriffe schaffen"
Fecke Wäre das nicht auch ein Anspruch an die künstliche Intelligenz, also diese ganzen Studien, diese einzelnen Erkenntnisse, die auch über die Folgeerkrankungen zum Beispiel jetzt gerade neu auf uns herein geprasselt sind, wäre es nicht praktisch, wenn das geordnet würde, sodass uns einfach ein besseres Gesamtbild präsentiert wird?
Beisbart Auf jeden Fall. Diese Ordnung ist eine ganz wichtige wissenschaftliche Aufgabe: Vereinheitlichung, Systematisierung. Das gehört seit Kant und schon vorher immer zum Charakter der Wissenschaften. Ich weiß nicht, ob das mit künstlicher Intelligenz funktioniert, denn die künstliche Intelligenz kann selbst nicht richtig neue Begriffe schaffen, um sozusagen ein Netz zu bilden. Und die künstliche Intelligenz bleibt häufig auch für uns selbst undurchsichtig. Man spricht von diesem Black Box-Charakter, von neuronalen Netzwerken zum Beispiel. Und letztendlich müssen wir die Dinge auch ein Stück weit verstehen, damit wir sie in unserem Handeln umsetzen können.
Fecke Ich möchte noch einmal kurz da ansetzen. Ich meine auch nicht, dass wir die künstliche Intelligenz nutzen, um neue Erkenntnisse zu gerieren. Aber sie wäre doch vielleicht sehr praktisch, um einfach die verschiedenen Studien zu orten oder um einfach bessere Vergleichswerte zu schaffen, weil, selbst wenn man die Letalität in Italien und in Deutschland vergleicht, liegt es ja auch daran, wie unterschiedlich Proben genommen wurden, wie unterschiedlich getestet wurde. Die Versuchsgruppen waren andere. Das heißt, man kann ja eigentlich nicht mal die Zahlen richtig vergleichen. Und das wäre doch eigentlich eine ganz gute Methode. Wenn das für uns vorgeordnet würde, dann würde vielleicht auch die Glaubwürdigkeit wieder größer werden.
Beisbart Ja, ich glaube auch, dass es eine ganz wichtige Aufgabe ist, die unterschiedlichen Studien in ihren Kontext einzuordnen und dann zusammen zudenken, zu integrieren. Aber ich weiß nicht, ob die künstliche Intelligenz das kann, weil man muss ja dann dazu wissen: Unter welchen Umständen ist eine Studie zustande gekommen? Was ist eigentlich in Italien anders als in Deutschland? Und es sind halt so Dinge, die kann man nicht so gut durch Metadaten beschreiben, dass man wirklich sagt, das ist ganz klar. Die künstliche Intelligenz arbeitet gut, wenn sie sozusagen wohldefinierte Datensätze hat, die gut beschrieben sind. Aber ich glaube, diese Einordnung in den Kontext, das müssen wir ein Stück weit selbst vornehmen.
Unsicherheiten über Maßnahmen wie Lockdown
Fecke Aber da finde ich, da könnte ja der gesunde Menschenverstand einsetzen und sagen, auch wenn wir noch nicht alles wissen, dann ist es doch klüger, sich erst einmal vorsichtig zu verhalten und diese Abstandsregeln, Hygienemaßnahmen und so weiter zu beachten. Stattdessen erfahren und sehen wir immer mehr von wilden Partys in Hamburg, Berlin, anderen Großstädten, an irgendwelchen Seen. Wie können Sie sich das erklären?
Beisbart Tatsächlich ist es so, es gibt auch in der Philosophie das Vorsorgeprinzip, das sagt: Wenn wir eben bestimmte Dinge nicht wissen, dann sollen wir lieber vorsichtig handeln. Warum halten sich die Menschen nicht daran? Da gibt es unterschiedliche Gründe. Also ein Grund ist, das natürlich es auch Unsicherheiten gibt über die Maßnahmen jetzt, die zum Teil angeordnet worden, also auch so ein Lockdown. Der hat ja auch sehr negative Konsequenzen. Und die kann man eigentlich gar nicht richtig abwägen gegen die Güter oder das, was Gutes entsteht, wenn jetzt sozusagen Menschen mehr geschützt werden vor Ansteckungen. Also da ist erst mal eine Abwägung, die ist nicht so einfach zu machen. Und ich meine, dann ist es aber zum Teil natürlich auch einfach so ein bisschen, dass man das verdrängt individuell und denkt: 'Ich bin schon vorsichtig genug. Und ich verhalte mich ganz vorsichtig: Ich setze die Maske auf oder so'. Das ist vielleicht auch ein bisschen "wishful thinking", wie man das nennt. Man denkt so: Ich selbst bin nicht betroffen, das betrifft eher andere. Und dann traut man sich doch mal etwas und geht auf die Party oder so etwas.
Fecke Wenn ich darüber nachdenke, wie sehr man um Wissen gekämpft hat, zum Beispiel in der Renaissance, in dem Bemühen, aus den Klöstern irgendwelche Bücher heraus zu stehlen, zum Teil auch, um einfach Erkenntnisse wieder unters Volk zu bringen, oder zumindest in eine ausgewählte kleine Gruppe. Heute haben wir Zugang zu Wissen, wir können uns informieren. Und auch wenn wir auch noch nicht genau wissen, wie das Virus wann wie mutiert, wer Betroffener ist oder nicht, welche Auswirkungen Rauchen hat et cetera? Wir wissen doch so viel mehr. Dennoch scheint es so, als wird dieses Wissen zum Teil nicht angewandt. Sind wir überfordert?
Beisbart Zum Teil sind wir schon überfordert durch die Wissensflut, weil so viele Nachrichten auf uns einprasseln. Wenn man nur mal die Zeitungen aufmacht oder auch im Internet schaut, man kann ja so schnell weiterklicken und kommt auf neue wissenschaftliche Ergebnisse, auf neues Wissen, auf neue Informationen. Und das überfordert uns natürlich schon ein Stück weit und das Wissen muss dann ein Stück weit geordnet werden. Bei der Coronakrise glaube ich nicht, dass das allerdings das Hauptproblem ist. Ich glaube, es ist einfach auch eine Sache der menschlichen Psychologie. Also häufig ist es halt auch so wenn ein Verbot gesetzt wird, dann reizt es vielleicht gerade junge Leute, das Verbot mal zu übertreten. Oder es fällt uns einfach schwierig, mit den Beschränkungen so lange zu leben.
"Es geht einfach um ein Phänomen, das ist sehr neu"
Fecke Nun ist der Mensch ein soziales Wesen, und dieses "Kontakt vermeiden" entspricht einfach nicht unserer Biologie. Sie sind ja auch Naturwissenschaftler und Philosoph. Wie betrachten Sie das aus ihren zwei Brillen oder von Ihren zwei Standpunkten aus diesen Widerspruch eigentlich?
Beisbart Ich meine, aus der wissenschaftlichen Perspektive ist es so, dass die Erkenntnisse kompliziert sind. Und dann gibt es sozusagen im Hintergrund die Philosophie. Die Philosophie macht sich Gedanken darüber: Wie gehen wir eigentlich mit Grenzen des Wissens um? Was wäre ein rationaler Umgang mit Grenzen des Wissens?
Fecke Was sind denn die Grenzen des Wissens, an die wir im Moment stoßen?
Beisbart Im Moment sind die Grenzen des Wissens, die uns wirklich betreffen in Bezug auf Corona: Es geht einfach um ein Phänomen, das ist sehr neu und wir hatten noch nicht die Zeit, herauszufinden, woher dieses Phänomen genau kommt und wie es sich weiterentwickelt. Ich meine Langzeitfolgen der Krankheit kann man einfach noch nicht abschätzen, weil niemand diese Krankheit bisher mehr als sechs Monate gehabt hat. Das sind nicht so die ganz grundlegenden Grenzen des Wissens, über die man sich in der Philosophie Gedanken macht. Es sind triviale Grenzen im Grunde genommen, die damit zusammenhängen, dass wir mit einem neuen Phänomen zu tun haben.
Fecke Aber so neu ist doch das Phänomen der Pandemie zum Beispiel nicht. Nehmen wir die Spanische Grippe. Es gab nach dem Zweiten Weltkrieg eine sehr, sehr heftige Influenza-Welle, der sehr viele Menschen zum Opfer gefallen sind. Nur damals war man eigentlich auch noch nicht so empfindlich, würde ich fast sagen und nicht so besorgt um das einzelne Leben, ist zumindest meine Einschätzung. Also im Grunde genommen ist das doch gar nicht so ein neues Phänomen.
Beisbart Dieses neue Sarsvirus ist eine neue Variante und da gibt es schon viele Details, die wir eben erst herausfinden müssen, um zum Beispiel zu lernen, was ein guter Impfstoff ist, wie man sich genau ansteckt, das ändert sich ja sehr stark. Zum Beispiel im Moment sind vor allem ältere Menschen betroffen. In der Spanischen Grippe waren es Leute zwischen 20 und 40 Jahren, das ist ein ganz anderes Fenster zum Beispiel. Das muss man erst einmal herausfinden. Und dann gibt es natürlich sozusagen die gesellschaftliche Ebene und die Frage ist so: Wie geht die Gesellschaft damit um? Das hängt jetzt nicht von den Details des Virus tatsächlich ab. Aber tatsächlich haben sich auch die Umstände natürlich ein Stück weit geändert. Vom Ersten Weltkrieg, Spanische Grippe, dieser Zeit bis heute und gerade so Prognosen im Bereich von Gesellschaften, auch von menschlichem Handeln sind eben sehr schwierig. Sieht man schon an den Aktienmärkten. Wenn da sozusagen ein paar gute Geschäftszahlen kommen, dann steigert sich das hoch. Und die Prognosen, die guten Prognosen, werden dann selbst sozusagen weiter benutzt und haben dann Effekte, die in den Prognosen selbst schon gar nicht mehr berücksichtigt sind. Deshalb kann man halt so gesellschaftliche Reaktionen auf Probleme nicht so gut vorhersagen.
Prognose so ausrichten, dass sie uns in die richtige Richtung führt
Fecke Sie haben ja gesagt, dass Prognosen die Zukunft verändern können. Wie meinen Sie das?
Beisbart Na ja, wenn ich eine Prognose lerne, dann kann ich mich versuchen, an dieser Prognose auszurichten. Und das führt dann dazu, dass mein Handeln sich so ändert, dass die Prognose nicht mehr wahr wird. Wenn zum Beispiel es heißt, dass die Wirtschaft weiter wächst, um so und so viel Prozent, dann investieren eben sehr viele Leute in Aktien oder konsumieren mehr und dann wächst die Wirtschaft noch viel stärker. Dieses Phänomen ist gut beschrieben.
Fecke Was wäre denn eine kluge Prognose, um den Verlauf dieser Pandemie ja in eine gute Richtung zu lenken?
Beisbart Das ist extrem schwierig. Wenn wir berücksichtigen, dass die Prognose einen Effekt hat auf das, was wir wirklich tun, dann müsste man versuchen, die Prognose so auszurichten, dass sie uns sozusagen in die richtige Richtung führt. Aber weil wir im Moment gar nicht viel wissen, zum Beispiel, ob es wirklich einen guten Impfstoff gibt, ist es sehr schwierig. Ich meine, sonst könnte man schon versuchen, wenn man mehr wüsste, zu sagen - Na ja, wir machen jetzt einfach mal eine Prognose, dass es Mitte nächsten Jahres einen Impfstoff gibt, da sind wir uns vielleicht sogar ganz sicher mit 50 Prozent Wahrscheinlichkeit oder so etwas, und dann wäre es vielleicht eine Motivation für viele Leute, jetzt noch durchzuhalten und hätte gute Effekte. Aber weil wir eben keine Ahnung haben, ob es Mitte nächsten Jahres diesen Impfstoff gibt, ist das ein bisschen gefährlich.
Fecke Ist es auch in dem menschlich begrenzten Verhalten so veranlagt, dass es für uns sehr schwierig ist, Ungewissheit lange zu ertragen und wir es eigentlich fast besser hinnehmen können, wenn wir wissen, dass irgendwas am Ende tragisch endet, wenn wir nur wüssten, wann es endet.
Beisbart Ich glaube schon, dass wir mit Unsicherheit umgehen können. Es gibt in der Philosophie und der Entscheidungstheorie so ganz einfache Szenarien, an denen man sich das mal vorstellen kann: Im Hochsicherheitstrakt, da ist alles völlig sicher. Da wissen wir genau, was für Folgen unserer Handlungen haben. Dann gibt es so die Situation des Casinos, da kennen wir wenigstens Wahrscheinlichkeiten. Wenn ich zum Beispiel Roulette spiele, weiß ich die Wahrscheinlichkeit, dass ich gewinne, die kann man ausrechnen. Und dann gibt es noch die Situation des Dschungels, da wissen wir nicht mal, mit welchen Wahrscheinlichkeiten unsere Handlungen bestimmte Folgen zeitigen. Und ich glaube, was sich jetzt im Moment verschiebt, ist so ein bisschen das Verhältnis zwischen Dschungel und Casino und Hochsicherheitstrakt. Ganz normale Situationen: Wenn ich zum Beispiel zum Abend zu einer Chorprobe gehe, das ist jetzt plötzlich mit viel Risiko verhaftet, wo es vielleicht noch keine Wahrscheinlichkeiten gibt oder erste Abschätzungen von Wahrscheinlichkeiten. Und ich glaube, das macht uns im Moment so ein bisschen nervös. Wir können schon mit Unsicherheiten umgehen, aber wir sind gewohnt, dass Unsicherheiten in bestimmten Bereichen auftreten und jetzt treten sie halt in anderen Bereichen auf als sonst.
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