In Berlin werden Tausende, Zehntausende wahrscheinlich auf die Straße gehen, weil sie die Corona-Politik hierzulande ablehnen. Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) wollte die Demonstration verbieten, dieses Verbot wurde dann durch das Verwaltungsgericht und später durch das Oberverwaltungsgericht aufgehoben. Zusammenströmen werden dabei höchst unterschiedliche Menschen von links und rechts, auch Rechtsextremisten springen auf den Zug auf, aber sie dominieren die Protestbewegung nicht, sagt der Bundesverfassungsschutz. Wer also macht mit und warum? Das beantwortet Soziologe Dieter Rucht vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung in Berlin.
Friedbert Meurer: Sie machen sich auch auf den Weg heute, mit Kamera bewaffnet, Laptop - was machen Sie bei der Demo?
Dieter Rucht: Ja, ich spiele da den Beobachter, ohne Auftrag, aus eigenem Interesse, aber es ist keine koordinierte Aktion unserer Gruppe, unseres Instituts.
"Wir wissen nicht, wer in der Mehrheit ist"
Meurer: Was wollen Sie da sehen – was auf den Schildern steht, was die Leute sagen –, reden Sie mit den Demonstranten?
Rucht: Ja, ich versuche mir ein Bild zu machen, wie das natürlich auch Journalisten und Journalistinnen machen. Das heißt, ich wandere umher, ich versuche, Gespräche aufzunehmen, auch mit Leuten, mit Umstehenden, ich rede auch gelegentlich mit Polizisten. Das sind einfach Eindrücke, die ich sammle, das ist aber keine systematische Forschung.
Meurer: Am 1. August waren Sie noch nicht dabei, bei dieser ersten Demonstration. Was wissen Sie trotzdem darüber, wer bei dieser Corona-Bewegung mitmacht?
Rucht: Ja, was man wissen kann, das sind die Äußerungen der Redner, das sind die Schilder der Demonstrierenden, das sind auch die Töne, die die Befragten dann Journalisten zum Besten geben, das heißt, man bekommt schon ein Gesamtbild, aber wir wissen nicht, wie sich die einzelnen Gruppen, die da unterwegs sind, quantitativ zueinander verhalten. Wir wissen also nicht, die Mehrheit, sind das diejenigen, die man so als Normalbürger, besorgte Normalbürger bezeichnen würde, oder sind das schon Leute, die eindeutig dem rechten oder gar rechtsradikalen Lager zugehören.
Meurer: Haben Sie Beobachtungen oder Erkenntnisse, dass es links oder rechts ist, alt oder jung?
Rucht: Ja, da kann man schon was dazu sagen. Zunächst mal war es so, diese Proteste begangen ja Ende März in Berlin. Damals war das noch so, dass durchaus auch von den Initiatoren eher linksgestrickte Leute, solche zumindest mit linker Vergangenheit beteiligt waren. Das hat sich inzwischen eigentlich abgeflacht, das heißt, wir haben jetzt eine etwas andere Zusammensetzung, zumindest wenn man überhaupt die Zuordnung links/rechts vornehmen will. Wenn man das jetzt grob gruppiert, dann, denke ich, sind es folgende Einzelgruppen: Zunächst mal sind es einfach besorgte Bürger, Kleinunternehmer, Leute, die persönlich sich zu stark eingeschränkt fühlen oder die auch denken, da gibt es zu viel Hin und Her bei den politischen Maßnahmen. Das überzeugt sie nicht, und sie sind einfach unterwegs, um da ihren Unmut kundzugeben, auch ihre eigenen Interessen zu vertreten. Dann gibt es eine skurrile Gruppe von Leuten, die tatsächlich als Verschwörungserzähler auftreten und die wildesten Geschichten, die wildesten Erklärungen für die Zustände dieser Welt anbieten. Dann gibt es Leute, die haben ein Spezialanliegen – das können Impfgegner sein, das können Tierschützer sein, das können Anthroposophen sein, Esoteriker –, die aus anderen Gründen eigentlich unterwegs sind, aber hier jetzt ein großes Forum finden und suchen und da ihre Meinungen kundtun.
"Auch politisch organisierte Gruppen unterwegs"
Meurer: Da springen offenbar eine ganze Reihe von anderen Leuten jetzt auf den Zug auf, Corona war nur der Anlass. Haben Sie den Eindruck oder den Verdacht, dass sozusagen die Reise bei dieser Bewegung jetzt in eine andere Richtung geht?
Rucht: Ja, also das wichtige Element, das ist schon so, dass politisch versiertere Gruppen, organisierte Gruppen da auch unterwegs sind, und das sind ganz eindeutig Gruppen, die erst mal dem rechten Lager zugehören. Das trifft zu auf Gruppen, die noch etwas moderate Haltungen an den Tag legen, es sind aber auch stramme Rechtsradikale dabei, und es sind auch Parteiformierungen unterwegs, die da mobilisieren. Dazu gehören eben die AfD, die NPD, der Dritte Weg und organisierte Rechtsradikale, die Identitären, die Reichsbürger, also da ist das gesamte Personal im gesamten Spektrum vertreten.
Meurer: Wieso sind die Linken nicht mehr dabei, sind die sozusagen von rechts verdrängt worden?
Rucht: Nicht verdrängt worden, aber die bekamen dann doch kalte Füße. Sie wollten eben nicht Seite an Seite mit Rechten auftreten oder gar hinter deren Fahnen herlaufen. Das hat sich inzwischen deutlich sortiert.
Meurer: Wenn so viele, wie Sie sagen, skurrile Leute da mitmachen, auch Rechtsradikale, schreckt das nicht die besorgten Bürger ab, die dann sagen, mit denen will ich dann doch lieber nichts zu tun haben?
Rucht: Bislang offensichtlich nicht, sonst kämen auch diese Zahlen nicht zustande. Es waren ja dann doch in Berlin nach Polizeiangaben an die 20.000 Anfang des Monats. Die Veranstalter behaupten ja nach wie vor, sie waren mindestens 500.000, was völlig absurd ist. Die Normalbürger, wenn ich immer noch diesen Ausdruck verwenden will, die können schon im Prinzip abgeschreckt werden, wenn das Ganze noch heftiger wird, vielleicht auch gewalttätiger wird. Aber viele von denen sagen auch – und das habe ich auch in Interviews gehört –, na ja, ich bin aus meinem spezifischen Grund hier, und wenn die neben mir was anderes sagen oder meinen, dann ist das deren Sache, das interessiert mich dann gar nicht.
Demo-Verbot hat "viel Aufmerksamkeit erzeugt"
Meurer: Also Sie warnen, zumindest Stand jetzt, davor, da den Stempel rechtsradikal draufzudrücken?
Rucht: Sicher nicht für alle, das wäre völlig falsch. Es trifft sachlich nicht zu, und es treibt auch die Leute tatsächlich dann in die rechte Ecke, denn sie müssen sich dann eindeutig verhalten. Und wenn sie schon das Etikett zugewiesen bekommen und sich zumindest partiell damit identifizieren, und sei es auch noch etwas zweifelnd, dann treibt man die durch solche pauschalen Zuweisungen in diese Ecke.
Meurer: War es politisch unklug, die Demo verbieten zu wollen?
Rucht: Ja. Ich denke, ich persönlich bin ein großer Verteidiger des Demonstrationsrechtes, und es war unklug, nicht nur aus Prinzip. Man kann nicht aus der Vergangenheit, aus ähnlichen Auftritten ableiten, dass es diesmal genauso ablaufen wird, aber es gab einen sehr markanten Fehler in der Begründung dieser Ablehnung, der ersten Begründung, nämlich das war ein inhaltliches Argument, dass sozusagen die Richtung dieser Demonstrierenden demokratiegefährlich sei, und das darf nicht die Begründung sein. Das heißt, die Begründung muss eine formale sein. Es könnte sein, dass man das verbieten will, weil man Gewalt befürchtet oder weil man die Demonstranten und Gegendemonstranten nicht auseinanderhalten kann, aber die Behörde kann sich nicht anmaßen, politisch zu urteilen, ob dieses Anliegen ihnen passt oder nicht passt.
Meurer: Stachelt das die Bewegung weiter an, auch wenn wir ja jetzt zwei Urteile haben von zwei Gerichten und man also sagen könnte, der Rechtsstaat funktioniert in unserem Land.
Rucht: Das ist schwer zu sagen, aber zumindest werden sehr viele Diskussionen dadurch erzeugt. Es wird viel Aufmerksamkeit erzeugt, und das heißt dann schon, dass es eher ein Magnet ist für das Demonstrationsgeschehen als eine Abweisung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.