Susanne Fritz: Jugendliche spielen in der Fußgängerzone auf der Posaune "Oh du Fröhliche", Besucher strömen in die Kirchen zu christlichen Konzerten, und überall liegen, hängen und stehen Engel, Kreuze und Krippen. In der Weihnachtszeit ist es nicht zu übersehen: Deutschland hat christliche Wurzeln. Im restlichen Jahr sieht das aber anders aus. Trotzdem ist nach einer neuen Studie des Allensbach Instituts 63 Prozent der Befragten die christliche Kultur in Deutschland wichtig. Vor fünf Jahren waren es noch deutlich weniger, nämlich nur 48 Prozent. Darüber möchte ich jetzt mit dem Religionssoziologen Gert Pickel sprechen. Er ist Professor am Institut für praktische Theologie an der Universität Leipzig. Guten Morgen.
Gert Pickel: Guten Morgen, Frau Fritz.
Fritz: Herr Pickel, Sie sind Wissenschaftler an einer ostdeutschen Universität. In den neuen Bundesländern ist die Zahl der Religionslosen besonders hoch. Hat Sie dieses Ergebnis der neuen Allensbach-Studie überrascht?
Pickel: Also nur ein Teil der Studie hat überrascht, das ist diese Rückbesinnung auf die christliche Kultur. Wobei: Man muss es mit etwas Vorsicht natürlich sehen. Diese Rückbesinnung ist weniger eine Rückbesinnung auf die christliche Kultur als eine Abgrenzung gegenüber einer muslimischen Kultur, würde ich jetzt mal so sagen, wenn man die Debatten, die öffentlichen Debatten der letzten zwei, drei Jahre nimmt. Man muss sehen, ob das dann so bleibt, wenn eben diese Debatten wieder abflauen.
"Der Bezüge zur Kirche sind relativ schwach geworden"
Fritz: Um welche Art von Identität handelt es sich hier eigentlich? Wenn man sich die Zahlen der Studie anschaut, dann sind heute nur noch rund 55 Prozent der Deutschen Mitglied in einer der beiden großen Kirchen. Davon gehen laut Ansbach Institut nur noch circa 33 Prozent ab und zu in die Kirche. Auch die Zustimmung zu den christlichen Kernbotschaften ist laut Studie gesunken: Nur noch 41 Prozent der Westdeutschen glauben zum Beispiel, dass Jesus Gottes Sohn ist. Auch die christlichen Sitten wie zum Beispiel das Tischgebet sind aus dem bundesdeutschen Alltag weitgehend verschwunden. Was ist das für eine Identität?
Pickel: Im Prinzip ist das so, dass man weiß: Es gibt sozusagen irgendwie christliche Ursprünge, die sind kulturell deutlich sichtbar, auch noch, also jetzt zu Weihnachten - wurde gerade angesprochen - sieht man das. Man sieht natürlich auch die Kirchtürme. Aber die Bezüge sind relativ schwach geworden, oder sie bröckeln. Wir sagen: 55 Prozent ist immer noch eine Mehrheit, die wir haben, die Mitglied in den Kirchen ist und irgendwann mal eine religiöse Sozialisation erfahren hat. Das ist aber häufig alles nicht sehr tiefgreifend. Wenn wir auf diese Identitätsfrage schauen, ist es ganz häufig so, dass eine Art säkulare Identität mit zum Tragen kommt und vor allem eine, die sich durch die muslimische Identität oder Glauben, der stärker verankert ist, in gewisser Weise sich auch ein bisschen bedroht fühlt.
Also wir haben Studien, in denen eben 55 Prozent der Deutschen sich durch den Islam, was auch immer das dann sozusagen sein mag in diesem Denken, bedroht fühlt. Das ist so eine Gegenposition, die hier zum Tragen kommt, wo man sagt: Lieber meine christlichen Werte, auch wenn ich die selbst nie ausübe oder gar nicht mal mehr Mitglied in der Kirche bin, aber ja nicht das andere.
Fritz: Inwiefern spielt die Diskussion um den Islam eine Rolle? Wie stark hat das die Deutschen verunsichert?
Pickel: Das hat doch deutliche Verunsicherung hervorgebracht, weil der Islam relativ schnell in der Zuordnung als gefährlich gesehen wird. Klar, man hat Nachrichten in denen, wenn Islam auftaucht, oder Muslime auftauchen, dann hat man den IS oder sowas vor Augen, oder dann die Sachen, die in Köln waren. Das hat den Islam mit einem relativ negativen Bild versehen. Und dieses negative Bild führt dazu, dass man sagt, das will ich eigentlich hier gar nicht haben. Dann verbindet man das noch mit der Flüchtlingsbewegung, die wir in den letzten Jahren hatten. Und daraus resultiert eine Abgrenzung. Identität ist immer etwas, was mit Abgrenzung zu tun hat, sie ist am stärksten, wenn ich jemanden sehe, der nicht so ist wie ich, von dem ich mich noch abgrenzen möchte. Dadurch hat natürlich der Islam eigentlich die stärkste Bedeutung für dieses eine Ergebnis, wobei man auf der anderen Seite deswegen nicht in die Kirche geht oder seinen Glauben reaktiviert.
Religion als kultureller Faktor
Fritz: Also Christentum als Teil der kulturellen Identität, als Möglichkeit, sich abzugrenzen. Aber ist das alles ohne religiöse Praxis überhaupt möglich?
Pickel: Das ist durchaus ganz gut möglich. Also wir sehen das in Ostdeutschland, wo wir die stärksten Bedrohungsängste haben, wo das christliche Abendland ziemlich offensiv verteidigt wird. Wenn wenn man auf die Straßen schaut, von einer großen Zahl der Personen, die eigentlich mit dem Christentum schon in der zweiten, dritten Generation gar nichts mehr zu tun haben, also die nicht mal wüssten, wie ein Gottesdienst ablaufen würde. Aus einer säkularen Position heraus - und das kann dann auch für das Christentum natürlich problematisch werden - kann eine antireligiöse Position entstehen. Wir sehen ja auch gerade jetzt Debatten von Personen, die auch jetzt mittlerweile im Bundestag sind, die sehr deutlich machen, dass sie die christliche Kirche auch für zu politisch halten, weil sie eben andere Positionen vertritt, als eine Verteidigung des christlichen Abendlandes.
Fritz: Wie meinen Sie das genau? Können Sie das näher erläutern?
Pickel: Frau Weidel hat ja gestern zum Beispiel sehr klar zum Ausdruck gebracht, dass die christlichen Kirchen sich politisch eigentlich viel zu stark positionieren, natürlich aus ihrer Sicht politisch falsch positionieren. Da wird deutlich, dass, wenn man sich das Parteiprogramm der AfD anschaut, die ja das christliche Abendland gegen den Islam verteidigt, man hier sich etwas anderes wünscht. Und das ist sicherlich etwas, womit man Positionen hat, die eben gerade diese Identitätsfrage sehr stark ins Zentrum rücken. Und dazu brauche ich eben jetzt aber auch keine christliche Position.
Fritz: Auf der einen Seite haben wir eine Rückbesinnung auf die christliche Kultur, auf der anderen Seite eine starke Tendenz zu einer säkularen Gesellschaft, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Wenn wir jetzt die Frage nach der kulturellen Identität gestellt haben - was würden denn die Atheisten in Deutschland denn dazu sagen?
Pickel: Die würden wahrscheinlich sagen: Ja, das war früher mal so, aber das haben wir jetzt übernommen, und wir brauchen jetzt nicht das Christentum oder wir brauchen jetzt auch nicht Kirchen als Wächter dieser kulturellen Überzeugungen. Die dürfen gerne die Gotteshäuser erhalten, das ist eben Kultur. Und Kultur ist immer noch mal was anderes als Religion. Religion oder das Religiöse, da würden sie generell von abraten, weil das letztendlich den Weg in eine - sagen wir mal - rationale Deutung der Welt verhindert. Also man macht eine Unterscheidung auch zwischen Kultur und zwischen Religion, das gelingt relativ gut.
Fritz: Wie identitätsstiftend sind Ihrer Ansicht nach eigentlich säkulare Werte wie beispielsweise Gleichheit, also demokratische Werte wie Gleichheit und Meinungsfreiheit?
Pickel: Das sind ja durchaus wichtige Werte, die würde man aber nie als rein säkular bezeichnen. Ich glaube, man würde ganz problemlos sagen können, das ist natürlich genauso mit Christentum verbindbar. Oder manche würden argumentieren, das kommt sogar aus dem Christentum heraus in den Überlegungen.
Fritz: Gleichheit und Meinungsfreiheit?
Pickel: Auch Gleichheit würde man sehr stark betonen.
Fritz: Was eigentlich zeigt, dass die Leute wenig über das Christentum wissen.
Pickel: Also darüber brauchen wir gar nicht groß zu reden. Wenn wir jetzt die Weihnachtsgottesdienste voll haben, bedeutet das noch lange nicht, dass man sich sozusagen sehr auskennt. Wir wissen: Das Lesen der Bibel dürfte zwischen drei und vier Prozent der Bevölkerung stehen. Da geht es auch gar nicht unbedingt darum, dass man etwas darüber weiß. Das ist vielleicht auch eines der größten Probleme, das man hat: Man weiß eigentlich gar nicht so viel darüber. Dementsprechend ist es auch schwer, sich irgendwie zu committen, aber so ein Weihnachtsgottesdienst, den man eben mit anderen zusammen vornimmt, der ist wiederum ganz schön.
Wunderglauben steigt
Fritz: Fragt man nach der allgemeinen Spiritualität, dann sieht die Situation ganz anders aus, als bei den Kernbotschaften: 48 Prozent der Westdeutschen glauben an irgendeine überirdische Macht, 30 Prozent glauben an Engel - mehr als vor einigen Jahren, und rund 50 Prozent glauben an Wunder. Auch da ist die Zahl deutlich gestiegen. Wo finden diese Leute eine spirituelle Heimat, wenn es die Kirchen nicht mehr sind?
Pickel: Die brauchen das gar nicht. Denn der entscheidende Punkt ist: An Wunder zu glauben, sozusagen eine ganz allgemeine, diffuse, übernatürliche Macht anzunehmen, das verpflichtet ja nicht zu besonders viel, das kann ich privat für mich tun, und das ist sicherlich so ein Aspekt. Die Privatisierung des Religiösen hat auch gerade den Weg von den Kirchen weggelenkt. Es führt allerdings meist dazu, dass es noch diffuser wird. Hier muss ich ja gleich mal gar nix wissen - wir haben ja gerade darüber gesprochen -, sondern Wunder können halt kommen und die können sich als Wunder deklarieren, aber ich muss da auch nicht sehr viel drauf Acht geben, ich muss auch keine Riten dafür vollziehen. Das kommt oder das kommt eben nicht. Dementsprechend ist das relativ einfach. Und die übernatürliche Macht, die ist sehr allgemein.
Wir müssen dabei beobachten, dass diese Größe gleich bleibt, hängt auch damit zusammen, dass die Zahl derer, die sozusagen an Gott glauben oder sehr viel spezifisches Christliches, ein christliches Verständnis haben, deutlich gesunken ist, und damit auf der anderen Seite natürlich die Zahl derer, die sagen, naja, ich weiß gar nicht, an was ich glauben soll, eben auch gestiegen ist. Und vor allem, ganz wichtig ist dabei: Wenn ich sage, ich weiß nicht oder es gibt eine übernatürliche Macht, dann bedeutet das für mein Alltagsleben erst mal noch nicht so besonders viel.
"Religion ist ein soziales Geschäft"
Fritz: Also eine ganz diffuse Spiritualität, mit der wir es da zu tun haben. Für viele Deutsche - das haben wir gerade gesagt - ist Christentum in kultureller Hinsicht wichtig, auch wenn der christliche Glaube eben nicht mehr so praktiziert wird, oder immer weniger. Glauben Sie denn, dass ein christlicher Brauch wie das Weihnachtsfest mit Engeln, Jesuskind und Krippe, auch künftig noch so gefeiert wird wie heute?
Pickel: Ja, ich glaube, das wird sich relativ gut halten. Wir sehen ja gerade in den letzten Jahren, dass sogar ein Zuwachs ist an diesen Gottesdiensten, und das hat mit einer Komponente zu tun, mit der sozialen Komponente. Religion ist auch ein sehr stark soziales Geschäft, wenn man das mal so ausdrücken mag. Und Weihnachten ist natürlich das Fest der Familie, aber auch das Fest überhaupt, in dem ich soziale Beziehungen knüpfe. Und solang ich Krippenspiele habe, wo man Leute beteiligen kann, wo viele Jugendliche sich kennenlernen, wo die Eltern mitkommen, die Großeltern, dann haben wir eigentlich eine sehr erfolgreiches Element in der Religion. Das haben wir vielleicht manchmal vergessen, das ist so da besonders effektiv, wenn das Soziale hinzutritt. So wissen wir eben auch, dass gerade sozusagen Riten, die wir haben, Taufe, Hochzeit, aber auch Beerdigung, das sind die Riten, wo immer noch sehr, sehr viele Leute kommen, wo man Anknüpfungspunkte hat. Aber man kommt ja nicht deswegen, weil man den Ritus vollzieht, sondern weil dort jemand gestorben ist. Das geht mit Personen und mit anderen Menschen. Da ist Kirche, und da ist auch das Christentum immer noch recht stark.
Fritz: Herzlichen Dank für das Gespräch zur neuen Studie des Ansbach Instituts. Das war der Religionssoziologe Gert Pickel von der Universität Leipzig.
Pickel: Danke.
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