Archiv


Den großen Stoff kleinschreiben

Es geht um großen Themen wie Krieg und Liebe. Sadie Jones nähert sich ihnen fast beiläufig. Zwischen den Zeilen blitzen sie dann und wann auf, zeichnen unbemerkt ein Porträt der 50er-Jahre. Ein gut recherchierter und leicht lesbarer Roman, der vom genauen Blick für seine Figuren profitiert.

Von Tanya Lieske |
    Im Internet gibt es eine Seite, die heißt "Kleine Kriege", auf Englisch: "Small Wars". Es ist eine Veteranen-Seite, sie widmet sich der Chronologie und dem Gedenken an britische Militäreinsätze jenseits der beiden großen Weltkriege: Palästina, Zypern, der Golf. Wenn man den Begriff der "Kleinen Kriege" nicht als Ortsangabe begreift, sondern als Metapher, dann ist man schon mittendrin in dem neuen Roman der britischen Autorin Sadie Jones. Kleine Kriege gibt es eigentlich nicht, denn sie funktionieren genau so wie die Großen, sie beruhen auf Patriotismus, Vergeltung, Eskalation.

    Dem Pferd, das ihm zunächst lag, waren beide Vorderbeine abgerissen worden. Verzweifelt versuchte es trotzdem aufzustehen, warf immer wieder angestrengt den Kopf hoch. Sein Brustkorb lag flach auf dem Sand, wo er nicht hingehörte. Das Pferd schrie: sein Schädel, schweißig und riesig, war dicht vor Henry. Der Mann, der das Pferd geritten hatte, lag daneben. Eins seiner Beine fehlte, und, wie es aussah, auch ein Teil seines Arms, aber es war schwer zu sagen, weil alles voller Sand und Blut war.

    Zypern, 1956. Die Mittelmeerinsel gehört zur britischen Krone. Unter den Einheimischen regt sich Widerstand gegen die fremde Militärmacht, die Besatzer. Zu ihnen gehört Henry Treherne, ein junger Major Anfang 30. Henry hat das Zeug zum klassischen Helden, er ist patriotisch, tapfer, gerecht. Er wird dem schwer verwundeten Soldaten Erste Hilfe leisten, und der überlebt. Außerdem ist Henry Treherne jung verheiratet mit seiner Jugendliebe Clara, die gerade mit ihren beiden einjährigen Zwillingen in Zypern gelandet ist. Sadie Jones erzählt, wie Henry Treherne seinen Glauben an einen gerechten Krieg verliert, er droht zu zerbrechen, und mit ihm seine Ehe.

    Henry und Clara gehören zur britischen Oberschicht, sie sind geprägt von den Konventionen der 50er-Jahre. Sadie Jones interessiert sich sehr für diese Zeit. Was als Sittenbild der britischen Upperclass gelten könnte, ist in ihrer Wahrnehmung eher ein Epochengemälde. Europa steht in den 50er-Jahren noch unter dem Schock der großen Kriege. Die emotionale Disziplin, sagt Sadie Jones, war in dieser Zeit wichtig für das Überleben:

    "Eigentlich glaube ich, dass alle Leute sich so verhalten. Man unterstellt den Engländern, dass sie sehr diszipliniert sind mit ihren Gefühlen. Aber eigentlich kann ich mir keine Gesellschaft vorstellen, in der die Menschen ihre Gefühle zur Schau stellen. Selbst Italien, da gibt es das Klischee, dass die Italiener ständig lachen und heulen, aber ich glaube, in den 50er-Jahren musste man sich auch dort zusammenreißen und den Schutt wegräumen."

    Wenn das Sittenbild im Epochengemälde aufgeht, wenn Liebe und Krieg verhandelt werden, dann hat man es mit dem ganz großen Stoff zu tun. Wie schon in ihrem ersten Roma "Der Außenseiter", gelingt es Sadie Jones aber, diesen Stoff zu verdinglichen. Sie löst den Zyperneinsatz auf in eine Reihe von Kriegshandlungen, die dem Gesetz von Ursache und Wirkung, von Anschlag und Vergeltung folgen. In minutiöser Genauigkeit, quasi in Zeitlupe, entwickelt sich die Spirale der Gewalt vor den Augen der Leser. Das ist faszinierend, denn es hat nichts von der verwirrenden Vielfältigkeit der sogenannten großen Kriege. Auch das stille Ehedrama, das sich im Schatten dieses Krieges abspielt, zeigt sich in vielen Alltagshandlungen, in einem Nebensatz, in einer zu früh entzogenen Hand, in einem Schweigen. Sadie Jones versteht sich auf die Kunst, den Alltag zu beschwören, ohne sich in Details zu verlieren. Sie selbst nennt das, den großen Stoff kleinschreiben:

    "Wenn ich schreibe, dann mit einer Haltung des Understatements. Ich versuche, die Konfrontation zu vermeiden. Ich lasse alles im Subtext. Das funktioniert, wenn man eine große Geschichte erzählt. Wenn man eine schäbige, kleine, häusliche Geschichte erzählt, dann würde das nicht funktionieren."

    Sadie Jones Vorliebe für den Alltag, für kleine Erzählbewegungen hat fast etwas Verstörendes, denn alles, was ungesagt bleibt, muss der Leser für sich ergänzen. Das gilt auch für die Schilderung ihrer Figuren. Deren Gedanken wohnen in dem Niemandsland zwischen Erzählstimme und innerem Monolog. Stets gilt es zu überprüfen, ob das, was mit Gewissheit behauptet wird, auch wirklich stimmt. Es rumort unter dieser Prosa, die scheinbar so konventionell daherkommt. Hier ist zum Beispiel ein Blick auf Henry Treherne, kurz bevor er einen äußerst brutalen Brandeinsatz gegen die aufständischen Griechen befiehlt:

    Allein mit seiner Verantwortung spürte Henry, wie sich die Stimmung um ihn herum veränderte. Er kam sich vor wie auf einem Schiff, das mit prall gefüllten Segeln geradewegs auf sein Ziel zusteuerte. Aber dann veränderte sich der Himmel, die Segel wurden schlaffer, das Wetter schlug um. Vorher hatte es Klarheit und Zielstrebigkeit gegeben, jetzt gab es Spaltung und Trauer. Er wollte nicht, dass eine weitere Nacht anbrach, in der diese Terroristen sich unter ihnen in der Erde versteckten und es kleine Lösungen gab. Er musste handeln.

    Clara, die weibliche Heldin, ist eine Frau auf der Suche nach Liebe. Sie ist nicht emanzipiert, denn Emanzipation spielt in den 50er-Jahren keine Rolle. Beide, Clara und Henry, zweifeln nicht daran, dass sie füreinander bestimmt sind. Sie sind Mann und Frau im klassischen Sinne, und die Geschichte ihrer Ehe folgt den Gesetzen des Melodrams. Die Ehe wird einer schweren Prüfung unterzogen, scheitert fast und führt dann zu einer Erneuerung des Eheversprechens.

    Sadie Jones schreibt also nicht nur über die 50er-Jahre, sie folgt auch den dramatischen Konventionen dieser Zeit. Das ist viel raffinierter, als es auf den ersten Blick scheint. Außerdem ist es das Ergebnis einer langen Schattenkarriere als Drehbuchautorin und das Resultat einer Kindheit in einem Künstlerhaushalt:

    "Ich bin mit Schriftstellern, Schauspielern und Regisseuren aufgewachsen. Das war die Welt, die mir vertraut war. Es ist aber auch eine Welt, die sich abgrenzt, denn all diese Menschen beobachten den Rest der Gesellschaft. Als Kind hat man das Gefühl, ein glücklicher Außenseiter zu sein. Die Bankiers und die Rechtsanwälte leben auf ihre Art, aber wir machen es anders!"

    "Kleine Kriege" ist ein gut recherchierter und leicht lesbarer Roman, der von diesem genauen Blick auf die Menschen profitiert.