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Kommentar zu Kriegsverbrechen
Strafverfolgung darf nicht bei der Machtclique um Putin enden

Er möchte einen anderen Wladimir in Den Haag sehen, sagte Wolodymyr Selenskyj bei einem Besuch am Internationalen Strafgerichtshof: Gemeint war Putin. Aber das reiche nicht, kommentiert Thomas Franke. Auch Mitläufer und Mittäter müssten vor Gericht.

Ein Kommentar von Thomas Franke |
Wolodymyr Selenskyj. Ein Mann steht an einem Pult mit Mikrofon und hält eine Rede.
Der ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyj in Den Haag. (picture alliance / AP / Yves Herman)
Noch weiß niemand, wie dieser Krieg zu Ende geht und ob Wladimir Putin dann noch lebt und an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag ausgeliefert wird. Aber nie in der Menschheitsgeschichte wurden Kriegsverbrechen so gut dokumentiert wie derzeit in der Ukraine. Bereits jetzt sammeln internationale Ermittler akribisch Belege für die Gräueltaten im Kriegsgebiet und darüber hinaus.
Es ist fast 80 Jahre her, dass die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs in Nürnberg die Hauptverantwortlichen des Nazi-Regimes vor Gericht gestellt haben. Was damals unzureichend funktioniert hat, war ein wesentlicher Schritt auf dem Weg, Recht auch international zu etablieren. Nur: Die zivilen Mitläufer, die Denunzianten und Helfer, die Militärs, die aus Überzeugung verbrecherische Befehle umgesetzt haben, sind meist straffrei davon gekommen. Das war falsch. Das darf sich 80 Jahre später nicht wiederholen.
Langfristig geht es darum, Russland als aggressives Imperium zu verhindern. Deshalb darf Strafverfolgung nicht bei der Machtclique um Putin enden.
Die russische Gesellschaft ist von Gewalt geprägt. Gewalt wird in den meisten Fällen nicht geahndet. Am deutlichsten wird das bei häuslicher Gewalt. Erst vor wenigen Jahren hat der russische Gesetzgeber familiäre Gewalttaten von einer Straftat zu einer Ordnungswidrigkeit degradiert. Häusliche Gewalt steht damit auf eine Stufe mit Falschparken.
Die Gerichte sind durch und durch korrupt. Je mehr Geld Menschen haben, je besser sie vernetzt sind, desto eher bleiben ihre Vergehen ungesühnt. Eine gründliche, gerechte und unvoreingenommene Verfolgung jedes einzelnen Täters in diesem Krieg kann ein starkes Signal in die Gesellschaft sein und ist deshalb unverzichtbar.
Anders als bei anderen Kriegen darf diesmal die Chance, Kommandanten, Mittelsmänner, Propagandisten, Unterhaltungskünstler und jeden, der diesen Krieg offen unterstützt hat, zur Verantwortung zu ziehen, nicht vertan werden. Es geht also nicht um zehn Menschen in Putins Umfeld oder ein paar Hundert, es geht um Tausende.
Besonders grausam ist die massenhafte Deportation ukrainischer Kinder. Sie werden aus den eroberten Gebieten verschleppt, in Heime gebracht und in Familien umerzogen. Die Beteiligten wissen, was sie tun, jeder einzelne. Jeder Einzelne, der sich daran beteiligt, ist identifizierbar. Jeder Einzelne gehört verurteilt.
Eine Verurteilung der Mitläufer, Mittäter und ihrer Helfer würde nicht nur Genugtuung für die Opfer bedeuten; es wäre ein starkes Signal auch an jene Russen, die nach Gerechtigkeit dürsten, es wäre ein starkes Signal an alle Mitläufer dieser Welt: Ihr seid nicht mehr sicher. Und es wäre ein starkes Signal an all die vielen rechtschaffenen Menschen: Die Täter kommen langfristig nicht durch.
Fast 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutet "Nie wieder Krieg" deshalb nicht nur ein Bekenntnis dazu, niemanden anzugreifen. "Nie wieder Krieg" kann nur durchgesetzt werden, wenn es bedeutet "Nie wieder Straffreiheit".