Wer die Augstein-Biographie von Peter Merseburger gelesen hat, der ahnt, dass diese Selbstcharakterisierung des "Spiegel"-Machers nur die halbe Wahrheit ist. Selbstverständlich genoss Rudolf Augstein, genossen und genießen etliche "Spiegel"-Redakteure die Macht, von der Politik gehört zu werden und Meinungen zu lancieren. Augstein, der gerne respektlos auftrat und doch so genannte "große Männer" zeitlebens bewunderte, wollte stets in einer Liga mit den Mächtigen seiner Zeit spielen. Seine, von Merseburger detailliert wiedergegebenen, heftigen Attacken, gegen Kanzler Adenauer etwa, zeugten von dem Willen, gleichberechtigt Politik zu gestalten.
"Gelegentlich mischen sich in dieses negative Crescendo Zeichen von Respekt und Anerkennung, meist für die physische Leistungsfähigkeit des Achtzigjährigen, aber auch für sein souveränes Auftreten auf internationalem Parkett. Ein 'großer Stammesfürst' sei zum Palaver erschienen, schreibt Augstein, als Adenauer 1955 in Moskau weilt. Wie ein 'Erzvater des Alten Testaments' habe er auf dem Flughafen Scheremetjewo gestanden. Er bedenkt die schwache Verhandlungsposition des Kanzlers und meint, dieser habe sich seiner Aufgabe 'mit großer Würde und nicht ohne Geschick' entledigt. Doch sind dies Ausnahmen. Augsteins Ton wird bitterer, seine Kritik schärfer und ätzender, je weniger seine furiosen Attacken etwas bewirken – 'Hilflose Wut' habe er empfunden, schreibt er in seiner Besprechung von Peter Kochs Adenauer-Biographie, weil er diese Erfahrung immer wieder erleiden musste."
Peter Merseburger beschreibt den jungen Augstein, als früh über die provinzielle Enge seiner Familie hinausgewachsenen Intellektuellen, der, wo immer er auftrat, schnell den Mittelpunkt bildete. So auch im Vorgängerprojekt des "Spiegel", der von der britischen Militärregierung lizenzierten Zeitschrift "Diese Woche", in der der Jüngste bald der Wichtigste wurde. Seine Polemiken gegen die britischen Besatzer, deren Produkt doch "Diese Woche" war, zeigten früh das Erfolgsmodell Augstein: Frechheit gepaart mit Respektlosigkeit. Merseburger, selbst ein angesehener Journalist, ehemals auch "Spiegel"-Mitarbeiter und später Chefredakteur des NDR-Fernsehens, hat akribisch Material über Augstein gesichtet und mit Zeitzeugen gesprochen, Z.B. mit Ralph Giordano, der früh zum "Spiegel" stieß und vom klein gewachsenen Augstein sofort beeindruckt war.
"Rudolf Augstein, damals ein Strich in der Landschaft, physisch. Aber schon ganz und gar der Chef. Er war reif, weit über sein Alter, eigentlich in jeder Beziehung. Auch, was die Intellektualität anbetraf."
Gleichzeitig war Augstein aber, so sein Biograph Merseburger, ein im Grunde schüchterner Mensch, der noch Jahrzehnte später vor jedem "Spiegel-Gespräch", inzwischen schon mehrfacher Millionär und eine bundesdeutsche Institution, aufgeregt und unsicher war, wie ein Nachwuchsjournalist. Überhaupt war Augstein von einer Widersprüchlichkeit, vor der Merseburger oftmals seine Ratlosigkeit bekennt. Ein Mann mit, im Grunde, einfachen materiellen Bedürfnissen, der gleichwohl Villa um Villa kauft und mit Privatjets zu seinen großen Feriendomizilen aufbricht. Ein erfolgreicher Blattmacher, dem das eigene Magazin, so bekennt er mehrfach selbst, zur Last fiel. Dem das Leben zu Füßen lag und der als Alkoholkranker starb. Die Bedeutung Augsteins als Ausnahmejournalist lag darin, wie Merseburger schreibt, den Deutschen "das obrigkeitsstaatliche Denken ausgetrieben" zu haben. Die Polemiken, erst gegen die britischen Besatzer, dann gegen Adenauer und die Westbindung, die frühe Sympathie für die Studentenbewegung - der "Spiegel" war lange Zeit der journalistische Stachel gegen die gerade herrschenden Verhältnisse.
"Ich erinnere mich des Tages im Bundeshaus, an dem Konrad Adenauer und Kurt Schumacher mir beide die Hand nicht mehr gaben. Es war derselbe Tag und es war dieselbe Ausgabe des 'Spiegel', über die sich die beiden Herren geärgert hatten.""
Merseburger beschreibt detailliert die publizistischen Grabenkämpfe, die Augstein gegen jeden führte, der anderer politischer Meinung war, als er selbst. Noch im Nachhinein fühlt der Leser allerdings ein Unbehagen, über, die bis heute typische, "Spiegel"-Häme, wie sie sich, z.B. schon vor der "Spiegel-Affäre", über den CSU-Vorsitzenden Strauß ergießt:
""Natürlich fehlt kein Skandalon aus der langen Liste der Straußschen Verfehlungen und Charaktermängel, und selbstverständlich hat die "Spiegel"-Dokumentation alle pejorativen Adjektive und Wertungen zu und über Strauß aus aller Welt zusammengetragen. Des 'Spiegels' amerikanische Urmutter 'Time' wird mit der wenig schmeichelhaften Bemerkung zitiert, der Minister habe ein Gesicht wie ein 'stein of beer', wie ein irdener Maßkrug also, auch die 'Tribune' mit der maliziösen Behauptung, Strauß habe das Gesicht eines der 'gefährlichsten Männer in Europa'; und William S. Schlamm, wahrlich kein Lieblingsfreund Rudolf Augsteins, darf mit der Feststellung nicht fehlen, Strauß sei rein äußerlich 'fast genau das, was die Franzosen meinen, wenn sie sachlich 'boche'sagen.'"
Die so genannte "Spiegel-Affäre" von 1962, in deren Folge der Verteidigungsminister Strauß stürzt, lässt die "Spiegel"-Redaktion und Rudolf Augstein zu Märtyrern der Pressefreiheit werden. Merseburger verschweigt nicht, wie wenig heldenhaft Augstein anfangs versuchte, sich vor der Verhaftung zu drücken, die doch dann große Teile der Bevölkerung dazu bewegt, sich mit ihm zu solidarisieren - gegen einen Adenauerstaat, der selbstgefällig und unüberlegt Polizeimaßnahmen gegen das Hamburger Blatt durchführen lässt.
"Sehen Sie, in der Person Augstein sind zwei Komplexe drin. Auf der einen Seite verdient er am Landesverrat, und das finde ich einfach gemein. Und zweitens, meine Damen und Herren, verdient er an allgemeiner Hetze, auch gegen die Koalitionsparteien, und das gefällt Ihnen. Sie werden ebenso wie ich überrascht worden sein, dass man Augstein Landesverrat vorwerfen konnte. Ich war davon überrascht. Ich lese übrigens den 'Spiegel' im Allgemeinen nicht, möchte ich hier bemerken. Ich habe Besseres zu tun."
Auch wenn Konrad Adenauer noch regieren konnte ohne den "Spiegel" zu lesen - je mehr sich das Land liberalisierte, desto mehr gewann das Magazin an politischem Einfluss und Auflage. Von dem selbst gewählten Credo, das "Sturmgeschütz der Demokratie" zu sein, lebt es bis heute. Wie oft sich Augstein aber auch in seiner Analyse der politischen Verhältnisse täuschte, zeigte sich gerade in der deutschen Frage, die ihm so am Herzen lag. Er, der den Westdeutschen vorwarf, sie hätten sich aus der Schuld des Krieges ins "atlantische Asyl" geflüchtet, analysierte noch 1985:
"Die Lebenslüge dauert gar bis heute. Sie währet immer dar und sie heißt jetzt: Wiedervereinigung unter einem europäischen Dach. Dieses europäische Dach wird es wohl, ohne einen Dritten und wohl letzten Weltkrieg, nicht geben und das heißt: es wird es überhaupt nicht geben."
Rudolf Augsteins Stärke, das macht Peter Merseburger deutlich, lag im Widerspruch, im Aufzeigen dessen, was seiner Meinung nach falsch lief im Lande - nicht in der Entwicklung von Alternativen. In seinem Nationalbewusstsein, in seiner Verehrung für die großen Gestalten der Geschichte, die er gleichwohl als Amateurhistoriker heftig kritisierte, blieb er jedoch seltsam unmodern - auch wenn er half, die Bundesrepublik zu modernisieren. Von all den schon erschienenen Augstein-Biographien ist die von Peter Merseburger die ausführlichste und diejenige, die den Publizisten Augstein so ernst nimmt, wie er wohl gerne genommen werden wollte. In ihrer Detailversessenheit wirkt sie allerdings manchmal etwas ermüdend, zumal Merseburger in seinen Erzählfluss zu wenige dramatische Höhepunkte einbaut. Dem Polemiker Augstein hätte wahrscheinlich etwas mehr Zuspitzung seitens seines Biographen ganz gut gefallen. Doch als Standardwerk, zu Leben und Leistung Rudolf Augsteins, ist Merseburgers Buch nur zu empfehlen.
Peter Merseburger: Rudolf Augstein. Der Mann, der den SPIEGEL machte. Deutsche Verlagsanstalt München, 512 Seiten, 25, 95 Euro.