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Den Tod vor Augen

Dass kein Staat jemals wieder darüber befinden darf, ob und wann ein Leben lebenswert ist, das gehört zu den unbestrittenen Positionen in der so schwierigen Debatte über die Sterbehilfe. Der Berliner Journalist Wolfgang Prosinger leistet mit seinem jetzt erschienenen Buch "Tanner geht: Sterbehilfe - ein Mann plant seinen Tod" einen bemerkenswerten Beitrag zu diesem Thema: Er wählt das Mittel der Reportage.

Von Knut Benzner |
    Tanner. Penibel, korrekt, gewissenhaft. Zu all dem vom strengen, hartherzigen und herzlosen Vater erzogen, wenn nicht genötigt. Dagegen ein liebevolles Verhältnis zur Mutter.
    Tanner ist zu seinem Tode Anfang 50, das ist kein Alter. Weder dement noch depressiv. Irgendwann hat er Schmerzen im Bauch, Tanner geht zum Arzt. Krebs. Nach ein paar Monaten scheint er geheilt. Aber der Krebs kommt wieder, an anderer Stelle, voluminöser und gewaltiger. Dann die übliche Leidenstour: Medikamente. Chemo. Hoffnung. Verzweiflung. Dann auch noch Parkinson, Aids, der Krebs wächst weiter, die Schmerzen nur mühsam unterdrückt von Medikamenten, die ihm eigentlich die Sinne rauben müssten. Die Präparate vertragen sich nicht, der Körper juckt, der Mann schläft kaum und dann...

    Zwei Stunden, allerhöchstens betäubt ihn die Tablette, kaum jemals mehr, dann war es schon wieder vorbei mit dem Schlaf. Die Schmerzen kehrten wieder und die schweren Gedanken auch.
    ... lang vor seinem tatsächlichen Tod dieser Entschluss. Unvermittelt. Aber unabänderlich. Tanner hat den Tod vor Augen - qualvoll einzugehen wie ein Tier. Wolfgang Prosinger war durch einen Artikel in der Wochenzeitung "Die Zeit" auf dieses Thema gekommen. Dort hatte Bartholomäus Grill den selbst gewählten Tod seines Bruders Urban in der Schweiz geschildert. Prosinger fand Tanner mit Hilfe einer Annonce, die er ausgerechnet auf der Website von Dignitas aufgegeben hatte. Prosinger wollte dieses Buch schreiben und suchte jemanden, der willens war, sich ihm anzuvertrauen und mehr noch: Auszuliefern für einen Text, der erst posthum erscheinen würde. Wolfgang Prosinger:

    "Eine Sache war mir von vorne herein klar, ich wollte an keiner Stelle dieses Buches "Ich" sagen, ich wollte über jemanden erzählen, und der Erzähler selbst sollte dafür keine große Rolle spielen. Dann bin ich aber im Verlaufe des Schreibens, nein, eigentlich schon vorher, im Verlaufe des Nachdenkens darüber zu der Meinung gekommen, dass das, was ich mit Tanner erlebt habe, also was ich selbst erlebt habe, auch eine Rolle spielen sollte in dem Buch, also wie wirkt das auf mich, wie ist das, einen Menschen drei Monate lang vor seinem Tod zu begleiten, mit ihm sozusagen gemeinsam dem Tod entgegen zu leben."
    Prosinger greift zu dem Stilmittel, Tanner anzusprechen. Fragen und Antworten, es entwickelt sich ein Dialog, Tanner redet. Wer ist Tanner? Er kommt aus gutem Hause, aus reichem Hause, und, Zufall oder Fügung, aus Zürich, aber er lebt seit 1991 in der Bundesrepublik. Dennoch wusste er als Schweizer um die besondere Wertschätzung der Freiheitsrechte des Individuums, speziell in diesem Punkt, nämlich der Sterbehilfe. Gleichzeitig: Tanner ist einfach kein Einzellfall. Und so reflektiert Prosinger:

    "Es gibt sehr, sehr viele Menschen, die in so existenzielle Not geraten, jeder löst es dann auf eine andere Weise. Aber ich wollte eben damit, dass ich verallgemeinernde Reflexionen, verallgemeinernde Informationen einstreue, darstellen, dass es mir nicht nur um die Person Tanner geht, um die geht es mir natürlich vorrangig, aber es geht mir auch um das Phänomen an sich."
    Die Sterbehilfe. Respektive alles, was mit ihr zusammen hängt. Die Jurisprudenz, die Moral, die Hospizbewegung, die Palliativmedizin, die Selbsttötung. Prosinger nennt den Selbstmord Selbsttötung, das ist folgerichtig, weil Mord strafbar ist. "Sein oder Nichtsein?" überschreibt er dieses Kapitel... Andere gehen andere Wege. Pro Jahr gehen bei der Deutschen Bahn 1000 Verspätungen auf das Konto von Selbsttötungen. Das sind nicht einmal 10 Prozent der jährlichen Selbsttötungen in der Bundesrepublik. Deren Zahl liegt bei 11.000. Die Zahl der versuchten Selbsttötungen soll um das 50-fache höher liegen. Das Tabu der Selbsttötung und der Skandal des öffentlichen Schweigens.

    11.000 Menschen in einem Land, in dem niemand Hunger leiden muss, in dem kein Krieg herrscht, in dem das Gesundheitssystem und die Gerichte leidlich funktionieren. In dem sich also das Leben im Großen und Ganzen ordentlich regeln lässt. Aber keiner schlägt Alarm, keiner nennt den Skandal einen Skandal. Eine öffentliche Debatte findet nicht statt.
    Tanner geht. Prosinger war bei Tanners letztem Gang nicht dabei. Er hielt Distanz. Er wollte nicht zum Voyeur werden. Vorher hatte er ihn überall hin begleiten können. Zu dessen Freunden und an das gemeinsam ausgesuchte Grab. Einmal verhaut sich Prosinger im Ton: Man trinkt nicht ganz entschieden ein Glas Sekt, wie er ein Treffen mit Tanner beschreibt. Weder in erregter noch in aussichtsloser Lage. Und die Lage Tanners ist aussichtslos. So undenkbar schmerzvoll leidend aussichtslos, dass ihm der Tod eine Erlösung ist. Wolfgang Prosinger:

    "Es ist natürlich auch zu sehen, dass dieses Thema ganz stark von interessierten Kreisen besetzt ist. Es gibt ein Kartell der Unbarmherzigkeit in Deutschland, von manchen Politikern, von manchen Ärzten, von manchen Juristen und von Kirchenleuten natürlich auch."
    Prosinger redet niemandem das Wort. Was überrascht, ist, dass Dignitas, dieser Schweizer Sterbehilfeverein, dessen Reputation durch das Geschäft mit dem Tod durchaus gelitten hat, trotzdem so gut weg kommt. Warum? : Weil es keine Alternative gibt.


    Knut Benzner über Wolfgang Prosinger: Tanner geht. Sterbehilfe - ein Mann plant seinen Tod. Erschienen im S. Fischer Verlag. Das Buch hat 176 Seiten und kostet Euro 16,90.