Michael Köhler: Mit zwanzig Jahren kommt der 1927 in Danzig geborene Günter Grass nach Düsseldorf und macht eine Steinmetzlehre. Er lernt an der Düsseldorfer Kunstakademie Bildhauerei und tritt nach lyrischen Anfängen 1959 mit einem Werk auf den Plan, das späterhin Weltgeltung erlangt und schuld an der Vergabe des Literaturnobelpreises wird: "Die Blechtrommel". Es ist geschrieben in einer barock-sinnlichen Sprache, die keine Derbheiten scheut. Frage an den Literaturkritiker Denis Scheck: Haut da einer buchstäblich Worte aus dem Steinbruch der Sprache zu einem Jahrhundert-Roman?
Denis Scheck: Ja, Michael Köhler, da widerspreche ich Ihnen gar nicht. Jahrhundertroman trifft den Nagel auf den Kopf. Sein Debüt gab er ja als Lyriker mit den Vorzügen der Windhühner, durchaus auch mit Beachtung, schon Mitte der 50er-Jahre. Das Interessante - und damit haben, wir, glaube ich, ja schon ein Charakteristikum dieser Ausnahme - um Günter Grass war ja, dass hier jemand in drei Kunstformen in der Lyrik, als Steinmetz, als Zeichner, als Grafiker und als Romancier, seine jeweiligen Ideen überprüfte, sie am Werktisch des Grafikers erst zeichnete, dann in die Lyrik vielleicht noch goss. Es gibt Vorformen in der Lyrik buchstäblich zu fast allen seinen Romanen. Und man kann sie bis in die Terrakotten, bis in die Steinmetzarbeiten nachprüfen, dann auch Romanfiguren, ob das standhält. Und das hat mich immer an Günter Grass fasziniert, wie ein so vielbegabter Mensch die Möglichkeit hat, Ideen, erzählerische Ideen, künstlerische Ideen in drei Ausspielformen sozusagen zu vervollkommnen. Das merkt man auch seiner Prosa an. Ich glaube, daraus hat seine Prosa sehr viel gewonnen. Ansonsten haben Sie es sehr richtig beschrieben, das Barocke von Günter Grass als Typ, der ja nun eher klein war, aber mindestens doppelt so viel Raum einnahm wie ein Normalsterblicher - etwas, was er mit Norman Mailer teilte - bis hin zum Sinnlichen. Er war ja der große Koch der deutschen Gegenwartsliteratur und hat den Köchen mit dem Butt natürlich auch ein absolutes Denkmal in der deutschen Literatur gesetzt.
"Ab jetzt kommt alles auf den Prüfstand."
Köhler: In der Tat, er hat zum Butt auch selber eine Skulptur entworfen. - Er ist ein Jahrhundertschriftsteller. Bleiben wir noch eine Sekunde bei dem Jahrhundertwerk, der Blechtrommel, die in Frankreich entsteht, dort geschrieben ist, die fünf Jahrzehnte von 1899 bis 1949 etwa umfasst, die NS-Zeit, die junge Bundesrepublik. Was ist das, ein Entwicklungsroman über die deutsche Geschichte?
Scheck: Das ist vor allem ein pikaresker Roman. Man muss diese Hauptfigur Oskar Matzerath ins Visier nehmen. "Ich bin Insasse einer Pflegeanstalt." So beginnt es. Dieser erste Satz der Blechtrommel ist für mich der Big Bang der deutschen Nachkriegsliteratur, ihre Unabhängigkeitserklärung. Ab jetzt kommt alles auf den Prüfstand. Wir lassen keine überkommenen Autoritäten mehr gelten. Wir sezieren alles, wir nehmen alles ins Visier, wir überprüfen alles. Man darf ja nicht vergessen, in welchem Umfeld die Blechtrommel erschienen ist. Da war immer das Hehre, der Pathos, der Heidegger-Sound da. Und hier geht einer ins sinnliche Detail, schreckt auch vor sexuellen Tabus nicht zurück, schreibt mit einer atemverschlagenden Sinnlichkeit nicht nur die Bettgeschichten, sondern auch die Betgeschichten.
Köhler: Günter Grass war Messdiener als Kind.
Scheck: Genau, nimmt damit auch die bestimmenden geistigen Pole der Bundesrepublik, der sich formierenden Bundesrepublik ins Visier und erkennt, wenn man kratzt, immer den braunen Sumpf darunter.
Köhler: Aufarbeitung war noch ein Fremdwort.
Scheck: Ja. - Günter Grass - das darf man jetzt bei allen kritischen Einwänden, die natürlich sein politisches Engagement, seine Rechthaberei jetzt auch begleiten mag, nie aus dem Blick verlieren -, Günter Grass haben wir es zu verdanken, wir Nachgeborenen (ich bin Jahrgang '64), in einem viel zivilisierteren, in einem viel lebenswerteren Land aufwachsen zu dürfen, als die Bundesrepublik ohne Günter Grass, ohne einen Heinrich Böll, ohne einen Siegfried Lenz geworden wäre.
Köhler: Sie haben mir das Stichwort geliefert. Ein anderer berühmter Anfangssatz ist: „Ilsebill salzte nach." Auch hier haben wir wieder das Wortfeld der sinnlichen Erfahrung der Natur. Sie haben die Windhühner erwähnt. Überhaupt: das ist ein riesiges Feld, Natur, Sinnlichkeit, Küche, Sie haben es schon gesagt, die dann aber immer mit weltgeschichtlichen Ereignissen gepaart wird, auch etwas sehr Barockes. Was würden Sie den Kritikern entgegnen, die sagen, der frühe Grass ist der große Grass, der späte Grass, der Autor dann der Bücher "Ein weites Feld" oder auch der Novelle "Im Krebsgang", ist eigentlich nicht mehr der große Grass?
Scheck: Ich kann die Kritiker teilweise verstehen und ich muss ihnen auch recht geben. Ich halte die Novelle „Im Krebsgang", obwohl sie einer der großen Bestseller-Erfolge noch für den späten Grass wurde, für ästhetisch schrecklich misslungen. Über "Das weite Feld" lasse ich viel eher mit mir reden. - Nein! Man kann einfach nur mit anderen Werken kontern. Ich halte tatsächlich die Autobiographie, den Versuch, dem Unternehmen Autobiographie den eingeschriebenen Narzissmus auszutreiben, indem man ein multiperspektivisches Erzählen wählt, wie Günter Grass in "Beim Häuten der Zwiebel" und in "Grimms Wörter" gemacht hat, also die großen Spätwerke - Insbesondere habe ich ein großes Faible für "Grimms Wörter", weil er da noch den Gebrüdern Grimm ein Denkmal setzt. Denn das sind ja die beiden Pole: Er kommt von der Barockliteratur und vom Märchen und aus diesen beiden Energiequellen, da resultiert der ästhetische Funke bei Grass und das macht ihn oft so außer der Reihe tanzend, weil er da eben nicht von der politischen Agenda kommt. Er liest keine Parteiprogramme, er liest die Märchen.
"Hundejahre" - der ungelesenste Roman von Günter Grass
Köhler: Die Stichworte Grimmelshausen und Grimm habe ich mir in der Tat aufgeschrieben. Würden Sie zustimmen, wenn man sagt, Günter Grass eine Art welthaltiger Märchenerzähler für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, ein Erzähler, der Realgeschichte in Geschichten aufgehen lässt?
Scheck: Ja, da würde ich nicht widersprechen. Vor allem aber, denke ich, sollte man noch ins Bewusstsein sich holen: Die Danziger Trilogie besteht ja nicht nur aus der Blechtrommel, sondern auch aus Katz und Maus und vor allem aus "Hundejahre". Und Grass sagte immer, dass "Hundejahre" in seinen Augen sein bester Roman sei. Nun muss ein Autor da nicht unbedingt recht haben, aber da ist in meinen Augen schon was dran. Ich glaube, "Hundejahre" ist der ungelesenste Roman von Günter Grass. Ich habe jedenfalls noch keinen Mitarbeiter des WDR getroffen, der weiß, dass das letzte Drittel von Hundejahre im Wesentlichen von einem Redakteur des WDR, der in Köln-Marienburg lebt, handelt und dort Talkshows moderiert. Und Grass war immer jemand, der sich der Medienwirklichkeit sehr früh bewusst war und das auch literarisch reflektierte. Und lesen Sie mal das letzte Drittel der Hundejahre; das ist ein Roman über das Deutschland des Jahres 2015. Da kann man Gänsehaut bekommen.
Köhler: Ein Letztes, Denis Scheck. 1999 bekommt er den Nobelpreis. Uns allen ist in Erinnerung, wie er dann, schon ein bisschen gebeugt ob des Alters, aber immerhin noch sehr agil, mit seiner Frau auf dem Parkett tanzt. Sie haben ihn persönlich erlebt. War er genauso sinnlich, lebensfroh und auch rechthaberisch, wie Sie es erwähnt haben?
Scheck: Günter Grass hat mich ein Leben lang begleitet, nicht nur als Schullektüre. Ich hatte das Privileg, ihn persönlich einige Male kennenlernen zu dürfen. Für mich war dieser Nobelpreis, der zu spät kam, viel zu spät kam, aber er kam wenigstens noch. Es war sehr ungerecht, dass Böll ihn '73 hatte und Grass bis '99 warten musste. Dieses Lachen auf dem Gesicht, die Erlösung auf dem Gesicht, die man bei Grass beim Tanzen beim Nobelpreis bei der Party sah, das war etwas sehr Schönes, und dass er das erleben durfte, war schön. Es gab dann natürlich, Stichwort Waffen-SS, Stichwort deutsche Wiedervereinigung, immer noch Problemfelder, wo Grass in Widerspruch gerat, wo er auch einfach Grütze verzapfte. Das dürfte man nicht vergessen, dafür war er auch immer gut.
Köhler: Sein Anti-Israel-Gedicht 2012 ist in Erinnerung.
Scheck: Ja. Dieses Gedicht halte ich für kein großes Gedicht, aber für ein besseres Gedicht, auf jeden Fall für ein Gedicht, als immer in der Rezeption getan wird. Aber letzten Endes, was mir bei Grass am besten gefällt, ist, dass er einer der ganz wenigen deutschen Autoren ist, der international Wirkung entfaltet hat. Denken wir an Salman Rushdie, denken wir auch an John Irving. Das mag nun nicht die allererste Garde sein. Aber auch Saul Bellow hat beispielsweise Günter Grass zur Kenntnis genommen, und das ist schön. Insofern ist das ein sehr trauriger Tag für die deutsche Literatur heute.