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Deniz Yücel
Inhaftierter "Welt"-Korrespondent ist seit 100 Tagen im Gefängnis

Heute sind es genau 100 Tage, die der deutsch-türkische Journalist in der Türkei in Einzelhaft sitzt. Nach wie vor werden ihm Volksverhetzung und Terrorpropaganda vorgeworfen - und es gibt keine Anklageschrift.

ARD-Korrespondent Christian Buttkereit im Gespräch mit Sebastian Wellendorf |
    "Welt"-Titel nach der Gerichtsentscheidung zum Fall Deniz Yücel: Der "Welt"-Korrespondent muss in der Türkei in Untersuchungshaft.
    Der "Welt"-Korrespondent Deniz Yücel befindet sich seit 100 Tagen im Gefängnis. (Deutschlandradio Kultur / Leila Knüppel)
    Sebastian Wellendorf: Ich bin verbunden mit dem Kollegen und Istanbul-Korrespondenten Christian Buttkereit. Herr Buttkereit: Wie geht es Deniz Yücel?
    Christian Buttkereit: Die Menschen, die ihn besuchen dürfen – und das sind ja doch einige gewesen in letzter Zeit - sagen, es geht ihm gut. Also körperlich ist er durchaus fit und mental sowieso auf der Höhe und interessiert an allem, was um ihn herum, auch um seine Thematik herum, vorgeht, auch in Deutschland. Er bekommt mit wenn da Solidaritätsveranstaltungen sind. Es ist natürlich so, dass man im Gefängnis noch viel gegen die Wand starrt oder in den Himmel, der dann auch noch durch ein Gitter nur zu betrachten ist. Aber Deniz Yücel ist offenbar nicht verzweifelt, sondern relativ guter Dinge, wie es dann eben geht.
    Besuche bei Deniz Yücel sind "Good Will" der türkischen Behörde
    Wellendorf: Ein Prozess ist nicht in Sicht, und laut türkischem Recht kann die U-Haft bis zu fünf Jahre dauern. Seine Frau, Dilek Yücel, schreibt heute in der Welt: Die Mühlen der Justiz mahlen nicht langsam, sondern gar nicht. Gleichzeitig kommt heute die Meldung, dass der deutsche Botschafter in der Türkei, Martin Erdmann, Deniz Yücel besuchen darf. Ist das eine Entwicklung, die Hoffnung macht?
    Buttkereit: Na ja, ein bisschen zumindest schon. Die türkischen Behörden müssten diese Besuche des Botschafters oder eben auch des Generalkonsuls, der ja schon zweimal bei Deniz Yücel war, nicht zulassen. Das ist dann letztendlich so etwas wie Good Will. Noch etwas mehr Good Will könnten natürlich die türkischen Behörden zeigen, indem sie Deniz Yücel freilassen, zumindest bis zu einem Prozess, aber so weit sind wir ja noch nicht. Dass jetzt der Botschafter kommen darf - zumindest einmal, aber mit einem offenen Termin -, ist auch schon ein Entgegenkommen. Und das ist exemplarisch für dieses Spiel, das wir hier in der Türkei beobachten: Zuckerbrot und Peitsche. Man geht immer mal wieder auf das Ausland - in diesem Fall auf die Deutschen - zu, um dann im nächsten Moment wieder zuzuschlagen. Da gibt es ja auch die andere Nachricht: dass Claudia Rothihre Delegationsreise in die Türkei wegen mangelnder Unterstützung heute absagen musste.
    Yücel wird instrumentalisiert
    Wellendorf: Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt, hat gesagt: Yücel wird zu einem politischen Projekt gemacht. Aus Ihrer Sicht: Was meint er damit?
    Buttkereit: Das erschließt sich, wenn man Erdogan hört, der zum einen Deniz Yücel auch noch als Agenten hinstellt und als Terroristen. Der auch den Fall in Zusammenhang bringt mit der Auslieferung von Terrorverdächtigen von deutscher Seite an die Türkei. Erdogan erwähnt immer ein Dossier mit 4000 oder 4500 Namen, das es geben soll, das man den deutschen Behörden überreicht hätte, ohne dass da was passiert sei. Das Problem: Der Bundesinnenminister sagt, so ein Dossier gibt es überhaupt nicht. Da merkt man schon, dass Yücel instrumentalisiert wird, auch wenn Äußerungen fallen: Solange ich im Amt bin, kommt er nicht frei. Da geht es eben auch nicht nur um die wirklichen Vorwürfe, die wahrscheinlich alle sich auflösen, wenn man überlegt, was ist der Beruf eines Journalisten, und mit wem muss er sprechen, um seinen Job richtig zu machen. Wenn er Dinge zitiert, die sowieso schon auf dem öffentlichen Markt sind, dann ist das wohl kaum Terrorismus.
    "Fall Yücel ist leider nur eine unter vielen Baustellen im deutsch-türkischen Verhältnis"
    Wellendorf: Am Donnerstag soll Bundeskanzlerin Angela Merkel den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan am Rande des NATO-Gipfels in Brüssel treffen. Yücel dürfte bei dem Gespräch Thema sein. Welche Möglichkeiten hat denn die Bundesregierung konkret?
    Buttkereit: Im Fall Yücel kann sie einfach nur appellieren an die Türkei; an anderer Stelle die Daumenschrauben anziehen. Bei Wirtschaftssanktionen würde es dann für die Türkei schon sehr spürbar: Ein Abzug der Bundeswehr aus Incirlik, der ja auch angedroht wird - da zucken die Türken noch mit den Schultern. Das macht ihnen offenbar noch nicht so viel aus. Merkel wird auch Incirlik sicherlich ansprechen, das Besuchsverbot für die deutschen Politiker dort. Da gibt es noch mehr zu reden. Der Fall Yücel, muss man sagen, ist nun leider nur eine unter vielen Baustellen im deutsch-türkischen Verhältnis.
    Wellendorf: Seit 100 Tagen sitzt der Korrespondent der Welt Deniz Yücel in Haft. Welche Bemühungen um dessen Freilassung es gibt, darüber hab ich mit dem ARD-Korrespondenten Christian Buttkereit gesprochen. Dankeschön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Christian Buttkereit ist ARD-Korrespondent in Istanbul, Türkei.