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Yücel zum Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs
"Teils erfreut, teils enttäuscht"

Vier Jahre nach der Freilassung des Journalisten Deniz Yücel aus türkischer Haft hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Türkei zu Schadenersatz verurteilt. Doch Yücel ist eher enttäuscht von dem Urteil. Es zeige "den Erfolg türkischer Lobbyarbeit in Straßburg", sagt er im Interview.

Text: Nina Magoley | Deniz Yücel im Gespräch mit Michael Borgers |
Deniz Yücel, deutsch-türkischer Journalist und Publizist, nimmt an der Premiere seines Buches „Agentterrorist“ im Festsaal Kreuzberg teil. Aufnahmedatum 07.10.2019
Deniz Yücel, deutsch-türkischer Journalist und Publizist (picture alliance/dpa | Christoph Soeder)
Fast vier Jahre ist es her, dass der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel das Istanbuler Hochsicherheitsgefängnis Silivri verließ. Ein bewegendes Foto auf Twitter zeigte Yücel am 16. Februar 2018 nach seiner Haftentlassung beim Wiedersehen mit seiner Frau Dilek, die vor der Gefängnismauer auf ihn gewartet hatte.
Knapp ein Jahr lang hatte der damalige Türkei-Korrespondent der Tageszeitung "Welt" ohne Anklage im Istanbuler Gefängnis gesessen. Nach eigener Aussage wurde er dort auch drei Tage lang gefoltert. Noch während der Untersuchungshaft erhob Yücel Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg: wegen der Rechtmäßigkeit und der Dauer des Freiheitsentzugs. Außerdem warf er der Türkei die Verletzung seiner Meinungsfreiheit und eine "politisch motivierte Begrenzung der Rechtseinschränkungen" vor.

Türkei muss Entschädigung zahlen

Am Dienstag (25.01.2022) sprach der EGMR ein Urteil - und gab Yücel Recht: Die Inhaftierung sei unrechtmäßig gewesen. "Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte drei Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention fest", heißt es in einer ersten Kurzfassung des Urteils: gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit und gegen das Recht auf Entschädigung nach unrechtmäßiger Inhaftierung. Die Untersuchungshaft verletze zudem sein Recht auf Meinungsfreiheit. Die Straßburger Richter sahen darin eine abschreckende Wirkung mit dem Effekt, die Zivilgesellschaft in der Türkei einzuschüchtern und abweichende Stimmen verstummen zu lassen.
Die Türkei muss Yücel demnach 12.300 Euro Schadensersatz zahlen und 1.000 Euro an Verfahrenskosten erstatten. Das Urteil ist jedoch noch nicht rechtskräftig - die Prozessparteien können es innerhalb von drei Monaten anfechten.

Erleichterte Reaktionen

"Ein richtiges Urteil!", twitterte die Bundesvorsitzende der Deutschen Journalistinnen- und Journalistenunion (DJU) und Mitglied im Deutschen Presserat am Dienstagmorgen.

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Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) schrieb, das Urteil spreche "deutliche Worte: Es ist mit unseren europäischen Werten nicht vereinbar, wenn missliebige Journalistinnen und Journalisten weggesperrt werden, um sie mundtot zu machen."
Auch Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) beeilte sich mit einer Reaktion. Das Urteil sei "ein wichtiges Signal für Menschenrechte und Pressefreiheit", schrieb er auf Twitter. Die Freiheit von Medienschaffenden sei "immer auch Gradmesser für die Liberalität einer Gesellschaft insgesamt".

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Yücel"erfreulich, aber auch enttäuschend"

Yücel selber ist nicht ganz so begeistert von den Details des Urteils. Es sei zwar "teilweise erfreulich", sagte er im @mediasres-Interview - aber er sei auch enttäuscht. Vor allem davon, dass die Straßburger Richter seine Inhaftierung nicht als politisch motiviert sahen. Auch, dass sie keinen Verstoß gegen das Folterverbot feststellen konnten.
Von Anfang bis Ende sei der ganze Vorgang "so offensichtlich rechtswidrig" gewesen, sagt Yücel empört. Die Anklage, die Vorwürfe gegen ihn, die persönlichen Drohungen des türkischen Präsidenten Erdogan, seine Versuche, "über meine Person einen Deal mit der Bundesregierung auszuhandeln" - wenn das nicht ein politisch motiviertes Verfahren sei, frage er sich: "Was stellen die Richter sich sonst darunter vor?"
Hier zeige sich "leider ein Erfolg der türkischen Lobbyarbeit in Straßburg: Dass das Gericht die türkische Regierung quasi von dem Vorwurf freigesprochen hat, dieses Verfahren politisch gelenkt zu haben". Gegen diesen Teil des Urteils werde er Einspruch erheben, sagt Yücel.

"Free Deniz": Welle der Solidarität

Yücels Inhaftierung hatte damals eine Welle der Solidaritätsbekundungen in Deutschland ausgelöst. Unter dem Slogan "#Free Deniz" gab es zahlreiche Demonstrationen für seine Freilassung. Schriftsteller, Buchhändler und Journalisten forderten die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel zum entschlossenen Einsatz für die Meinungsfreiheit in der Türkei auf. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels veröffentlichte zusammen mit dem Autorenverband PEN und "Reporter ohne Grenzen" die Petition #FreeWordsTurkey.
Demonstration für die Freilassung von Deniz Yücel in Berlin, Germany, 28 February 2017.Aufnahmedatum
28.02.2017
Demonstration für die Freilassung von Deniz Yücel in Berlin am 28. Februar 2017 (picture alliance / Kay Nietfeld)
Merkel intervenierte beim türkischen Ministerpräsidenten Binali Yıldırım, und auch der damalige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) setzte sich für Yücels Freilassung ein. Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck kritisierte die Inhaftierung Yücels als "Attacke auf die Pressefreiheit".

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Erst nach langem Tauziehen erklärte sich die türkische Regierung bereit, Yücel zu entlassen und ausreisen zu lassen - erhob aber gleichzeitig Anklage gegen ihn. Gegenstand der Anklage waren unter anderem acht in der "Welt" erschienene Zeitungsberichte. Darin habe der Journalist Einsätze gegen die PKK als "ethnische Säuberungen" bezeichnet. In einem Text habe er einen Witz über Türken und Kurden zitiert.
Der Slogan #FREEDENIZ ist auf der Fassade des Axel Springer Hauses in Berlin zu sehen.Aufnahmedatum
28.02.2017
Der Slogan #FREEDENIZ auf der Fassade des Axel Springer Hauses in Berlin (picture alliance/AP Photo | Markus Schreiber)
Nach seiner Rückkehr nach Berlin hatte Yücel in einer Videobotschaft erklärt: "Ich weiß immer noch nicht, warum ich vor einem Jahr verhaftet wurde, genauer, warum ich vor einem Jahr als Geisel genommen wurde – und ich weiß auch nicht, warum ich heute freigelassen wurde."


Verurteilt wegen "Terrorpropaganda"

Im Juli 2020 wurde der heute 48-Jährige Journalist, der nach wie vor für die "Welt" schreibt, in Abwesenheit wegen "Terrorpropaganda für die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK" zu rund zwei Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt. Das Verfahren befindet sich in Revision.
Yücel war 2017 nicht der einzige deutsche Staatsbürger gewesen, der in der Türkei unvermittelt gefangengenommen wurde. Seit dem Putschversuch im Juli 2016 galt in der Türkei der Ausnahmezustand. Zahlreiche regierungskritische Journalisten sitzen mittlerweile in Haft. Weitere prominente 2017 Inhaftierte waren die Journalistin Mesale Tolu und der Menschenrechtler Peter Steudtner. Beide durften inzwischen ausreisen, Tolu erst vor wenigen Tagen. Die Inhaftierungsserie hatte 2017 zu einer Krise zwischen Berlin und Ankara geführt.

Yücel PEN-Chef Deutschland

Deniz Yücel war bis 2015 Redakteur der Zeitung "taz" und ist seit 2015 Türkei-Korrespondent der "Welt". Zudem ist er Mitherausgeber der Wochenzeitung "Jungle World". Seit November 2021 ist Yücel auch Präsident des deutschen PEN-Zentrums. PEN steht für Poets, Essayists, Novelists. International sind mehr als 150 Schriftstellervereinigungen im PEN International zusammengeschlossen. Sie verstehen sich als Stimme verfolgter und unterdrückter Schriftstellerinnen und Schriftsteller.
Eröffnung der Ausstellung "prison no.5."
Deniz Yücel: Eher enttäuscht vom Straßburger Urteil (picture alliance/dpa)
Nach seiner Freilassung aus türkischer Haft und der Rückkehr nach Deutschland hat Yücel mehrere Bücher veröffentlicht: "Wir sind ja nicht zum Spaß hier - Reportagen, Satiren und andere Gebrauchstexte" (2018) und "Agentterrorist - Eine Geschichte über Freiheit und Freundschaft, Demokratie und Nichtsodemokratie" (2019).
Im Juli 2021 startete in Istanbul ein weiterer Prozess gegen Yücel in dessen Abwesenheit - wegen Beamtenbeleidigung: Der Journalist habe einen türkischen Staatsanwalt via Twitter beleidigt, heißt es in der Anklage.