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Denken, Fühlen, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert

Der Mensch ist stolz auf seine Großhirnrinde. Der sogenannte Neokortex wurde als Sitz des Bewusstseins identifiziert, jenes Zustandes also, der die Einmaligkeit des homo sapiens ausmacht und ihn aus dem Tierreich enthebt. Bewusstsein ist der Königsweg zu Rationalität und Vernunft, ein Weg, der hinführt zu einem friedlichen, paradiesischen Zustand, einer menschlichen Welt, die geläutert ist von der Brutalität tierischer Instinkte. Leider sind diese humanistischen Ideen zu schön, um wahr zu sein. Die Realität des Zusammenlebens der Menschen sprach immer eine andere Sprache und auch die gut zweitausendfünfhundert Jahre währende Tradition der philosophischen Skepsis kannte nur Hohn und Spott für die Visionen von einer menschenwürdigen Gesellschaft. Und nun schlägt auch noch die Hirnforschung in dieselbe Kerbe. Nachzulesen in dem neuen, knapp fünfhundertseitigen Buch von Gerhard Roth, das gleich im Titel eine Perspektivverschiebung vornimmt: "Fühlen, Denken, Handeln". Der Autor:

Matthias Eckoldt |
    Eigentlich müsste der Titel Fühlen, Denken, Fühlen, Handeln heißen. Das Gefühl, das limbische System, hat nämlich das erste und das letzte Wort. Das Gefühl erzeugt in uns Wünsche, Pläne und Absichten und stößt damit unser bewusstes Denken an. Und zwar wird unser Denken, unser Verstand, unsere Vernunft immer dann eingesetzt, wenn Gefühle keine fertigen Rezepte haben, wenn etwas so komplex ist, dass die Gefühle damit nicht fertig werden. Denn Gefühle sind ja einfach strukturiert. Sie können nicht gut viele Details erkennen, können große Datenmengen nicht schnell miteinander verbinden. Wenn man also sehr komplexe Abwägungen vornehmen muss, dann kann man das nicht gefühlsmäßig tun, dann wird der Verstand eingesetzt. Deshalb haben wir so eine große Großhirnrinde. Das ist ein ungeheuer großer, assoziativer Speicher, der viele Datenmengen aus verschiedenen Sinnesmodalitäten schnell verknüpfen kann. All das kann das limbische System überhaupt nicht. Aber irgendwann muss es dann zum Handeln kommen. Wissen allein ist nutzlos. ... Und was dann aufgrund dieses Wissens getan wird, entscheidet wiederum das limbische System.

    Das Bewusstsein ist also aus dieser Sicht eine Art Großrechner ohne Entscheidungsgewalt. Bei der Frage, was getan oder unterlassen wird, darf es nicht mitreden. Erste und letzte Handlungsgründe werden im Limibischen System verhandelt, in jener Ebene des Gehirns also, die uns gerade nicht bewusst ist. Gerhard Roth, Professor für Verhaltensphysiologie und Rektor des Hanse-Wissenschaftskollegs, legt in seinem Buch eine gewaltige Materialfülle vor, um seine These zu untermauern. Ausgiebige Literaturstudien, Forschungsergebnisse von Kollegen und eigene Experimente aus seiner Forscherlaufbahn sind in das Buch eingeflossen. Allerdings hat Gerhard Roth die seltene Fähigkeit, das Komplizierte so präzise und klar auszudrücken, dass man seinen Ausführungen auch ohne Vorwissen folgen kann. Das einzige, was der Autor vom Leser verlangt, ist die Bereitschaft, eine neue Perspektive auf den Göttersohn Mensch einzunehmen. Denn dieser ist aufgrund seiner Hirnstruktur viel profaner und tierischer, als wir es gemeinhin wahrhaben wollen. Fünfundzwanzig Jahre Hirnforschung haben Gerhard Roth ernüchtert:

    Die Ernüchterung besteht darin, dass man erkennt, dass die Annahme richtig ist, dass unsere Großhirnrinde, unser Bewusstsein, sich ständig hinsichtlich der eigenen Motive oder der Motive unseres Gehirns betrügt. Wir schreiben uns sehr viele Dinge zu, und die eigentlichen Motive sind viel direkter. Viele edle Antriebe werden vorgegeben, und die eigentlichen Determinanten unseres Verhaltens sind: Macht, Ruhmsucht, Geldgier, Neid, Missgunst, Aggressivität, Sexualität. Und das wird alles in der Kultur, in der Zivilisation unglaublich geschickt - auch zum Teil - völlig unbewusst verpackt. Aber genauso elementar ist für uns Affen, die wir ja sind, ist das Geliebtwerden durch die Gruppe. Nichts ist schlimmer für einen Affen, als von seiner Gruppe abgelehnt zu werden. Das führt zum Selbstmord, zu schwerer Depression. Und die Sehnsucht nach Anerkennung ... das ist ein genauso primäres Bedürfnis. ... Und wir Affen zittern immer vor dem möglichen Verlust dieser Anerkennung. Das ist das Schlimmste, was uns passieren kann.

    Aggressiv, verlogen und bei all dem bedauernswert ängstlich. So nackt steht der Mensch vor dem Hirnforscher. Gerhard Roth, der auch Doktor der Philosophie ist, bewältigt an vielen Stellen im Buch den schwierigen Spagat zwischen Natur- und Geisteswissenschaft. "Fühlen, Denken, Handeln" bereichert nicht die mittlerweile fast unüberschaubare Literaturliste der Einführungen in die Hirnforschung um einen neuen Titel. Vielmehr stellt das Buch eine neurophilosophische Betrachtung über das Phänomen der menschlichen Handlung dar. In Roths Überlegungen nimmt folgendes Experiment zentralen Raum ein: Eine Versuchsperson wird gebeten, zu einem von ihr selbst gewählten Zeitpunkt eine einfache Handbewegung auszuführen. Diesen Zeitpunkt hält sie mit Hilfe einer Oszilloskop-Uhr fest. Das überraschende Ergebnis ist nun, dass sich schon etwa 350 Millisekunden vor der bewussten Entscheidung ein Bereitschaftspotential nachweisen lässt. Die Versuchsperson hatte also den bewussten Entschluss zur Handlung deutlich nach der Einleitung der Bewegung durch neuronale Prozesse gefällt. Gerhard Roth schreibt dazu: "Der Willensakt tritt in der Tat auf, nachdem das Gehirn bereits entschieden hat, welche Bewegung es ausführen wird." Trotzdem aber tut das Ich so, als ob es bewusst handelt. Damit wird ein neues Kapitel in der Erforschung des Ich aufgeschlagen:

    Das Ich ist eine wichtige Instanz, denn ohne diesen virtuellen Akteur, so kann man ihn nennen, könnten wir sozial nicht überleben. Es ist aber ein virtueller Akteur, eine Lupe sozusagen, ein Hilfsmittel, das selbst nichts tut. Es ist, wenn man es zynisch sagen will, eine Benutzeroberfläche, mit der man Dinge viel besser handhaben kann. Es gibt da viele Bilder, aber alle haben gemeinsam, dass das Ich selbst nichts tut, sondern ein Werkzeug ist für das Unbewusste, komplexe Situationen besser zu meistern.

    Das Ich, so schreibt Gerhard Roth, ist eine Instanz, die hartnäckig ihren Produzenten leugnet.

    Wenn man sich die Großhirnrinde anguckt, dann überwiegen die Verknüpfungen dessen, was reinkommt, und dessen, was rausgeht, um das Hunderttausend- bis Millionenfache. Also alles, was aus dem Unbewussten in das Bewusstsein eindringt, erlebt das Bewusstsein an und in sich und kann das alles sich nur selbst zuschreiben. ... Ich kann diese Wünsche ja nicht ins Unbewusste verfolgen. ... Und so kommt es, dass dieses Ich all ... die Wünsche, die aus dem Unbewussten kommen, die Handlungsentwürfe, die auch aus dem Unbewussten kommen, sich selbst zuschreibt. Und das ist diese Lüge: Ich tue das, Ich erlebe das, Ich will das jetzt so. Das sind Illusionen, aber es sind sehr nützliche Illusionen. Wenn man diesen Apparat zerstört, kann der Mensch nicht mehr in komplexen Situationen handeln. Das ist so, wie wenn man jemandem, der ein ganz kompliziertes Verkehrssystem leitet, seinen Computer wegnimmt, dann ist er verloren.

    Gerhard Roth unterstreicht das berühmte Diktum Freuds, der da sagte, dass das Ich nicht Herr im eigenen Hause ist. Am Schluss des Buches steht eine Revision des humanistischen Menschenbildes. Denn das Bewusstsein kann nicht mehr als die entscheidende Grundlage des Handelns angesehen werden. Vielmehr sind Vernunft und Verstand eingebettet in die emotionale Natur des Menschen. Roth sieht auch keinen hirnphysiologischen Grund, an der Veränderungsfähigkeit des Menschen festzuhalten, da etwa fünfzig Prozent der Charakterstruktur genetisch determiniert sind und der Rest sich in den ersten drei Lebensjahren bildet. Und auch Sprache kann im Resumee des Buches nicht mehr ihren hohen Stellenwert als Wissensübermittlerin rechtfertigen, sondern wird von Roth als ein Werkzeug zur Legitimation des unbewusst gesteuerten Verhaltens begriffen. Aus der Tatsache schließlich, dass unser Ich nur begrenzte Einsicht in die Antriebe unseres Verhaltens hat, ergibt sich zwangsläufig, dass die subjektiv empfundene Freiheit des Wünschens, Planens und Wollens eine Illusion ist.

    In dieser Weise führt Denken, Fühlen, Handeln auf neurobiologischer Grundlage einen Zentralschlag gegen das ratio-zentristische Weltbild. Wie unzeitgemäß eine solche Darstellung des Menschen und seines Gehirns in einer noch immer um die Herrschaft von Vernunft und Rationalität ringenden Epoche ist, erfuhr Gerhard Roth nach Erscheinen seines Buches:

    Ein Teil der Rezensionen sind von Sozialwissenschaftlern und Philosophen geschrieben worden. Und das ist natürlich insofern verständlich, wenn die das nicht toll finden, weil diese Leute direkt angegriffen werden. Also wenn man so ein Buch mit so einem Thema schreibt, muß man sich ein dickes Fell zulegen. Es wäre eher komisch, wenn alle Leute zustimmend jubeln würden. Das war übrigens bei meinem ersten Buch, "Das Gehirn und seine Wirklichkeit" nicht anders. Mittlerweile sind, glaube ich, über dreißigtausend Exemplare verkauft, und es erfreut sich größter Beliebtheit. Das braucht seine Zeit.